Zweites Kapitel

[413] Er stieg den Berg zum Kloster hinunter. Die mannigfaltigen Gewerbevorrichtungen, welche er nun im einzelnen musterte, berührten seine Auge noch unangenehmer, als tages zuvor. Diese anmutige Hügel- und Waldnatur schien ihm durch sie entstellt und zerfetzt zu sein. Das freie Erdreich mit Bäumen und Wasser, welches die Seele sonst von jedem Drucke zu erlösen pflegt, lastete auf der seinigen mit stumpfem Gewichte, weil es doch auch nur als Sklav' im Dienste eines künstlich gesuchten Vorteils sich zeigte. Um alle Sinne aus der Fassung zu bringen, lagerte sich über der ganzen Gegend ein mit widerlichen Gerüchen geschwängerter Dunst, welcher von den vielen Färbereien und Bleichen herrührte.

Erst als er sich dem Kloster ganz nahe befand, ward ihm wohler. Rings um die wellenförmige Erhöhung, auf welcher die Gebäude standen, zogen sich die schönsten Blumenpartien. Alle Umgebungen waren in einen wohlausgestatteten Garten verwandelt worden. Orangerien und Gewächshäuser zeigten sich an mehreren Punkten.

Er fand den Oheim, zu dem er ohne weiteres geführt wurde, in seinem Comptoir, umgeben von vielen Geschäftsleuten und Kommis. Sie saßen um einen großen grünen Tisch nach Art eines Kollegiums, der Oheim nahm in einem Lehnstuhle die Oberstelle ein. Er begrüßte Hermann mit kurzen, freundlichen Worten, und bat ihn, zu verziehen, bis die Konferenz beendigt sei, welche darauf ihren Gang ungestört weiter nahm.[413]

Hermann konnte bald an den Verhandlungen sehn, daß hier keine Geschäftsführung im gewöhnlichen Sinne stattfinde. Nicht ein Herr mit verschiednen, nur die Ausführung besorgenden Dienern war vorhanden, sondern ein jeder Geschäftszweig hatte seinen unabhängigen Vorstand, welcher innerhalb desselben frei nach eignem Ermessen verwaltete. So trat in der Versammlung ein Direktor der Glasfabrik, der Bergwerke, der Brau- und Brennerei, der Webstühle, der Porzellanmanufaktur hervor, und noch manche andre Fabrikstätten wären zu nennen. Diese Vorstände berichteten dem Oheim die Resultate ihrer Tätigkeit in der verfloßnen Woche. Wo mehrere oder alle Gewerbszweige ineinandergriffen, wie bei dem Verkehr mit Amerika, wurde die Beratung ganz kollegialisch, die Stimmenmehrheit entschied streitige Punkte. Jedes Departement schien auch seine abgesonderte Kasse zu haben, denn die Vorstände rechneten miteinander ab, und es kam vor, daß einer von dem andern sich eine Anleihe erbat, die dann auch, wie die dabei gemachten Bemerkungen erwiesen, ihre kaufmännischen Zinsen tragen mußte. Ein Sekretär, welcher am untern Ende der Tafel saß, führte über den Einhergang Protokoll.

Die Autorität des Oheims bestand nur in der Präsidentschaft. Er hörte die Berichte der einzelnen Direktoren an, äußerte darauf seine Meinung, die jedoch niemals wie ein Befehl klang, lächelte beifällig, wenn sie angenommen wurde, und ließ es geschehn, wenn der Referent sie verwarf. Trat eine allgemeine Beratung ein, so beschränkte er sich darauf, die Debatte zu leiten, abschließlich den Inhalt der verschiedenen Meinungen zusammenzufassen, und bei Stimmengleichheit durch sein Votum zu entscheiden.

Hermann wohnte mit Verwunderung dieser Sitzung bei. Die Größe der zirkulierenden Summen, die Mannigfaltigkeit der Geschäfte, die Unabhängigkeit der Verwaltungen, und dann doch wieder ihre innige Verzweigung, der Blick nach Rio und Vera Cruz, der sich von Zeit zu Zeit auftat, alles dieses zusammengenommen gab ihm das Bild des Welthandels und zugleich eines »königlichen Kaufmanns« der Gegenwart. Wunderbar stach gegen die kolossale Gestalt dieses Betriebes die körperliche Erscheinung des Herrn und Meisters ab. Hermann fand[414] den Oheim sehr verändert. Er saß gebeugt, und mit dem Kopfe zitternd in seinem Lehnstuhle, und nur die Augen, sowie seine Reden verrieten noch die ungeschwächte geistige Kraft.

Als die Geschäftsvorstände sich entfernt hatten, bewillkommte ihn der Oheim, sich mühsam im Sessel emporrichtend. Hermann nötigte ihn zum Sitzen zurück, und wollte nach den ersten Reden die Absicht seines Kommens darlegen. »Laß es«, sagte der Oheim, »du kennst meine Grundsätze darüber. Oder wenn du dich durchaus getrieben fühlst, die Sache weiter zu verfolgen, so warte damit noch ein acht Tage, sieh dich indessen in der Gegend und in den Fabriken um, vielleicht kommst du dadurch selbst von deinem Vorsatze ab.«

»Wenigstens müssen Sie diesen vernehmen«, sagte Hermann. »Ich kann die Ungewißheit, worin ich über Cornelien schwebe, nicht länger ertragen. Was Sie mir damals auf dem Schlosse des Herzogs eröffneten, wurde in Eile und Zerstreuung gesprochen; eine ruhige Überlegung verhinderte das unglückliche Ereignis, welches Sie zu schleuniger Abreise zwang. Cornelie hat mir auf alle meine Briefe nicht geantwortet. Eine Entscheidung will und muß ich haben, und deshalb bin ich hier.«

»Diese Entscheidung soll dir werden«, versetzte der Oheim, den der bewegte Ton, mit dem Hermann sprach, nicht ungerührt zu lassen schien. »Warte die Zeit ab. Ich will ja dir, ich will keinem mit Absicht Unrecht tun, gönne mir ein paar Tage, die Sache noch einmal für und wider zu überlegen, und unterdessen sei mein Gast.«

Mit dieser Erklärung mußte Hermann vorderhand zufrieden sein.

Bei Tische erwartete er vergebens Cornelien, nach deren Anblicke er sich sehnte und den er doch fürchtete. Dagegen zeigte sich Ferdinand auf einen Augenblick. Sowie der Knabe aber Hermanns ansichtig wurde, färbten sich seine Wangen hochrot, er warf entrüstet die Serviette auf den Teller und rannte hinaus. Der Oheim schickte ihm einen zornigen und kummervollen Blick nach.

Nachdem die Verlegenheit, welche durch diesen unzweideutigen Auftritt entstanden war, sich verloren hatte, überblickte[415] Hermann die Tischgesellschaft. Sie war ziemlich zahlreich, und bestand wohl aus dreißig Personen. Die Hausgenossen, die unverheirateten Geschäftsleute und Vorstände, und mehrere junge Engländer und Franzosen, welche, angezogen vom Rufe des Oheims, bei ihm in die Lehre gingen, bildeten sie. Man setzte sich, sobald die Suppe erschien, ohne auf die Ausfüllung einiger leeren Plätze zu warten; das Gespräch war ziemlich laut, und Hermann konnte bemerken, daß der Ton, welcher hier herrschte, sehr ungezwungen, ja derb war. Der Oheim sprach halbleise nur mit seinem nächsten Nachbar, und sah meistenteils niedergeschlagen vor sich hin. Von Frauenzimmern war, außer einigen Wirtschafterinnen, niemand zu erblicken.

Als man schon ziemlich weit in der Mahlzeit vorgeschritten war, erschienen die verspäteten Tischgenossen; Hermann sah überrascht zwei alte Bekannte wieder, den Rektor und den Edukationsrat. Letztrer begrüßte ihn freundlich, dagegen dankte der Rektor kaum der Bewillkommnung, und schien die ganze Tafel über mit einer heimlichen Entrüstung zu kämpfen.

Nach Tische suchte Hermann mit dem Oheim ins Gespräch zu kommen, und sich über so manches, was hier bereits seine Aufmerksamkeit gereizt hatte, Belehrung zu verschaffen. »Ich bin heute morgen Zeuge einer Verhandlung gewesen«, sagte er, »nach der es den Anschein gewann, als hätten Sie sich bereits zur Ruhe gesetzt, und andern Ihr ganzes Geschäft übertragen. Und dennoch widerspricht dem alles, was ich von Ihnen sonst sehe und weiß.«

»Wenn ich nicht irre, sagte ich dir schon einmal, daß man nur bis auf einen gewissen Punkt besitze«, versetzte der Oheim. »Erreicht das Vermögen eine Größe, welche das Maß der sogenannten Wohlhabenheit übersteigt, sind die Geschäfte zu einem hohen Grade der Ausdehnung gediehen, so muß man andre schalten und walten lassen. Wer dann noch selbst in alles eingreifen, jedes einzelne in eigner Person ordnen zu können wähnt, macht über kurz oder lang die Erfahrung, daß nichts nach seinem Willen geschieht, und wird allerorten getäuscht und betrogen. Ich sah diesen Wendepunkt meines Schicksals, als ich das Kloster und die Besitzungen des Grafen angekauft hatte, und meine Fabrikplane anfingen, in Erfüllung[416] zu gehn. Deshalb entschloß ich mich, aus meinen Dienern und Faktoren, welche zum Glück sich in meiner Schule tüchtig herangebildet hatten, selbständige Herrn zu machen, ihnen als Gesellschaftern die Kapitalien, welche ich für die verschiedenen Geschäftszweige bestimmt hatte, vorzustrecken, und einen jeden übrigens auf eigne Gefahr sein Departement verwalten zu lassen. Bis jetzt habe ich mich bei dieser Einrichtung sehr wohl befunden. Die Direktoren treiben das Geschäft zu eigner Ehre und Vorteil, und bringen deshalb einen weit lebhafteren Schwung hinein, als wenn sie nur meine Handlanger wären, die wöchentlichen Konferenzen erhalten mich mit dem Ganzen im Zusammenhange, und da in den Hauptsachen doch immer auf meinen Rat gehört wird, so lenke ich im Grunde alles nach wie vor.«

»Eins fiel mir auf«, sagte Hermann. »Warum lassen Sie von Anleihen, welche ein Institut von dem andern macht, Zinsen geben, da doch das gesamte Betriebskapital Ihnen gehört? Sie scheinen solchergestalt sich selbst die Interessen zu entrichten.« »Nicht so ganz«, versetzte der Oheim. »Die Direktoren haben nur von den reinen Überschüssen ihren Anteil. Sie müssen sich daher bestreben, die Zinsen durch vorteilhafte Spekulationen einzubringen; und da dies in den meisten Fällen gelingt, so gewinnt die Anleihe ihre Interessen in der Tat und nicht bloß zum Schein.«

Jemand, der wie ein Metallarbeiter aussah, kam und brachte ein Päckchen Papiere in einem blauen Umschlage. »Es sind die bestellten Kassenscheine«, sagte er, »sehen Sie zu, ob sie Ihnen recht sind.«

Der Oheim nahm die Papiere aus dem Umschlage, hielt sie gegen das Licht, prüfte die Stempel, und gab einige Stücke an Hermann. Dieser sah, daß es Banknoten waren, über größere und kleinere Summen lautend, mit dem Geschäftssiegel und der Namensunterschrift des Oheims versehen.

»Es ist gut so«, sagte er zu dem Arbeiter, »die Proben gefallen mir, und ihr könnt nun die euch aufgegebne Anzahl verfertigen.

Ich habe es für vorteilhaft gehalten, dieses Papiergeld zu kreieren, dessen Honorierung mir von allen bedeutenden Handelshäusern[417] in den benachbarten Städten zugesagt worden ist«; mit diesen Worten wandte er sich gegen Hermann. »Es ist ein leichtes Zahlungsmittel für alle meine Angehörigen und Arbeiter, und ich erspare damit ebensoviel bares Geld, welches nun wieder andrerorten tätig sein kann.

Ich sehe«, fuhr er fort, »in den so übel berüchtigten Anleihen der Staaten nichts Schlimmes. Nicht in der vorhandnen Masse der edlen Metalle, sondern in den produktiven Kräften beruht der Reichtum einer Nation, und es ist gleichgültig, ob diese Kräfte durch Silber und Gold, oder ob sie durch Papier in Bewegung gesetzt werden, ja, es ist ein gutes Zeichen, wenn man zu letzterem greifen muß, um den Überschuß der Tätigkeit auszugleichen.«

Ein kleiner Rollwagen fuhr unter dem Fenster vor, von zwei rüstigen Burschen gezogen. Der Oheim sah mit einem schwermütigen Lächeln seine schwachen und gebrechlichen Füße an, und sagte: »Dagegen hilft nun freilich weder Spekulation, noch Papiergeld. Willst du, neben diesem kindischen Fuhrwerke hergehend, mich durch die Anlagen begleiten?«

Hermann half ihm in den Wagen, und das Gespann setzte sich in Bewegung. Der Oheim ließ sich durch seinen Blumengarten fahren, welcher von der geschmackvollsten Auswahl und sorgfältigsten Pflege zeugte. Bei den schönsten Exemplaren mußte der Wagen stillhalten, der Oheim hob die Kelche mit leiser Hand auf, und senkte seinen sehnsüchtigen Blick in ihre bunte Tiefe, oder sog den Wohlgeruch verlangend ein. Zwischen dieser zarten Beschäftigung fuhr er fort, den Neffen über Handels- und Gewerbsverhältnisse zu unterrichten.

Auf einer Anhöhe, welche die eigentlich botanische Region bildete, stand ein Gartenhaus, worin die Bibliothek befindlich war, die zu solchem Platze sich eignete. Der Oheim stieg aus, nahm ein Werk zur Hand und schlug darin etwas nach.

In einiger Entfernung, an der Abdachung des Hügels sah Hermann Leute beschäftigt, und ging, da der Oheim bei seiner Lektüre blieb, zu ihnen. Man hatte eine Wand des Hügels mit künstlichem Fels umsetzt, zwischen dessen Spalten Rhododendren und andre Staudengewächse blühten. In der Mitte[418] öffnete sich dieser Felsen zu einem Gewölbe, dessen Ausmauerung die Arbeiter beschäftigte.

Hermann vernahm auf Befragen, daß das Gewölbe bestimmt sei, die Reste der Tante aufzunehmen, welche der Oheim nur vorläufig im Erbbegräbnisse des Schlosses habe niedersetzen lassen. Dieser Platz aber sei zu ihrer Ruhestätte erwählt worden, weil sie denselben vorzugsweise geliebt habe.

Wirklich hatte man von dort die reizendste Aussicht. Gerade aus der Tiefe, beinahe senkrecht ihr gegenüber, stieg ein mächtiger Fels auf, den eine schöne frische Wiese, von klaren Quellbächen befeuchtet, umgrünte, hinter demselben erhob sich die Waldhöhe, von welcher das Schloß stolz herabblickte. Das Maschinenwesen war nach dieser Seite noch nicht vorgedrungen. Man sah auf Berg und Tal, wie sie Gott geschaffen hatte.

Was Hermann von den Marmoren, die weither geschafft würden, von den prächtigen Gußeisenarbeiten, die der Oheim bestellt habe, vernahm, überzeugte ihn, daß Gattenliebe hier das kostbarste Mausoleum gründen wolle. Sich selbst hatte der Oheim in dieser Gruft auch die letzte Rast bestimmt, wie die Arbeiter sagten.

Er saß noch bei sinkendem Abend, und lange nachdem die Leute den Platz verlassen hatten, an dieser ernsten Stätte. Dachte er an die Erzählung aus Theophiliens Schlafreden, so mußte er wünschen, geträumt zu haben; denn hatte sie wirklich gesprochen und die Wahrheit gesagt, so erschien der ganze Zustand der armen Menschen ihm unselig hohl und lügnerisch.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 413-419.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Epigonen
Die Epigonen; Familien-Memoiren in Neun Buchern (1)
Die Epigonen (2); Familienmemoiren in 9 Buchern
Die Epigonen: Familien-Memoiren in Neun Büchern (German Edition)
Die Epigonen: Familienmemoiren in Neun Büchern (German Edition)
Schriften: 7. Bd. Die Epigonen (German Edition)

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon