Eilftes Kapitel

[620] Niemand war in dem weitläuftigen Gebäude zurückgeblieben; alle suchten noch auf verschiednen Orten und Flecken Cornelien. Hermann zündete Licht an, eilte nach ihrem Zimmer, holte Kleider und Wäsche, ging dann in die Küche, entflammte dort ein mächtiges Feuer, und bereitete ein stärkendes Getränk aus Wein und wärmenden Gewürzen.

Erst nachdem er Cornelien umgekleidet und durch eine Tasse Glühwein erfrischt sah, dachte er an sich, und wechselte auch seinen triefenden Anzug. Corneliens Jugend und Gesundheit überwand solche Anstrengungen leicht. Sie versicherte Hermann, als er nach kurzer Weile in trocknen Kleidern erschien, daß ihr vollkommen wohl sei, und bat ihn, nun auch für sich zu sorgen. Sein Antlitz, von Mühe, Luft und Regen erhitzt, kam ihr gesundet vor, sie schlürfte schmerzlich-froh die süße Täuschung ein.

Er zog den Tisch mit dem Getränke vor das Sofa, und setzte sich zu ihr. Einige Kerzen, welche sie angezündet hatte, verbreiteten durch den Raum ein liebliches Licht. Sie mußte ihm einschenken und bemerkte, daß er ihre Hand, wenn sie ihm die Tasse reichte, scheu und flüchtig, als solle es nur Zufall sein, berührte.

Draußen kam jemand zur Haustüre herein, öffnete das Zimmer, und rief: »Gottlob, da sind Sie ja!« Es war einer der Ausgeschickten, der nach lange fortgesetzter Mühe verzweifelt war, seinen Zweck zu erreichen.

»Geht, guter Mann«, rief Cornelie, »versucht, die andern, welche sich um mich bemühn, zu finden, und sagt ihnen, daß ich hier geborgen sei!«

»Nun wird bald das Getöse entstehn«, sagte Hermann, »und ich wäre so gern mit dir noch allein geblieben.« Sie nahm ihn bei der Hand und blickte ihn liebevoll an. »Ich will dir wohl etwas entdecken«, fuhr er fort. »Seit ich erfuhr, daß[620] du bei mir bleiben wolltest, und darum so viele Drangsale von den andern ausstehn mußtest, ist es mir, als werde ich vielleicht einmal wieder lachen oder weinen können. Vermutlich irre ich mich darin, aber eine Veränderung spüre ich an mir, denn es ist auch wahrhaftig keine Kleinigkeit, daß ein so liebes schönes Mädchen es mit einem armen dummen Menschen, der zu nichts mehr nütze ist, aushalten will. Was hast du davon?«

Ihre Arme umschlangen seinen Nacken, er legte sich wie ein Kind an ihren Hals. »Wenn du recht offen gegen mich wärst, mein Hermann«, flüsterte sie, »vielleicht könnte dir geholfen werden.«

»Das ist nicht möglich«, seufzte er, »mir steht nicht zu helfen. Kannst du aus Sünde Tugend, aus Ekel Lieblichkeit, aus Unrat Gold und Perlen machen? Nein, nein, ich bin ein ganz zerstörtes, um und um gekehrtes Bild, da ist auch kein Zug mehr ohne Schrammen, Brandmale und Flecken. Toll bin ich nicht, habe meinen Verstand und ach! ein nur zu gutes Gedächtnis. Aber wenn ich denke, das möchte ich wohl, oder jenes, oder den würde ich liebhaben können und den hassen, so liegt immer etwas dazwischen, worüber ich nicht hinwegkann, was mich in die Kälte und in das Nichts absperrt. Beschreiben läßt sich der Zustand nicht, schweigen wir davon! Mir wird schwindlicht, wenn ich da hineinblicke.«

»Du mußt sonderbare Schicksale erlebt haben«, sagte Cornelie. – Sie erschrak, und rief: »Mein Gott, wie konnte ich das vergessen? Draußen auf der Wiese liegt ja ...«

»Was liegt draußen auf der Wiese?« fragte Hermann.

»Nichts«, versetzte sie, innehaltend, weil sie befürchtete, ihn mit der Erzählung aufzuregen. »Aber eine Bekannte traf ich von dir heute; sie gab mir den Ring für dich.«

Sie reichte ihm den Ring. Hermann sah ihn an, stutzte, hielt ihn gegen das Licht, rieb sich die Stirn, ging sinnend im Zimmer auf und nieder, und fragte dann, wie in einem wachen Traume: »Wer, sagst du, hat dir den Ring gegeben?«

»Ein junges, krankes Frauenzimmer. Ihre alte Begleiterin nannte sie Flämmchen. Sie sagte, sie habe ihn einst von dir bekommen.«[621]

»Wie?« fragte er, in einen Abgrund von Gedanken versenkt. Er nahm ein Licht, und ging auf sein Zimmer, den Ring immer vor sich hinhaltend, und der wirklichen Welt, so schien es, entrückt.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 620-622.
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