Siebentes Kapitel
Ein Trauerspiel im Oberhofe

[701] Melpomene hat zwei Dolche. Der eine ist blank, haarscharf geschliffen, schneidet schnell und gräbt glatte, rein ausblutende Wunden. Der andere rostig, voll Scharten, reißt in das Fleisch unselige Zerstörung. Mit dem einen tritt sie Könige und Helden an, mit dem anderen pflegt sie sich öfter bei Bauern und Bürgern einzuschleichen. Der eine trifft um große, unleugbare Güter, um Krone, Reich, Leben, der andere quält um Nichtigkeiten, um einen Schall, um des Schalles Widerhall. Denn die Menschen werden nicht von den Dingen, sondern von den Meinungen über die Dinge gepeiniget.

Der Palast ist nicht der einzige Schauplatz der Tragödie. – Wer jetzt bei den Schatten der Nacht unter das Dach des Oberhofes hätte blicken können, würde haben zugestehen müssen, daß dort die leidenschaftlichste Tragödie im Gange sei.

Es war so spät geworden, daß die Nachbarn sich zurückgezogen, die Knechte und Mägde sich schlafen gelegt hatten und das Feuer auf dem Herde erloschen war. Der Hofschulze verschloß darnach alle Türen des Hauses und bereitete sich zu seinem Werke, welches er für die Nacht verspart hatte. Für ganz einsam hielt er sich, aber er war belauscht. Als die Türen abgeschlossen wurden, schlich sich eine dunkele Gestalt zu der Spähestelle im Eichenkamp und setzte sich dort nieder, das[701] Gesicht nach dem Oberhofe gewendet. Es war der einäugige Spielmann, welcher inzwischen gehört hatte, daß sein Feind nicht am Schlage gestorben sei und nun sehen wollte, ob ihm nicht wenigstens die Qual aufliege, welche der Rachsüchtige ihm in heißem Grimme anwünschte. Nicht lange durfte er auf die Freude dieses Anblicks warten. Denn bald leuchtete in dem dunkelgewordenen Oberhofe ein Licht auf. – »Aha«, sagte der Spielmann, »jetzt gibt er sich ans Suchen.« – Das Licht begann eine Wanderung, jetzt erschien es hier, dann zeigte es sich da. – »Nun sucht er in den Stuben«, sagte der Spielmann. Zuweilen verschwand es. – »Hinten hinaus liegt auch nichts!« frohlockte der Spielmann. Plötzlich kam es wieder rasch zum Vorschein. – »Da bist du ja schon gewesen!« murmelte der Feind voll ingrimmiger Lust. So begleitete er jeden Schritt des verräterischen Lichtes mit seinem Hohne. Wie das Licht nicht müde ward zu wandern und der Reiche in seiner verzweiflungsvollen Anstrengung mit ihm, so ward der Bettler draußen im Dunkel nicht müde, das Licht und den Reichen zu verspotten. Endlich als es auf Mitternacht ging, und der Schein noch immer da und dort flammte, konnte er sich nicht mäßigen, sondern er feierte seinen nächtlichen Triumph durch ein Lied, welches er auf dem Leierkasten tönen ließ. Es war eins der sanften, stillen Lieder, welche das Volk auf den Gassen zu hören bekommt, er aber riß an dem Griff, daß die Walze, heftig umgeschwungen, die langsame Weise in das wildeste Allegro trieb.

Damals um diese Mitternachtstunde saß auf dem Flure im Oberhofe der alte Bauer und ruhte eine kurze Zeitlang von seinem Suchen aus. Das Licht stand neben ihm und in dessen mattem Scheine glichen die gefurchten Züge des Antlitzes tiefen Gräben, die sich durch ein graues Feld ziehen, denn seine Gesichtsfarbe war von Schmerz und Gram um den ihm unbegreiflichen Verlust aschfahl. Die Augen waren fast aus ihren Höhlen getreten und er sah starr mit ihnen auf den Boden. Alles hatte er unten durchsucht, selbst das Stroh in dem Stalle umgewendet und nichts gefunden.

Jetzt erhob er sich, um in dem ersten Stock des Hauses nachzusehen. Das Licht vor sich hinhaltend, ging er zitternd und[702] gebeugt langsam die Treppe hinauf und hielt sich am Geländer. Oben stand er still und überschlug, wo er seine Forschungen anstellen müsse. Denn auch in dieser verzweiflungsvollen Seelenstimmung verließ ihn seine Bedächtigkeit nicht. Er erinnerte sich, daß er in der Kammer, worin die Kiste stand, schon gleich nach dem Wahrnehmen des Raubes nichts undurchstöbert gelassen hatte; dort also wäre jede erneute Mühe umsonst gewesen. Aber alle anderen Gemächer, Gelasse, Ecken und Winkel durchspähte er. Er rückte die Schränke ab, wo dergleichen standen, und blickte hinter jede Kiste. Er öffnete die Schränke und Kisten, bückte sich über sie und leuchtete hinein. Jedes Gerät, welches einen Gegenstand verbergen konnte, nahm er auch hier von seinem Platze und sah nach, ob das Schwert nicht dahinter liege. Über diesem stillen und vergeblichen Suchen gingen wieder mehrere Stunden hin. Der Morgen begann schon zu dämmern.

Wie der alte Mann so, unaufhörlich gehend, sich bückend, spähend, nie übereilt in seinen Bewegungen, aber auch nimmer rastend, umherwanderte, gewährte diese unablässige, stumme, stete, gleichmäßige Mühe einen peinlichen und fast schauerlichen Anblick. Wäre er rascher in seinen Bewegungen gewesen, so würde man ihn haben einem Raubtiere vergleichen können, welches nach seinen Jungen sucht; so aber, wie er sich verhielt, glich er einer ewigen, toten, stillwühlenden Naturkraft.

Das letzte Gemach, welches er durchforschte, war Lisbeths Zimmer. Er dachte nicht daran, daß er ein entkleidetes und schlafendes Mädchen dort hätte finden können. Er verwunderte sich auch nicht, daß er Lisbeth nicht darin fand, daß ein anderer es und in solcher Art, wie er sah, innehatte, denn er hätte sich über nichts verwundert, seine Seele war gleichgültig gegen alles, außer gegen den einen Gegenstand, der sie erfüllte. – Nun hatte sich die Sache gewendet. Der Alte war in Bewegung und der junge Mann ruhte, oder regte sich wenigstens nicht, erschöpft von Anstrengung und Leiden. Er hatte sich, nachdem er der Hoffnung leer geworden war, Lisbeth heute wiederzusehen, über ihr Bette geworfen, um etwas zu berühren, was ihr Körper berührt hatte. So lag er, die Arme über das[703] Kissen gebreitet und dieses an seine Wangen drückend. Leise stöhnte er und rief zuweilen schluchzend den schwäbischen Schmerzenswunsch: »Ich wollt', ich wär' bei meiner Mutter!« – Die Mutter, nach der er hinverlangte, lag aber im Grabe, und die Geliebte, um die er bekümmert war, saß wenige Türen von ihm, in der Nachtkälte frierend, ein erstarrtes Vöglein, welches tages zuvor so lieblich gesungen hatte.

Der Hofschulze bekümmerte sich nicht um Oswald, und der Jüngling hörte nicht, daß der Hofschulze in das Zimmer getreten war. Auch hier tat und vollbrachte nun der Alte sein mühevoll vergebliches Werk. Der Schweiß troff ihm von der Stirne. Er seufzte tief und machte sich jetzt auf den Weg nach dem Söller, dem letzten noch undurchforschten Raume des Hauses. Als er in die Nähe der Söllertreppe kam, stand er jedoch plötzlich still und ein Schauder schüttelte seine Glieder. Nachdem dieser Schauder vorüber war, hatten seine Züge ein verändertes Ansehen gewonnen. Die Muskeln des Antlitzes spannten sich straff an, die Augenhöhlen wurden weiter, in seine Augen trat ein seherischer Glanz, sie blickten unbeweglich mit geisterhaftem Blicke vor sich hin, als schaue er etwas, ein Ding oder einen Ort, und plötzlich griff er mit der Hand nach der Luftgestalt, die ihm der auf der Höhe seiner Anstrengungen gewordene ekstatische Zustand vorspiegelte. Jene Handbewegung brachte ihn zu sich selbst zurück. Er blickte nun mit seiner gewöhnlichen Art um sich her, strich sich über die Stirne, die Anspannung der Muskeln ließ nach, die Brauen sanken herunter, die Augenhöhlen nahmen ihre gewöhnliche Größe an, er sah aus, wie zuvor. Der ganze Paroxysmus hatte nur wenige Sekunden gedauert. Aber ohne Zweifel war während desselben etwas Außerordentliches in ihm vorgegangen. – »Also da liegt es!« murmelte er froh und beruhigt, und stieg raschen Schrittes die Söllertreppe hinauf.

Oben achtete er dessen nicht, daß er mit dem brennenden Lichte neben Stroh und Heu vorbeiging; eine Unvorsichtigkeit, wofür jeder Knecht ohnfehlbar den Dienst bei ihm verwirkt haben würde. Geraden Schritten ging er auf den Verschlag zu, worin Oswald so unbequeme und doch so glückselige Nachtstunden zugebracht hatte. Mit der Sicherheit eines, der weiß,[704] daß ihn seine Vermutung nicht täuscht, machte er die Türe auf und sah sich im Verschlage um.

Aber als er nun das Lagerstroh umgekehrt und die wenigen Sachen, welche der enge, kahle Raum enthielt, hinweggetan hatte, brach er gewaltsam zusammen. Denn zwischen diesen vier leeren Bretterwänden war das Schwert Karls des Großen auch nicht zu finden. Das brennende Licht entsank seiner Hand, er setzte sich oder fiel vielmehr auf einen dort stehenden Kasten und stieß einen furchtbaren Schrei aus, einen von den Lauten, die sich nicht beschreiben lassen, weil die Natur in ihnen ihre eigensten, nur sich selbst vorbehaltenen Rechte übt.

Das Licht schwelte mit seiner Flamme auf dem Fußboden in der Nähe des umherzerstreuten Strohes. Der Hofschulze aber hatte kein Auge für diese Feuersgefahr. Er blieb auf dem Kasten sitzen. Die Kniee hatte er zum Haupte emporgezogen, die Arme auf die Kniee gestemmt und mit seinem Munde nagte er an den Händen. So blieb er, ohne daß er sein Lager aufgesucht hätte, oben, bis es heller Tag geworden war.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 701-705.
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