I

[805] Sie wollen mir, lieber Herr Buchbinder, wie ein Londoner Publikum, das Nachspiel zu der Tragödie, die einen heiteren Ausgang gewann, nicht erlassen. Sie fragen mich nach unterschiedlichen Dingen und Personen, und da Sie mir während der Arbeit rechtschaffen beigestanden haben, teils durch Heften des Manuskripts, teils durch guten Rat, so will ich Ihnen auch darin gern, inwieweit ich kann, gefällig sein.

Vor allen Dingen wünschen Sie zu wissen, was der Arzt zu der Vermählung gesagt habe. Herr Buchbinder, Sie sind ein schlauer Vogel. Der Doktor kam ungefähr eine Stunde nach der Trauung in das Haus und fand noch alles in Entzücken und Tränen. Er war aber gar nicht entzückt und vergoß auch keine Träne. Sondern bitterböse war er und rief: »Verdammt, daß der Humor immer wörtlich genommen wird! Allerdings war der Graf in großer Gefahr, und noch jetzt ist ein Rückfall zu besorgen, wenn man ihn nicht vor Gemütsbewegungen in acht nimmt.« Er hatte hierauf mit der Baronesse ein Gespräch unter vier Augen. Infolge desselben wußte die junge Dame die neue Gräfin zu bestimmen, daß sie noch an ihrem Hochzeittage mit ihr abreiste, und so trennte sich das Paar wenige Stunden nach seiner ewigen Vereinigung unter heißen Tränen, aber mit freiem und würdigem Entschlusse. Nachdem Clelia ihren entronnenen Gemahl aus dem Osnabrückschen sich wiedergeholt hatte, reisten sie zusammen durch Holland, Belgien, Frankreich, England bis nach Schottland. Die junge Frau oder Braut sah vieles, merkte auf alles und wechselte mit ihrem Gemahle oder Bräutigam die schönsten Briefe. Man sah ihr nirgend an,[805] daß sie nur ein Findling war, sondern sie betrug sich wie eine geborene Gräfin. In England wurde sie der Königin vorgestellt, diese küßte sie auf die Wange und die Frau von Lehtzen nannte sie »my dear Eliza«.

Endlich nach sechs oder sieben Monaten schlug die Stunde der Heimkehr. Der Graf, nun ganz wiederhergestellt, kam den Reisenden bis Rotterdam entgegen und führte sein bräutliches Weib in großer Wonne auf das hohe Schloß am Neckar.

Der alte Baron, über welchen sich bei dem Einsturze des Schlosses schützend ein Stück Dach gespreitet hatte, wurde dadurch vor dem Zerquetschen bewahrt. Er schlug nur mit der Stirn auf einen harten Körper, einen Stein oder Balken, auf und trug eine große Brausche davon. Einige Tage lag er betäubt, als er aber wieder zukehrte, war er von allen und jeglichen Einbildungen geheilt. Entweder muß daher an ihm das Dogma des Dorfchirurgen vom Schock und Gegenschock sich bewährt haben, oder die fixen Ideen sind ihm früher von einem Knoten im Hirne entstanden, den ihm die Erschütterung des Falles gesprengt hat. Genug, er war auf den Kopf gefallen und dadurch zu Verstande gekommen.

Einen großen Schmerz hatte der alte Mann über die Gefühllosigkeit seiner Pflegetochter, wie er ihr Benehmen nannte. Er wollte sie auch deshalb gar nicht sehen, als sie ihn endlich besuchte, und sie mußte, nachdem sie drei Tage inständig bittend verweilt hatte, unverrichteter Sache abreisen. Jede Einladung nach dem Schlosse am Neckar hat er beharrlich abgelehnt. Die jungen Gatten sorgen aber dennoch für ihn durch einen seiner alten Freunde, der von ihnen ins Vertrauen gezogen worden ist. Dieser zahlt ihm nämlich reichliche Summen aus unter dem Vorwande, es seien Rückstände von Zinsen, die sein ehemaliger Rentmeister nachlässigerweise uneingefordert gelassen habe. Der alte Baron wohnt bei diesem Freunde zur Miete, hat sich wieder Jagdgewehr angeschafft, schießt Rehe, so viele er treffen kann, trinkt Rheinwein nach Bedürfnis und lebt ganz der Gegenwart.

Der Schulmeister Agesel ließ in den »Rheinisch-Westfälischen Anzeiger« einrücken, er erkläre jeden, der ihn nicht für einen gewöhnlichen Menschen im vollen Sinne des Worts[806] halte, für einen Schurken, worauf der Küster aus Furcht, insultiert zu werden, seine andere Furcht nach und nach bemeistern gelernt hat.

In Dünkelblasenheim steht alles beim alten. Nationallied ist noch immer der Gesang der Fische aus Wielands Märchen:


Hätten's gern besser

Statt immer schlimmer;

Und raten immer,

Und treffen's nie.


Münchhausen wird in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ganz außerordentlich vermißt.

Von dem Verschwinden dieses wunderbaren Mannes ist der Schleier nie gelüftet worden. Natürlich muß die Krypte einen geheimen Ausgang gehabt haben, wer nur wüßte, wo? – Eine ganz sonderbare Nachricht verbreitete sich unlängst. Ein Reisender wollte nämlich in einem kleinen Gebirgsstädtchen im Hohenzollern-Hechingenschen einen Mann, genau aussehend wie unser Held, mit einer ältlichen Dame lustwandeln gesehen haben. Auf Befragen hatte man dem Reisenden

gesagt, jener Mann heiße Münch, genannt Hausen, lebe vom Ackerbau, sei ein nützlicher Staatsbürger, guter Gatte und würde ohne Zweifel ein ebenso guter Vater werden, wenn seine Frau noch Kinder bekommen könnte.

Wäre dieser unschädliche Acker- und Staatsbürger wirklich Freiherr von Münchhausen, so hätte sich in unserer lehrreichen Geschichte gerade das Gegenteil von dem ereignet, was in anderen Geschichten vorzukommen pflegt. Denn in denen werden meistens alle Vernünftigen toll, in der unsrigen aber wären durch tüchtige Eingriffe des Lebens, sei es mittelst

Nichtachtens auf die Schrolle, sei es mittelst Fallens auf den Kopf, oder mittelst Wiedererscheinens einer alten Geliebten, alle Tollen oder Halbtollen vernünftig geworden. Gewiß ein tröstlicher Ausgang!

Mit Wehmut wende ich mich zu Ihrer Frage nach Karl Buttervogel. Dieser praktische Charakter ist leider an seiner einzigen Schwäche untergegangen, er starb nämlich am Übermaß[807] von Gründen. Das ging so zu. Bald nach dem Verlassen des Münchhausenschen Dienstes fand er eine neue Herrschaft, bei welcher er auch mit Pferden umgehen mußte, d.h. er wurde zugleich Kutscher. Einstmals fuhr er nun in einem holprichten Wege so schlecht, daß ihn sein Herr heftig anließ und ihn fragte, warum er nicht im Geleise bleibe? Karl hätte hierauf einfach antworten sollen, daß er gen Himmel, statt auf die Straße gesehen habe. Er wandte aber den Kopf rückwärts und trug dem Herrn unaufhaltsam eine Fülle von Gründen vor. Da schlug der Wagen in ein tiefes Loch, Karl stürzte vom Bock, fiel vor das Rad, dieses ging über ihn weg und jämmerlich kam er um. An seinem Grabe weint Rieke aus Stuttgart, die er geheiratet hatte, mit zwei unmündigen Kindern. Ich weiß, daß auch Sie seinem Andenken eine Träne zollen werden.

Was das optische Glas zu lesen gegeben, kann ich Ihnen nicht sagen. Es liegt unter den Trümmern des Schlosses, die nicht hinweggeräumt worden sind.

Habe ich Sie nun zufriedengestellt, lieber Herr Buchbinder? Der ich mit aller Achtung usw.


N.S.

Beinahe hätte ich den Oberamtmann vergessen. Eine Geschichte mit so vielen Personen ist wie ein Wirtshaus voll Gäste. Bei der pünktlichsten Aufmerksamkeit wird doch immer der und jener sitzengelassen. Er kam aus dem gewerbfleißigen Wuppertale zurück, schon sehr verstimmt, denn von der Assise hatte er nichts zu sehen bekommen. Den ersten Tag seines Dortseins konnte er nämlich wegen Überfüllung des Saales mit Menschen nicht hinein, am zweiten Tage wurde eine Sache bei verschlossenen Türen verhandelt und am dritten eine ausgesetzt, weil der Hauptzeuge fehlte; womit die damalige Quartalsitzung schloß.

Als er nun gar seinen Freund, den er brautlos erwartete, vermählt wiederfinden mußte, kannte sein Zorn keine Grenzen. Aber die Ehe saß wirklich wie ein guter Riegel fest und spottete jeglicher Bemühungen, sie hinwegzuschieben. Er reiste auf der Stelle ab, hat sich in den Schwarzwald vergraben und nichts mehr von sich hören lassen. Sein Glaube an die Menschheit[808] soll sehr gesunken sein und Clelien nennt er, wie man sagt, nur Armiden, die listige Verführerin. Oswald hofft indessen doch noch ihn auszusöhnen.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 805-809.
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