Zwölftes Kapitel

[622] Geräusch, fröhliches Rufen, Leuchten und Fackeln verkündigten das Nahen der zurückkehrenden Hausgenossen. Cornelie trat ihnen im Flur entgegen, und wurde von allen auf das herzlichste bewillkommt. Der Prediger schloß sie in seine Arme, Wilhelmi nahte sich ihr schüchtern und bat sie um Vergebung. Sie gelobten ihr, daß ihr künftiges Schicksal nur von ihr abhangen solle.

Alle waren naß und der Erquickung bedürftig. Man versammelte sich, nachdem die feuchten Röcke, Westen und Fußbekleidungen mit trocknen vertauscht worden waren, im großen Zimmer, wo denn bei einer guten Mahlzeit und einem Glase Punsch die Besorgnisse des Tages und die Mühseligkeiten des Abends vergessen wurden.

Cornelie nahm, sobald es sich tun ließ, den Prediger beiseite, und erzählte ihm von dem Finden der Alten und ihrer sterbenden Tochter. Dieser teilte die Sache Wilhelmi mit, und sie entschlossen sich, am folgenden Morgen nach der Wiese zu gehn, welche Cornelie ihnen beschrieben hatte.

Auch von dem Ringe, und welchen Eindruck derselbe auf Hermann gemacht, war ihnen etwas gesagt worden. Wilhelmi klopfte daher, als die übrigen sich zur Ruhe begeben hatten, an Hermanns Zimmer, worin noch Licht zu sehen war, und wollte öffnen, fand aber die Türe von innen verriegelt, und bekam auf sein Rufen keine Antwort.

Den Prediger hielten am folgenden Tage Amtsgeschäfte zurück; Wilhelmi machte sich daher, nur von einigen Arbeitsleuten begleitet, auf den Weg nach der Wiese. Dort hatten sie einen Anblick, welcher sie in Erstaunen setzte. Die Alte saß noch, wie Cornelie sie ihm geschildert hatte, ohne Regung, mit aufgezognen Knien, das Haupt im Schoße und in[622] den umfassenden Armen; ein Bild des versteinernden Schmerzes, und neben ihr lag der schöne, blasse Leichnam, vom Regen und Winde tief in wilde Blumen hineingewühlt, welche ihre bunten Glocken über dem erstarrten Antlitze wie leidtragend hin und her wiegten. Wilhelmi erkannte die Züge des Knaben, der ihm auf dem Schlosse lieb gewesen war, wieder, und fühlte sich ohne Faden in diesem Labyrinthe rätselhafter Begegnungen.

Er wollte die Alte erwecken lassen, diese fiel aber bei der ersten Berührung zusammen. Sie war nicht tot, denn ihr Atem ging, wenn auch kaum hörbar, aber in einem bewußtlosen, schlafartigen Zustande.

Ein rüstiger Arbeiter mußte sich mit ihr beladen und sie nach dem Kloster tragen; den andern gab Wilhelmi die nötige Anweisung, wie der Leichnam zu bestatten sei. Überwältigt von so vielen außerordentlichen Dingen, befahl er, daß ganz nach den Worten der Alten hiebei verfahren werden solle, die ihm Cornelie hinterbracht hatte. Schweigend machten die Männer eine tiefe Gruft auf der Wiese, schweigend senkten sie den zarten Leichnam, um den nur ein feines Musselintuch geschlagen ward, ein.

So wurde das wilde, ausgelaßne, unglückliche Flämmchen unter Gräsern und Blumen zur Ruhe gebracht. Zwischen ihr und der Erde bildeten keine Sargwände eine Scheidung. Nicht unpassend erschien diese Art des Begräbnisses. Den Elementen hatte sie im Leben näher angehört, als der menschlich-geselligen Ordnung, den Elementen wurde sie nun im Tode zu unmittelbarer Gemeinschaft zurückgegeben.

Die Alte hatte man in ein bequemes Bette gelegt. Ihr Starrkrampf, Schlaf, oder was es sonst war, dauerte fort. Der herbeigerufne Hausarzt erklärte, man müsse die Natur walten lassen, welche die inneren Organe wohl wieder so weit beleben könne, um an die Stelle dieses Scheintodes ein wirkliches Bewußtsein zu setzen.

Wilhelmi, Cornelie, der Prediger, ja selbst die kalten Geschäftsmänner wandelten umher, halbkrank, von schwärmenden Einbildungen erfüllt. Denn auch Hermann war für sie unsichtbar geworden. Seit jenem Abende hatte er den[623] Verschluß seines Zimmers noch nicht aufgehoben, nur die notwendigsten Speisen ließ er sich einmal des Tages hineinreichen, und schob dann sogleich wieder den Riegel vor. Wilhelmi beobachtete ihn vom Fenster eines gegenüberliegenden Hauses, und sah, daß er unaufhörlich den Ring anstarrte, dann emsig schrieb, und von dieser Beschäftigung nur wieder zu jener Gebärde überging.

»Was wird aus allem diesem werden?« sagte Wilhelmi eines Tages zum Prediger, mit dem er viel zusammen war. »Wo liegen die Knoten, durch deren Lösung ein verworrnes Gewebe zu ordnen sein möchte?«

»Ich bin auf alles gefaßt«, versetzte der Prediger. »Es sollte mich nicht wundern, wenn hier in unsrer friedlichen Gegend plötzlich ein Vulkan den feurigen Schlund auftäte, oder ein Erdbeben unsre Häuser in ihren Grundfesten erschütterte, so wilde Begebenheiten haben einander gedrängt und überstürzt.«

»Große Besitzungen ohne Herrn, ein guter, zu allen Freuden des Daseins berechtigter Mensch in Nacht und Kindheit des Geistes gestürzt!« rief Wilhelmi. »Verborgne Schuld abgelaufner Zeiten grausam an das Tageslicht gerissen, und keine Sonne der Hoffnung aufgehend über den Gräbern des Herzogs, des Oheims, der Tante, Ferdinands, Flämmchens! Wir sehen gleichsam in einer Gruppe und abgekürzten Figur um uns her das ganze trostlose Chaos der Gegenwart.«

»Wäre in unsrer Brust nicht der Glaube an ein Gleichgewicht der Dinge unvertilglich, so müßte uns das Leben wie ein gewisses Spiel vorkommen, welches die Schulknaben zu treiben pflegen«, erwiderte der Prediger. »Sie schreiben auf die erste Seite ihrer Grammatik: ›Wer meinen Namen wissen will, schlage Pagina da und da auf.‹ Dort wird wieder nach einer andern Seite hinverwiesen, und so weiter. Endlich, wenn der Suchende sich nach und nach durch das ganze Buch vor und zurück hindurchgearbeitet hat, bleibt der Name mit einem albernen Scherze aus.«[624]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 622-625.
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