Die Familie

[53] Lord Byron hat gesagt, eine Familie käme ihm vor wie ein italienischer Salat, worin die verschiedenartigsten Ingredienzien nur durch Öl und Essig miteinander zusammenhingen. – Fühlte sich ein Engländer gedrungen, so zu sprechen, der doch sehr feste Formen in seinem Lande vor sich sah, wie soll einem Deutschen zumute werden, wenn er unternimmt, das seltsame Chaos von Egoismus und Opfermut, Tätigkeit und weichlich-bequemem Wesen, Täuschung und Wahrheit, Blutgefühl, Verdruß, Widerwillen und anhänglichster Liebe, welches die deutsche Familie heißen muß, als organisches Gewächs nachzuweisen? In der Tat, ich halte es für eine der schwierigsten Aufgaben, unseren Familiengeist, diesen Proteus, zu bannen, daß er Rede steht. Und doch ist er da, sogar weit mehr da, als anderer Orten, denn die Familie bedeutet von jeher mehr bei uns, als bei den übrigen Völkern. Polen und Russen haben nur eine Art von Contubernium, Spanier und Italiener allenfalls den Instinkt, der sich der Kinder annimmt. Bei den Franzosen herrscht dagegen umgekehrt eine ehrfurchtsvolle Pflege des Alters, wie noch neuerdings Alletz in seinem Werke über die Sitten und die Macht der Mittelklassen in Frankreich bezeugt hat. Töchter insbesondere, die ihre Väter leidenschaftlich verehren, sind dort nicht selten; die Staël war in dieser Beziehung kein Phänomen, sondern nur ein eminentes Beispiel. Dagegen ist die Ehe, welche doch immer der eigentliche Pulsschlag des Hauses bleibt, dort auch ganz entzaubert, dürr und heruntergebracht. Grisetten und Freundinnen befriedigen – nicht die Wollust – sondern das Herz. Eine Liederlichkeit des Herzens nennt Alletz den Zustand. Es gibt eine Menge derartiger Verbindungen, an welchen die Sinne kaum einen Anteil haben,[54] wenigstens keinen entscheidenden. Ein scharfer Kontrast der Anomalie in den beiden Ländern, in Frankreich und Italien! Dort sucht der Mann seine Freuden außer dem Hause, hier ist es die Frau, welche sich den amico zu verschaffen weiß. Man kann nicht zweifelhaft sein, wo die Sitten einer Restauration näher stehen.

Blickt man nach England, so sieht die Sache sehr glänzend aus. Das behagliche Landleben der Gentry, die Gemeinschaftlichkeit der Familiengenüsse, der einfache Freimut der englischen Frauen scheinen den Rückschluß auf eine hohe Vollkommenheit des häuslichen Zustandes zu gestatten. Allein sieht man schärfer zu, so möchte sich doch alles zuletzt mehr auf das Gefühl des Comfort beschränken. Die englische Familie ist nur der englische Staat im kleinen. Der Hausvater ist der durch die Verfassung beschränkte König, der zwar innerhalb dieser Schranken des höchsten Ansehens sicher sein kann, aber auch nur sein Reich unter der Bedingung hat, daß er die Frau, Kinder, ja selbst das Gesinde als konstituierte Gewalten achtet. Der Atem politischer Rechte durchweht wie alles auch die Familie dort, und der Spruch, daß eines Engländers Haus seine Festung sei, ist bezeichnend, denn er deutet doch nur auf einen Wert der Sache nach außen, nicht auf eine Befriedigung im Inneren hin. Ihre neuesten Sittenschilderer Bulwer und Boz zeichnen nie, so reich sie an Bildern des häuslichen Zustandes sind, die feineren Zauber der ehelichen Liebe, die tieferen Konflikte, die im Hause nur entstehen können, wenn es den ganzen Menschen absorbiert, den Schmelz, der über dem Verhältnisse der Eltern zu den Kindern haucht, sofern es in seiner zartesten Gefühligkeit vorhanden ist. – Und die Romanschreiber, wenn sie so große Talente sind, wie die Genannten, geben über die Struktur der Sitte immer deshalb die beste Auskunft, weil man bei ihnen den Blick der Beobachtung gleichsam auf der Tat ertappt, während die absichtlichen Darsteller von Zuständen mehr befangenen Zeugen gleichen. – Wo es nun glücklich zugeht in den Geschichten jener Autoren und derer, die sich ihnen anreihen, da treten doch nur[55] gemeinsame fröhliche Mahle, Partien, Spiele als Exponenten des Glücks auf, ohne daß sich an diesen äußerlichen Dingen etwas tiefer Geistiges entwickelte. Wo das Unglück kommen soll, wird es durch Schulden, Banqueroute, Verführer, Entführer, heimliche Bösewichter vertreten. Eugen Aram ist im Grunde nichts weiter als ein gemeiner Mörder, und dennoch fähig ein schönes edles Mädchen zum Verderben zu fesseln. Eine solche Figur, nach Deutschland übertragen, würde uns kaum glaublich erscheinen. Boz läßt sogar seinen Narrn Snodgraß und seinen Feigling Winkle in den Hafen des häuslichen Glücks einlaufen, ohne daß eine Ironie über die Zukunft der Verhältnisse angedeutet würde. – Dagegen wird ein Engländer nicht vermögen, aus dem Zimmer eines Gastwirts und aus dem Munde eines Gastwirtssohnes so tüchtige und erhabene Worte tönen zu lassen, wie sie Hermann zu Dorotheen spricht, nachdem er die Geliebte erlangt hat; die Kasuistik der »Wahlverwandtschaften«, ganz erwachsen auf den feinsten und unlösbarsten Konflikten der Familie, wird ihnen immer verschlossen bleiben, und schwerlich imaginieren sie auch je ein Verhältnis des romantischen Lichtes, wie das des Herzogs zu Eugenien ist. Ich habe meine Beispiele absichtlich nur von Goethe entlehnt, weil er der größte Dichter der deutschen Familienempfindungen ist, sie am klarsten widerspiegelt.

Ich glaube, daß die Familie nur in Deutschland zur höchsten Gestalt sich durchbildete. Und es wäre auch schlimm, wenn dem nicht so wäre, denn eine geraume Zeit hindurch war sie das einzige, was die Nation besaß, und noch zur Zeit ist sie wenigstens das einzige, was einer abgerundeten Bildung am nächsten blieb, während alles andere sich erst bei uns im Werden befindet. – Die Basis nun, über welcher sich das eigentümliche deutsche Familiengefühl erhob, ist das Urgefühl der Germanen, daß in dem Weibe etwas Heiliges sei. Aus diesem Urgefühle entsprang in späteren Zeiten eine durch Reflexion vermittelte Ahnung, daß auf das, was von dem Weibe in seiner innersten und ihm eigensten Tätigkeit[56] ausgeht, nämlich auf das Kind, auch etwas von dem Heiligen der Hervorbringenden übergehe.

Beides, das Urgefühl und die abgeleitete Empfindung, haben, wie ich glaube, die beiden unterscheidenden Kennzeichen der deutschen Familie hervorgebracht; Kennzeichen, die nur auf deutschem Boden selbst ungemischt blieben, weil die auswandernden germanischen Stämme in der Fremde störende Eindrücke empfingen. Beide Kennzeichen treten hervor an dem Manne und Weibe selbst, und sind auch nur an diesen zu suchen, weil nur sie die Faktoren der Familie bilden, welche als bestimmende Pole auf das übrige, was zu ihr gehört: Kinder, Hausgenossen, Dienende, einwirken.

Das erste jener Kennzeichen ist, daß, wie ich glaube, nur bei uns die Ehe als Sakrament geknüpft wird, nicht im Sinne der katholischen Kirche, sondern im menschlichen aber eben deshalb göttlicheren Sinne. Das Weib weiß, wenn das Gefühl nach ihm verlangt, daß in dem Manne, wenn auch in einem noch so späten und abgeblaßten Reflex die germanische Urempfindung rege sei, daß er in ihr, wo nicht mehr ein Heiliges, weil dies zu hoch für unsere Zeiten klingen möchte, doch ein Unbeschreibliches und Unaussprechliches suche und sehe. In dieser neuen Lage nun schlägt ihre Seele das Auge auf, sie war, bis die Liebe sie erfaßte, eigentlich noch nichts, in jener Empfindung des Mannes aber erkennt sie ihre höchste Würde und ihren vornehmsten Adel. Überströmend von Dankbarkeit erfährt sie nun in ihrem Bewußtsein, daß der, welcher sie so erhöhte, ja das Werk Gottes eigentlich an ihr erst ausschuf, notwendig Gleiches in sich trage, da nur das Gleiche das Gleiche erkennen kann.

Beide vereinigen daher in der Liebe nicht abgesonderte Geschmacksrichtungen, Neigungen, geistige oder gemütliche Sympathien, sondern die Personen, d.h. das ganze, ewige, unberechenbare Wesen des Menschen. Nur in dem Glauben an eine solche Vereinigung aber kann das Wort der Treue noch mit gutem Gewissen vor dem Altare ausgesprochen werden. Es sagt aber nicht etwa: Ich will dir eigensinnig anhangen, auch wenn ich erkennen sollte, daß du nicht zu mir gehörst, daß deine Schwächen und Fehler untragbar[57] sind; sondern es will sagen und bedeuten: Weil ich dich als ein ewiges und unberechenbares zu dem Ewigen und Unberechenbaren in mir gehöriges Wesen erkannt habe, so kann nie ein Fehler noch eine Schwäche an dir groß genug sein, um den Glauben zu zerstören, daß du aus dem unerschöpflichen Schatze deiner Person alles Schlimme vergüten könnest und werdest, entweder von dir selbst oder mit Hilfe meines Glaubens und meiner Liebe. – Dies ist das Wesen der deutschen Ehe, es folgt aber aus ihm, daß bei uns auch die Ehe zu der Liebe hinzutreten muß, soll sie von dem Zweifel, sie könne doch nur eine Grille, ein Anstoß, ein Irrtum, eine Leidenschaft sein, ausgeheilt werden. Denn niemand darf sich jenen durch nichts anderes willkürlich zu ersetzenden Prüfungsmoment vor dem Antlitze Gottes unterschlagen, will er im Strome deutschen Lebens verbleiben.

Das zweite unterscheidende Kennzeichen unserer Familie ist, daß die Eltern in dem Kinde gleichfalls die Person erkennen und es danach behandeln. Weil ihnen nämlich kein Rausch der Sinne die Verehrung ihrer Personen übertäuben konnte, so erkennen sie auch mit der Geburt des Kindes, daß eine Person geboren sei, und dadurch wird das neue Verhältnis sogleich über den tierischen Instinkt hinweggehoben. Es geschieht dies, da sie ja wissen, daß neben den sinnlichen Kräften die Personen ihm das Dasein gaben. Sie betrachten es daher, sobald sich nur der leiseste Anknüpfungspunkt für diese Überzeugung darbietet, als ein in die Fortsetzung der ideellen Menschheit eingeordnetes Wesen, als zur Zukunft des Menschengeschlechts gehörig und sich verpflichtet, es für diese Zukunft zu erziehen.

Zwischen beiden göttlichen Momenten, nämlich zwischen dem Sakramente der Treue und dem Sakramente der Hoffnung, wächst und quillt unsere Familie, denn mit Mann, Weib und Kind ist die Familie binnen ihrer notwendigen Grenzen vollendet. Es folgt daraus, daß während sie bei anderen Völkern mehr Mittel zum Zweck oder äußere Veranstaltung ist, sie bei uns selbst den Zweck bildet und alles Äußerliche in ihr dem Innerlichsten eingeschrieben und aufgetragen erscheint. Es folgt ferner, daß der Deutsche[58] über sie hinaus sich schwerlich einen Zweck setzen kann, denn zu allen Zeiten kam es dem Volke in seinen besten Repräsentanten nur darauf an, daß diese sich als Person hatten und besaßen und folglich auch andere als Personen erkannten, in dieser Erkenntnis aber sie hatten und besaßen. Mithin wird die deutsche Familie die unselbstische, erweiterte Person. Endlich folgt, daß, wenn gesagt worden ist, auf den Familien ruhe der Staat und solle darauf ruhen, dies für uns nur folgende Bedeutung haben kann: Staat und Familie sollen auch bei uns in das engste Bündnis geschlungen werden, so jedoch, daß der Staat das notwendige, ehrwürdige und heilige Mittel bildet, um das Familiendasein zu erschaffen, freilich nicht das abgelegene und kümmerliche, egoistische eines Pfahlbürgers, sondern das sich in reicher Liebe mitteilende, stattliche, selbstvergessene. Keinesweges aber kann jemals das Umgekehrte bei uns gelten. Nie kann die Familie das leblose Gerüst werden, auf welchem man in die luftige Region eines unter solchen Voraussetzungen auch gar nicht bei uns möglichen politischen Lebens emporklimmt.

Von den Beziehungen zum Staate aus soll die Familie entledigt werden aller Kleinlichkeit, in den Staat hinüber soll dagegen der Mann alle Wärme tragen, die er in seinem Hause empfing, und für alles, was er da draußen leistete, soll ihn wieder die Blüte des Hausgeistes belohnen. Diese wäre wohl die richtigste und schönste Wechselwirkung zwischen germanischem Staat und germanischem Hause, und auf solche Weise könnte sich ein modernes Rittertum erzeugen, weniger phantastisch und glänzend als das der Tafelrunde, aber tugendhafter, solider und vor allen Dingen aufrichtiger als jenes. Wenn die deutsche Hausfrau die Dame würde, um deren Dank der Mann im Turnier des öffentlichen Lebens seinen Speer verstäche, so wäre jenes Rittertum eingesetzt.

Das Grundwort der deutschen Familie bricht in folgenden Äußerungen hervor. Zuvörderst sind nur in Deutschland die Ehen möglich, welche man heilige nennen darf. Unter diesen verstehe ich solche, in welchen die Liebe bis zur Auflösung durch den Tod dieselbe bleibt, mag auch Gewohnheit, Krankheit, Alter allen Sinnenreiz zerstört haben. Ich unterscheide[59] von denselben die sogenannten zufriedenen oder glücklichen, in welchen sich, wie man anzugeben pflegt, die Liebe in Achtung oder Freundschaft umwandelt, und deren auch bei anderen Völkern viele vorkommen mögen. Sondern in den Ehen, welche ich meine, dauert bis in die spätesten Jahre die Hingebung des ganzen Menschen an den ganzen Menschen fort, frisch, wie am Hochzeitsmorgen, nur freilich, daß das Wesen eines Greisen und einer Greisin anders ist, als das von Jüngling und Jungfrau. Eben, weil nicht das Hinfällige und Vergängliche, sondern das Ewige und Dauernde sich miteinander vermählte, besteht das Gefühl in seiner Wesenheit, ohne Umstimmung und Verwandlung fort. Ich scheue mich nicht, unter den Paaren, von welchen zu reden erlaubt ist, weil öffentliche Schriften von ihrem Zustande Zeugnis abgelegt haben, Voß und seine Ernestine zu nennen; denn der alte Sauertopf geht euch nichts an, sondern die unbedingte Ergebung der beiden Personen aneinander bis in das hohe Alter. Will man Klopstock und Meta nicht gelten lassen, weil sie zu kurz verbunden waren, so werden doch Niebuhr und Solger erwähnt werden dürfen. Wie manches Beispiel ließe sich von ungenannteren Menschen anführen, wenn es schicklich wäre, Privatverhältnisse an das Licht des öffentlichen Tages zu ziehen!

Charakteristisch ist ferner das Verhalten der Eltern zu den Kindern. Man sorgt in andern Ländern auch für seine Nachkommenschaft, man erzieht sie, man gründet ihr Schicksal. Aber bemerklich bleibt dort, daß der Zustand der Alten als das Normale, wenigstens als das Positive angesehen wird, in welches das junge Geschlecht hineinzuwachsen habe, weshalb denn die Erziehung etwas von der Dressur behält und meistenteils durch Mietlinge ausgeführt wird, durch welche sie auch auszuführen ist, solange sie jener Region zugehört, oder mindestens angenähert verharrt. Dagegen ist bezeichnend für unsern Zustand, daß deutsche Eltern in den Kindern die Zukunft zu erblicken pflegen, und zwar die Segnungen derselben, welche ihnen versagt blieben. In unsere Familie haben sich alle Geister des Ahnungsvollen, ohne welches der Mensch nicht zu leben vermag, geflüchtet. Wie nun[60] die Ehe dem Deutschen das Ahnungsvolle in Gegenwart und Vergangenheit zuhaucht, so schimmern ihm ferne schöne Lichter vorwärts in der Kinderwelt. Ich werde später zeigen, auf welche Weise ein großer Mann dieses Zukunftgefühl von der Jugend im allgemeinen aussprach, für jetzt genügt mir zu sagen, daß bei uns der Vater im Sohne denjenigen zu sehen pflegt, der es, »da den Kindern jetzt alles viel leichter gemacht werde«, weiter bringen solle, als der Vater, daß die Mutter die Tochter vor den übeln Erfahrungen, die sie gemacht, bewahrt zu sehen wünscht. – Nirgendwo sind die Beispiele noch so häufig von Eltern, die sich auf das sorgfältigste selbst mit der Erziehung der Kinder beschäftigen, als bei uns, obgleich allerdings auch das Pensionswesen und die Abrichtung durch Fremde um sich gegriffen hat. Nirgendwo anders wurde mit Erziehungssystemen mehr hantiert, an der jungen Pflanze mehr experimentiert um ihre verborgene Gabe und Frucht durch Gärtnerkünste zu entdecken, als bei uns. Und so ist denn auch die echt deutsche Unart, daß die Eltern in den Kindern oft schon Genies sehen, wenn sie noch in den Windeln liegen, doch nur ein geiler Schuß und Trieb aus edler Wurzel. Endlich: Es gehört bei uns zu den Ausnahmen, wenn das Weib anders als durch Neigung, oder durch das, was sie wenigstens dafür hält, Mitgründerin der Familie wird, während bei den südlichen Völkern an das Mädchen überhaupt keine Frage über ihr Los ergeht, die Demoiselle aber durch den Ring sich nur zu allen Freiheiten der Sozietät beglaubigen und die Miß Regierungsrechte erwerben will. Das Weib ist nun aber das geborene Genie in der Liebe und in dem Verhalten der Menschen gegen alles, was sich auf Neigung, insbesondere auf weibliche bezieht, legen sie unwillkürlich Geständnis ab, wie sie von der Person und ihrem schrankenlosen Dürfen denken.

Fassen wir das Betrachtete zusammen, so ergibt sich folgendes. Die deutsche Familie ruht auf dem Gefühle von der Person; sie baut sich auf und zeugt sich fort durch die Darstellung von Personen, nur als Personen treten Freunde, Hausgenossen und selbst Dienstboten an sie hinan und sie verbindet sich mit ihnen nur als mit Personen. Durch diese[61] Tatsache wird auch nur die Figur des deutschen Hausfreundes möglich, oder der Freundin des Ehegatten, wie sie bei uns vorkommt. Während anderer Orten der Freund im Verhältnis zur Frau stets der zweideutigste Charakter ist, und die Freundin die Frau ersetzt, so werden bei uns nicht selten Freund und Freundin unschuldige Ergänzungen der Personen der Ehegatten, wenn denn doch der Blick der Erfahrung deren Mängel aufweiset. Die Fälle sind in Deutschland nicht selten, in welchen die Frau mit dem Geiste und Gemüte eines fremden Mannes eine innige Verbindung knüpft, ohne daß eine Verletzung der ehelichen Treue, weder der physischen, noch der moralischen stattfindet, und dasselbe läßt sich umgekehrt nach der anderen Seite hin behaupten. – Im allgemeinen ist das deutsche Haus ein beseeltes. Die Beseelung durchdringt es, welche überall auflebt, wo nicht Egoismen, Absichten und Berechnungen miteinander in Wechselbeziehungen treten, sondern die Personen. Der Ausdruck jener beseelten Wechselbeziehungen aber ist die Liebe. Die Liebe soll sich im Hause verkörpern und Fleisch gewinnen, oder mit andern Worten dasjenige, was Christus meinte, wenn er vom Himmelreiche sprach.

Man wird lachen und rufen: Wer übertreiben will, der übertreibe recht, damit der Übertreibung ihr Recht geschehe! – Geduld. – Meint ihr, daß ich die Kehrseite nicht kenne? – Ihr würdet mich mit dieser Meinung für gar zu unschuldig halten. Ich kenne den deutschen geblümten Schlafrock, das Landesprodukt, die gelben Pantoffeln, die weiße baumwollene Nachtmütze; den Born vaterländischen Tiefsinns, den Bierkrug und die Stütze des Charakters, die Tabakspfeife, kenne ich. Ich weiß von vielen zärtlichen Ehepaaren, die einander durch gegenseitiges Verhätscheln bis zur Nichtigkeit abschwächten, ich habe die Träne im Auge der gefühlvollen deutschen Frau gesehen, womit sie ihre kleinen Listen durchzusetzen wußte, und das Bewußtsein der höheren Mission blieb von mir nicht unbelauscht, in welchem sich der deutsche Mann zu Tische setzt, wenn ihm seine Gattin ein Leibgericht hat kochen lassen. Ich hörte die selbstgenügsamen langweiligen Ermahnungen der vortrefflichen Eltern an ihre[62] guten Kinder, ich sah die Tücke der Kleinen, die schon mit Empfindungen Komödie zu spielen wußten. Das Genie der Haussöhne im Schuldenmachen sah ich, und die edle Prüderie edler Töchter bei dem harmlosesten Scherze, woraus erhellte, daß ihre Keuschheit, von verständigen Müttern unterrichtet, gar wohl Bescheid wußte. Es ist mir auch bekannt, daß hier und da Sitte ward, der Braut an ihrem Ehrentage einen Witwenkassenschein in den Trousseau zu legen, damit doch ja auch dann die ersprießliche Prosa nicht fehlte. Den ganzen Zettel- und Bettelkram der deutschen Familie, ihren blühenden Jammer und die empfindsame Hausheuchelei kenne ich also auch so ziemlich und habe hin und wieder darüber selbst gespottet. Endlich weiß ich, daß auch bei uns viele Geld- und Vernunftheiraten geschlossen werden.

Aber um erst einmal bei diesen stehenzubleiben; so pflegen sie dann auswärts auch reine contrats de mariage zu bleiben; in Deutschland aber ist der Fall gar nicht selten, daß der Altvaterspruch wahr wird: die Liebe komme in der Ehe. – Die einander wie in einem doppelten Blindekuhspiel haschten, nehmen nachher die Binden ab, und erkennen ein menschlich-schönes Antlitz; plötzlich springen Brünnlein des Lebens hervor aus der sandigen Wüste und weil am Ende niemand bei uns ganz hart und herzlos die Ringe wechselt, weil das Bedürfnis und das Gefühl doch tief, wenn auch verborgen, in jedem wohnt, so taut das Eis, in dem man zusammenkam, auf und es wird noch Frühling, wenngleich nur der Nachfrühling, der uns zuweilen im Spätherbst mit einigen Blüten überrascht. Nichts anderes, als der Zug hoffender Ahnung, daß selbst kalte Verbindungen Geschick und Herz zu Ehren bringen können, hat die Stücke der Prinzessin von Sachsen, deren Thema die Vernunftheirat ist, so beliebt gemacht. Denn wahrlich, nicht die lauen Fabeln und die flauen Charaktere dieser Stücke konnten ihnen die Wirkung verschaffen, welche sonst nur die Interessen der Leidenschaft hervorbrachten. Aber jener Zug war es, den die Verfasserin mit Geschick und Konsequenz auszubeuten verstand, ihn würdigten die Deutschen, weil er ihrer Überzeugung gemäß war, und darum sind die Lügen und die[63] Wahrheiten, die Oheime, Fürstenbräute und Landwirte mit Recht auf unserer Bühne einheimisch geworden.

Und nun die Karikaturen der Familie! – Man muß erwägen, daß eben weil die Idee des deutschen Hauses eine sehr große und zarte ist, auch nur hochstehende Naturen sie rein auszuprägen imstande sind, und daß das, was in einem echten Charakter Wahrheit wird, in schwächeren Seelen zu Manier und Heuchelei umschlägt. Man findet zwar in der Manier und Heuchelei, von welcher ich die rohen Umrisse gab, einen Bestandteil von deutscher Bequemlichkeitsliebe und Charakterlosigkeit, aber über denselben hinaus geht doch die, wenngleich falsche Begeisterung für das süße Wohlsein in den engsten Banden, die feste Überzeugung von der souveränen Würde dieser Bande und die Zuversicht, daß außer denselben nichts Besseres und Höheres zu erstreben sei. Mithin also das, was auch die Grundlage der vollkommnen Familie bildet.

Das Komische läßt sich mit dem Moose vergleichen. Siehst du das kleine, dürre, gelbbräunliche, graue oder blaßgrüne Gewirr vom weiten an, so erscheint es dir wie ein alberneinfältiges Spiel der Pflanzenwelt. Betrachte es aber näher. Schau hier ein schlankes Stämmchen, welches sich oben in symmetrischen Blätterbüscheln auseinanderlegt, dort einen gedrungenen Stamm, von welchem verschränkte Zweige pyramidalisch aufsteigen, endlich da eine runde Krone, die durch anscheinend regelloses Geäst entsteht – und du wirst Palmen, Zedern und Eichen im kleinen sehen. Dasselbe Bildungsgesetz wirst du so in diesen Kleinigkeiten drunten am Boden tätig erblicken, wie wenn du um dich und emporsehend die hohen Stämme, die lüftegewiegten Wipfel betrachtest. So wird dir auch dasselbe Bildungsgesetz höherer Natur offenbar werden in den Palmen, Zedern und Eichen der deutschen Familie, und in ihrem Moose. Zwischen jenen Fürsten und diesem Pöbel aber wird dir ein mittleres Gewächs als das verbreitetste erscheinen, nicht erhaben wie jene, nicht verächtlich wie dieses, sondern mäßiger Größe, doch aber groß genug, um von den oberen Lüften noch angeweht zu werden, welche die Kronen der Fürsten umspielen.[64]

War nun aber die deutsche Familie während der Unterdrückung verschieden von der jetzigen? – Ich glaube, ja; nicht dem Wesen, aber der Beleuchtung, der Betonung, der Landschaft nach, in welcher die Gruppe jetzt steht und damals stand. Und diese drei Dinge sind für die Wirkung sehr wichtig, besonders auf ein junges und ungeübtes Auge, welches noch nicht gelernt hat, auch im schlechtesten Lichte, in der mißstimmigsten Landschaft die eigentliche Form der Gruppe zu erkennen.

Um mit zwei Worten anzugeben, wohin ich steure, sage ich, die norddeutsche Familie (denn mit dieser habe ich es immer nur zunächst zu tun, da Süddeutschland sanfter vom Despotismus berührt wurde) hatte während der Unterdrückung absoluten Wert und gegenwärtig nur relativen.

Zuerst von der Gegenwart. Ich habe, wenn ich von ihr rede, die Familien im Auge, welche seit etwa einem Dezennio (ein paar Jahre ab oder zu, tun nichts zur Sache) gegründet worden sind, weil an ihnen sich am unvermischtesten die Eindrücke der Jetztzeit ausprägen. Der Charakter des Friedens, in dem wir seit fünfundzwanzig Jahren leben, ist mehr, als es je in Friedenszeiten vorkam, der des Vermittelns, des Verschlingens des einzelnen in ein Weltganzes. Es gelingt sogar keinem, der aus früherer Zeit herübergekommen ist, mehr, sich rund für sich mit den Seinigen hinzustellen, sich zu isolieren, den Kontakt mit den wirkenden Potenzen abzuwehren; den hartnäckigsten Widerstand bricht endlich doch die Macht der Umstände. Wieviel mehr muß dies in Familien jüngeren Datums der Fall sein. Jene Macht der Umstände ist aus unzähligen Agenzien zusammengesetzt. Einige der bedeutendsten müssen wir angeben und wo es not tut, erörtern.

Mit den Fremden ward nicht alles Fremde vom deutschen Boden vertrieben, konnte nicht vertrieben werden. Aus der schmachvollsten Wirtschaft, aus dem Schleudersystem, welches eine Gewalt, die sich wenig um das Beste des Landes kümmerte, geübt hatte, waren dennoch für tausend und aber tausend Rechte entsprungen, die geschützt werden mußten. Was gegen die Befreiung geliefert und gezahlt worden[65] war, das mußten die Befreiten, oder der befreiende Staat – ersetzen, für die Sache der westfälischen Domänenkäufer sprach nur eine Stimme, obschon man wußte, daß im Durchschnitt da Händel vorlagen, wie sie zwischen einem Bankrotteur und habsüchtigen Wucherern abgeschlossen zu werden pflegen, Einrichtungen der fremden Verwaltung blieben bestehen, oder wurden nur umgetauft, wie denn die verstärkte Federkraft der exekutiven Gewalt, die in einzelnen Zweigen des Regiments für nötig erachtet worden ist, nur auf dem französischen Prinzip beruht. In ganzen Landstrichen dauerten fremdes Recht und fremdes Gerichtsverfahren fort; in anderen wurde beides unter gewechselten Namen nachgeahmt. Endlich wurde in einigen Verfassungsurkunden der Hinblick auf Frankreich sichtbar. Ja, man kann sagen, daß der abstrakte Begriff des Staats, wie ihn die friderizianische Zeit nur erst als Luxus des Geistes gebildet, die französische Revolution aber unter dem Namen des souveränen Volks praktisch gemacht hatte, auch nur durch die Revolution nach Deutschland geschleudert worden ist. Also in vielen Beziehungen ein Mischzustand und gerade in denen, welche zu den Fundamenten der Gesellschaft gehören. Offenbar wäre das reine und ungetrübte Resultat des Sieges gewesen, wenn mit den Fremden auch alles, was von ihnen oder auf ihre Veranlassung gestiftet war, zur Niederlage kam. Ich sage nicht, daß diese möglich war, sondern ich will nur andeuten, welches die Folgen sind, wenn ein Volk so tief herabsank, um sieben Jahre lang unter der Herrschaft eines anderen stehen zu müssen. Die Natur kann sich in einem solchen Falle durch ein Fieber helfen, welches den gröbsten Krankheitsstoff auswirft, aber die Nachwehen des Fiebers bleiben lange: das Zittern der Nerven, die Schwäche, die Unsicherheit des ganzen Befindens; und in diesen Nachwehen schleichen doch noch die Reste des Übels umher. Die Nachwehen unserer Krankheit und des kritischen Fiebers sind nun in der hier bezeichneten Richtung eine gewisse Halbheit, ein Gespaltenes und Doppeltes im Bewußtsein von den öffentlichen Dingen, in den Begriffen von Recht, Eigentum und Besitz. In diesen Regionen sind die[66] Stifter der neueren deutschen Familie sämtlich entwickeltere oder unentwickeltere Hamlete. Und es kann nicht anders sein. Die um das Jahr 1830 Familien gründeten, waren damals durchschnittlich etwa in der Mitte oder gegen das Ende ihrer zwanziger Jahre, sie waren daher zur Zeit der Befreiung ungefähr Zwölfjährige. Ihren ersten Blicken erschien ein starker und mahnender Geist, dessen unzweideutiges Gebot ihnen jedoch in der Skepsis der nachher vor ihnen auftretenden Wirklichkeit problematisch werden mußte. Sie konnten keine Vergleichung der doch im Ganzen erträglichen Gegenwart mit dem früheren traurigen Zustande anstellen; sie verglichen nur die unbedingten Erwartungen einer vollen und großen Nationalität, welche ihre Jugend beflügelt hatten, mit der bedingteren und mäßigeren Erfüllung. Es kam dazu, daß der Kontrast der äußeren politischen Verhältnisse kaum größer gedacht werden konnte. Deutschland hatte seine Waffen bis in das Herz des feindlichen Landes getragen, und wenige Jahre später stand der besiegte Feind wieder tonangebend in den großen Angelegenheiten da, während Deutschland abermals bestimmt schien, in diesen Dingen die Rolle des Zuschauers oder wenigstens des zuletzt Befragten zu spielen.

Nun aber tragen alle Schöpfungen des Menschen das Gepräge der Stimmung an sich, in welcher er schafft. Die neuere und neueste Familie wurde von Zweifelnden, in dem Unbehagen eines kaum lösbar erscheinenden Zwiespalts Befangenen gegründet, und deshalb ist der Moment ihrer Gründung meist weit entfernt gewesen von dem altväterischen Genügen, von der naiven Zuversicht der früheren Zeit. Er erschien vielmehr den Gründern zwar wie ein heiliger, aber doch wie ein dunkeler, nicht wie eine Lösung, sondern wie eine Schürzung des Knotens. Beide Teile glaubten in ihm nicht ihr Geschick zu ordnen, sondern erst recht die kühnste Frage an das Geschick zu richten.

Man wende nicht ein, daß ich der Hamletstimmung so vieler Gegenwärtigen eine zu beschränkte Ursache gegeben habe. Ich werde nachher noch andere bestimmende Motive aufzählen, aber diese sind untergeordneter Art. Der Hauptgrund[67] des geistigen und gemütlichen Schwankens bleibt das Bewußtsein von der Größe der vorangegangenen Arbeit und von der scheinbaren Kleinheit oder unreinen Natur der Ausbeute. Man wende ferner nicht ein, daß ja doch gar manche durch die Fortdauer der fremden Nachwirkungen im Vaterlande, oder durch die politische Schwäche Deutschlands in ihrem Empfindungskreise kaum berührt zu sein scheinen. Die unbewußten Eindrücke sind im gesellschaftlichen Körper oft die mächtigsten, und er hat ein noch zärteres Gemeingefühl, als der Organismus des Leibes, in welchem an keiner Stelle eine Affektion sein kann, ohne daß nicht das Ganze irgendwie eine Umstimmung erfahren sollte.

Sonst sagten die Leute, die sich verbinden wollten, zueinander: Du bist mein alles, meine Welt, das Ziel jeglichen Wunsches. Jetzt pflegt der Mann von dem Mädchen seiner Wahl zu rühmen, daß sie ihn verstehe. Und so spricht umgekehrt das Mädchen auch. Dieses Merkwort gehört nun aber recht eigentlich der Freundschaft an, die sich immer auf Objekte bezieht. Denn man kann einander nur über Objekte, über einzelnes verstehen, wenn auch über noch so vieles; es ist durchaus unmöglich, daß der ganze Mensch den ganzen Menschen verstehe, vielmehr gibt es für das Verständnis da immer einen Bruch, nur aufzulösen durch die Sehnsucht quand même. Die Liebe hat eine leise Schattierung von der Freundschaft angenommen, die Ehe daher, der Keim und Ausgangspunkt der Familie, etwas von ihrem universellen Gehalte eingebüßt. Denn die Freundschaft läßt mancherlei, ja sogar oft sehr vieles neben sich zu, die wahre Liebe duldet eigentlich nichts Zweites in der Seele.

Die Journale! – Wer zählt sie, wer schälte nicht die meisten wegen ihrer Oberflächlichkeit, Perfidie, Petulanz? Und wer entzöge sich gleichwohl dem Einfluß des alles durchdringenden Elementes, welches von der Schnellpresse zu einem früher unglaublich gehaltenen Grade der Expansion gesteigert, einen jeden anweht und ihn zwingt, aus demselben einen Teil seiner Respiration zu nehmen? Dieses Element, eine neue Art von Gas, würde sich ungefähr so beschreiben lassen: Auf Treue und Glauben annehmen das,[68] was eigentlich erlebt und erschaut werden muß; Studien, die man selbst nicht zu machen imstande ist, durch andere für sich anstellen lassen. Ich zweifle, daß die eigentliche Natur öffentlicher Verhandlungen und Hergänge anders als durch den unmittelbarsten Anblick erkannt werden kann; gewiß ist, daß nur der mit der Wissenschaft, mit der Kunst, mit der Poesie in ein lebendiges Wechselverhältnis tritt, welcher zu den Quellen selbst schöpfen geht. Wie wenige haben zu jenem Anblicke die Gelegenheit, zu diesem Gange, der ein stiller, angestrengter, oft wiederholter sein muß, die Muße! Dennoch sind die Forderungen an jeden so gestellt, daß er über alles eine Meinung haben soll und bei Gelegenheit auch genötigt ist, sie zu äußern. Die wunderbarsten Ansprüche auf Polyhistorie sind rege geworden. Wer darf heutzutage nur im gewöhnlichen Sinne für unterrichtet gelten, wenn er nicht in mehreren Dingen zugleich Bescheid zu wissen wenigstens vorgibt, als die sonst im Kopfe eines Gelehrten beieinander Platz hatten? Der Heroismus aber, Ignoranz vielleicht noch größeren Ignoranten gegenüber einzugestehen, ist schon ein bedeutender; er darf nicht vielen zugemutet werden.

Das Bedürfnis universeller Scheinbildung, hervorgegangen aus dem Gären und Arbeiten der Zeit, befriedigen nun die Journale. Es läßt sich der Beweis führen, daß ein sogenannter gebildeter Mann der Gegenwart die Mehrzahl der Dinge, über welche er sich unterrichtet anstellt, nur aus Journalen, oder aus dem, was ihm andere aus Journalen erzählten, hat und haben kann. Freilich wird dies nicht leicht jemand Wort haben wollen, dennoch aber ist es so, und zwar ganz einfach deshalb, weil der Tag viel zu kurz sein würde, um die Kunden selbst dem sogenannten Wissenden darzureichen; den Mangel dessen, was erlebt werden muß, wenn gewußt, noch gar nicht in das Beweisverfahren mit hineingezogen.

Die Journale sind also eine gewaltig wirkende geistige Potenz. Man darf sie nicht schelten, denn sie haben sich nicht selbst gemacht, sondern die Zeit machte sie, man kann ihren Geist aber auch nicht loben. Sie bringen immer nur Surrogate der Wahrheit, des Erkennens, Erfahrens. Manche sind[69] gegründet worden in der redlichen Absicht, selbstständig, belehrend, frei zu sein, eine Zeitlang blieben sie diesem Vorsatz treu, endlich aber scheiterte er dennoch an der Unlösbarkeit der Aufgabe, das Schwere mundrecht zu machen, und selbst die Besten schlugen daher auch um in das Appretieren, in den Anschluß an gewisse Schulen oder Parteien.

Nun aber fühlt sich kein strebender Mensch (denn die ganz seichten Köpfe lasse ich aus der Rechnung hinweg) dauernd von Schemen und Klängen befriedigt, oder von Resultaten angesprochen, zu denen ihm die Vordersätze fehlen. Es ist ein unabweisliches Verlangen seiner Natur, den Dingen selbst in das Antlitz zu schauen, Ordnung und Zusammenhang in seinen Vorstellungen zu stiften. Jenes Nachsprechen auf Treue und Glauben ermüdet ihn bald, ekelt ihn nachher an. Gleichwohl bleibt er, wenn er im Strome sich oben halten will, außerstande, durch eigene Kraft zu schwimmen. Doch wieder muß er immer und immer des erborgten Korkgürtels sich bedienen. So entsteht dann ein ganz eigenes ödes Gefühl, welches die Unruhe in der Seele vermehrt. Der geheime Grund, weshalb viele gegenwärtig die Falte des Mißmuts noch vor der Runzel des Alters an der Stirne zeigen, ist, daß sie sich im stillen den geistigen Forderungen, die sie auch an sich ergangen glauben, nicht gewachsen halten, wissen, wie übel es um die Mittel stand, welche sie zur Ausfüllung der Kluft wählten, und verzweifeln, auf eine redliche Weise des Materials habhaft zu werden. Es existiert jetzt eine weitverbreitete Gesellschaft empor sich Schraubender und Emporgeschrobener, deren Zustand fast an den frevelhaften Rausch und an das ernüchterte Elend der Opiumesser erinnert.

Noch tiefer greift das Reisen in den Zustand der jetzigen Menschen ein. Sonst, nämlich vor etwa dreißig bis vierzig Jahren wurde zwar auch gereist, indessen gehörte es für die Mittelklassen zu den Ausnahmen, und wo es da stattfand, wurde es durch Geschäft, bestimmte Zwecke oder durch eine besondere Eleganz des Geistes und der Verhältnisse herbeigeführt. Jetzt ist das anders. Daß jemand zu Hause[70] bleibe, gehört zu den Ausnahmen; daß alles, was nur die Mittel erschwingen kann, welche die neueren Erfindungen so sehr herabgesetzt haben, sich jährlich oder in nicht viel längeren Zwischenräumen über hundert deutsche Meilen wenigstens fortbewege, bildet die Regel. Die Minderzahl unter diesen Reisenden sind Geschäfts- oder Zweckreisende, die große Mehrheit reist, um zu reisen. Die Figur des reinen Reisenden, oder des Reisenden schlechthin, welche sonst nur bei den Engländern vorkam, ist seit dem Beginn der Friedensperiode nun auch reichlich nach Deutschland übersiedelt worden.

Sie reisen um zu reisen. Sie wollen der Qual des Einerlei entfliehen, Neues sehen, gleichviel was? sich zerstreuen, obgleich sie eigentlich nicht gesammelt waren. Ist diese Wanderlust zu schelten? Auch nicht. Sie ist natürlich und zum Teil wenigstens Nachwirkung der politischen Stürme. Napoleon hat die Völker einst zueinander spazieren geführt, das mußte aufhören, die Reisen der einzelnen sind aber gewissermaßen die leisen äußersten Kreise der einst so gewaltig im Mittelpunkte erregten Flut. Ich muß überhaupt hier bemerken, was für viele Stellen meiner Schilderung gilt. Montaignes Spruch soll mir auch zustatten kommen: »Ich will nicht belehren, ich erzähle.«

Die Folgen der Reisemode erzähle ich denn so. Man hat wohl gesagt, daß in der Fremde das Heimische dem Menschen doppelt teuer werde; indessen ist dies doch nur für kurze Zeit der Fall, und die eigentliche Wirkung häufig gewechselten Bodens bleibt doch die in steigender Progression fortschreitende Neigung zum Wechsel. Reisen erweitern wohl den Sinn, aber sie erkälten ihn auch; sie sind wie ein starkes Reizmittel, welches für den Augenblick eine große Erschütterung hervorbringt, die dann eine nur um so tiefere Erschöpfung der Kräfte nach sich zu ziehen pflegt. Man sollte Reisen immer nur als Belohnungen sich verstatten, nur in der vollkommensten Harmonie mit sich und seinen Umgebungen darf der Scheidende ein Pfand der Versicherung sehen, daß den Rückkehrenden das Haus nicht unlustig ermüden werde. Sie als Mittel der Herstellung von Verstimmungen[71] und Zerwürfnissen zu betrachten, ist sehr bedenklich, meistenteils brechen die Schäden nachher nur noch gefährlicher auf.

Man muß sich wundern, daß noch keiner unserer Novellisten den Charakter des Reisenden schlechthin, des reinen Reisenden aufgefaßt, die Situationen, welche er veranlaßt, ergriffen hat. Der Reisende ist durchaus Egoist, die Begegnenden sind ihm Mittel zu seinen Zwecken. Weil nun aber die Selbstsucht, unverhüllt, einen gar zu schlechten Anblick gewährt, so wird unterwegs eine Art von Scheidemünze der Empfindung ausgegeben, es wird ein gewisser Anteil an den Zuständen, über welche der rasche Fuß hinstreift, ein Eingehen in die Verhältnisse der Gastfreunde dargelegt, wovon das Herz nichts weiß. Wer seinen Worten keine Konsequenz zu geben braucht, kann leicht zartsinnig, großmütig, die Billigkeit selbst sein. Deshalb stellen Reisende oft die gewöhnlichen Umgebungen in benachteiligenden Schatten, das hingeworfene Wort des Vorübergleitenden wird nicht selten zum stillen Samen der Verwirrung. Man sollte daher gegen niemand mit seinen Äußerungen vorsichtiger sein, als gegen den Wanderer, denn jedes Zutraun ist wie des Gärtners Werk. Soll die Pflanze grün aufgehen, so muß der Boden haften, in den ihr Keim gesenkt wurde.

Alle Nachteile des modernen Reisens verschwinden übrigens, wenn ein bestimmter Zweck sich damit verbindet. Dann wird es eine heitere Arbeit, die den Menschen in sich zusammenhält, und ihm die Ruhe der Häuslichkeit sogar süßer macht. Es kann auch eigentlich nicht wohl anders, denn so sein. Welche bessere Natur verträgt wochen- oder monatelang fortgesetztes Vergnügen? Die Menschen sollten daher, wenn sie ihr Bündel schnüren, irgendeine Richtung ihrer Natur befragen, und dieser zu genügen, den Wanderplan entwerfen. Ich für meine Person habe mich immer sehr wohl dabei befunden, daß ich nie gereist bin, nur um zu reisen, Erholung nur in einem bunten Allerlei zu suchen, sondern die Vollendung einer Arbeit, ein Studium, eine Erkundung im Auge zu haben pflegte. Man verliert dann zwischen den fremden Wänden nicht das Gefühl des Daheimseins,[72] Heimat und Fremde fallen nicht auseinander, sondern werden durch einen zarten Faden verknüpft.

Was soll ich noch von den Vereinen sagen, welche auch dazu beitragen, die Menschen über die Grenzen ihrer Privatinteressen hinüberzuführen? Irgendeinem Vereine gehört jetzt jedermann zu, sei es nun ein Kunstverein, eine Gefängnisgesellschaft, eine Aktienkompanie oder sonst so etwas. Die große Bedeutung dieser Assoziationen habe ich in der Einleitung anerkannt, für die Mehrheit der einzelnen geben aber auch sie ihren Beitrag der Beunruhigung. Denn wer das Innere solcher Vereine kennt, weiß, daß immer nur wenige darin die Arbeitenden, mit dem eigentlichen Mechanismus und den Arkanis der Sache Vertrauten sind, und daß an die übrigen nur gewisse allgemeine Resultate gebracht werden, welche sie hinnehmen, ohne bei ihrer Erzeugung tätig gewesen zu sein. Sie sind daher lediglich Konsumenten der Gesellschaft; wie alle Konsumenten aber zu übertriebenen Hoffnungen oder zu unmäßigen Befürchtungen, zu hohen Forderungen und bitteren Anklagen aufgelegt, weil nur die Arbeit das rechte Lot und Blei für das Fahrwasser der menschlichen Dinge in die Hand gibt. Es ist gewiß: Was einer sich nicht erarbeitet, das besitzt er auch nicht; der Verfall des Adels seit dem Untergange des Rittertums beweist diese Wahrheit. Es beweist sie das Einschlummern Spaniens nach dem Entdecken der amerikanischen Minen. – Man könnte sagen, daß wie die Lehre der Journale ein Surrogat des Wissens und der Wahrheit gibt, die Tätigkeit der Vereine vielen Menschen ein Surrogat des eigentlichen Handelns darbiete. Scheinwissen macht nun unsicher, Scheinhandeln aber tötet das Herz der Entschließungsfähigkeit ab. Woher kommt es, daß man sich jetzt zu so wenigen gesunder, gerader, einfacher, aus der vollen Brust kommender Taten versehen darf? Der allgemeine Egoismus, über den man klagt, ist nur die Äußerung der Sache selbst unter anderem Namen, nicht die Ursache. Auch ist das, was man den modernen Egoismus nennt, wenigstens etwas ganz anderes, als was man früher so bezeichnete. Die Güter, welche man allerdings sucht, werden nur zu einem Teile um ihrer selbst[73] willen erstrebt, zum anderen und vielleicht größeren Teile sieht man in ihnen Träger geistiger Früchte, die jeder brechen möchte. Es ist ja eine ebenso allgemeine Klage, wie jene über den vermeintlich herrschenden Egoismus, daß niemand seines Lebens und des Seinigen recht froh werde. Ebensowenig kann Sittenlosigkeit, welche zu anderen Zeiten die Tatkraft abschwächte, an der jetzigen Herzensmattigkeit schuld sein, denn die Sitten sind im allgemeinen keusch, wenigstens viel reiner als sonst. Das Geschlecht, welches da lebt, ist, wenn auch keine Heermannschaft blonder, blauäugiger Germanen, doch nicht ein entnervtes.

Wahrlich, die Zeit bietet ein sonderbares Schauspiel dar in Beziehung auf Energie. Man erinnert sich an ein allbekanntes Distichon von Schiller über den Geist der einzelnen und den ihrer Verbrüderungen. Man könnte jetzt in das Gegenteil hinüberparodierend sagen, daß wo viele zusammenhandelten, ein Riese erscheine, der, wenn man die Handelnden einzeln betrachte, sich in lauter Zwerglein zerkrümele. – Hierin erscheint aber recht eigentlich einer der Punkte, auf welchen der Übergang von der subjektiven zur objektiven Periode stattfindet.

Von diesen Potenzen, denen sich noch unzählige kleinere aus dem weitschichtigen Kulturzustande der Gegenwart anschließen, ist die heutige deutsche Familie gleichsam wie von einer Säure durchzogen und in ihrer festen Textur etwas gelöst. Das Haus hat gewissermaßen einen Gehalt in sich aufgenommen, der es in der Zukunft sicherlich zu einer ihm entsprechenden Form ausweiten wird, vorderhand aber freilich für die von früherer Zeit her gezogenen Grenzen zu groß erscheint und die Wände schüttern, die Balken krachen macht. Es fand übrigens wie in allen Wandlungen der Zustände eine generatio aequivoca statt. Die Verwandlungszeichen draußen, und die im Hause waren ziemlich zu gleicher Zeit da.

Zu den seltensten Ausnahmen möchten heutzutage Familien gehören, die, wenn sie sich auch nur ein weniges, ja nur ein äußerst weniges über die gemeine Meeresfläche erheben, nicht alle Anstrengungen machten, zu den sogenannten[74] geistreichen gezählt zu werden. Das Wort ist durch diese künstlichen Aufschwünge bei den Denkenden so in Verruf geraten, daß man es kaum noch ohne spöttischen Nebengedanken nennen hört. Die »Geistreichen« werden mich entschiedener Spießbürgerlichkeit bezichtigen, ich kann mir aber nicht helfen, zu sagen: So manches Haus, welches ich in ihrer Weise habe sich abmühen sehen, kam mir vor, wie eine Versammlung großer Kinder, welche allen Fleiß und Ernst daransetzten, Seifenblasen in die Luft zu treiben. – Sollte die Familie, wenn der alte beschränkte Standpunkt für sie nicht mehr zu halten ist, wenn die geistige Flut der Zeit in ihr Gefäß aufgenommen werden muß, dies nicht auf eine edlere und gründlichere Weise bewerkstelligen können, als leider häufig geschieht? Ich will zweierlei herausheben.

Unsere Mädchen werden zum Teil noch jämmerlich erzogen. Ihre Seele wird abgerichtet zu allerhand Scheinwesen und Flitter – eine Dressur, die durch die neuerdings erwachte Manie, sie fremde Sprachen lernen zu lassen, nur noch an Breite gewonnen hat – aber sie wird nicht erfüllt mit dem Marke des Wissenswürdigen, mit einigen großen Gestalten der Geschichte und Literatur. Leer bleiben daher so viele und der Ehestand kann, wie er sich meistenteils gestaltet, das Übel nicht heben, denn nun sollen sie repräsentieren, sollen Damen sein, sollen über alles zu sprechen imstande sein, ohne von etwas die Stellung und den Zusammenhang zu kennen. Wäre es denn nun da nicht schön, wenn der Mann dem Weibe noch nachhälfe, soweit dies möglich ist? Würden die Stunden, die sonst in Dumpfheit oder Zerstreuung hingehen, nicht würdig angewendet, wenn der Mann die Versäumnis der Lehrer einbrächte; und erhielte die moderne Häuslichkeit dadurch nicht eine neue, schöne, ihr gemäße Grundlage?

Es ist hier wahrlich nicht auf Hervorbringung gelehrter Karikaturen abgesehen, noch auf eine pedantische Didaskalie. Aber wenn zwei Menschen so eng verbunden sind, wie Ehegatten, so ergibt sich für wohlgeordnete Seelen das natürliche Bedürfnis, den Knoten durch gemeinsames Erkennen, durch Bewundern und Verehren des Trefflichen Hand[75] in Hand, immer fester zu schürzen. Gewiß ist, daß unsere Frauen dadurch nicht weniger Frauen würden, wenn sie, anstatt an elenden Romanen des Tages oder am Spülicht der Frömmelei sich Indigestionen zuzuziehen, ein wenig mehr die gesunden Gedanken großer Schriftsteller in sich aufnähmen, wenn sie für das Gewäsch, welches ihnen das letzte Zeitblatt zuträgt, erführen, wie es etwa auf unserer Erde aussieht, oder auf welche Weise dieser und jener erhabene Mensch sein Leben zu fassen wußte. Ich fechte hier nicht mit Windmühlen, sondern berufe mich auf das Zeugnis der Beobachtenden, ob man nicht und zwar vorzugsweise gerade aus dem Munde jüngerer Frauen jetzt eine Unzahl der oberflächlichsten, absurdesten, den Mangel jeder Grundlage der Bildung verratenden Urteile zu hören bekommt?

Ferner: Sollte es nicht endlich Zeit sein, eine wahrhaft deutsche Geselligkeit wieder zu versuchen, nicht in dem Sinne des Liedes, daß gestern abend Vetter Michel dagewesen sei, sondern in dem Gefühle und mit dem Bedürfnisse, daß es den Zusammenkünften der Deutschen wohl anstehe, wenn jeder aus ihnen eine erhöhte Stimmung und eine Bereicherung des Geistes mit nach Hause bringt? Wäre so viel daran verloren, wenn der deutsche Salon, welcher allerorten die Battants weit offen getan, allgemach wieder geschlossen würde? Ich kenne den französischen Salon nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus Beschreibungen; sind diese treu, so erbaut er sich auf Übereinkünften der Meinung, die in der noch immer leichtesten Konversation von der Welt ausströmen, und es durchweht ihn ein flüchtiges Etwas, der Äther des Pariser Daseins, welches alle Stockungen verflößt, alle Spannungen mildert, die Friktion nur gerade so weit zuläßt, als sie zur Erhöhung des Lebensreizes dient. Außerdem ist der Salon dort nicht selten Herd politischer oder literarischer Vorbereitungen, ein Analogon des englischen Meeting. Alles das ist französisch und national und von allem dem ist nichts deutsch. Wir haben keine vertragenen Meinungen, wir wissen nicht zu konversieren, am wenigsten leicht, selbst unsere Frauen sind darin keine Meisterinnen, und ganz fehlt unserem Salon das oben angedeutete flüchtige Etwas. Es[76] entspringt bei den Franzosen aus dem Bewußtsein, daß ihre Gesellschaft ihr höheres Lustspiel des Lebens sei, daß also alle Konflikte, die in ihr hervortraten, nur künstlerische Geltung haben dürfen und künstlerisch behandelt werden wollen. Zu einer solchen komödienhaften Behandlung sind wir aber viel zu schwerfällig. Wir wollen in unserem Salon auch belehren oder belehrt werden, überzeugen oder uns überzeugen lassen, wir nehmen unsere Antipathien zwischen die vier Wände mit, welche bei unseren Nachbaren die Stätte eines neuen Gottesfriedens umzirken, wir schmollen und grollen, wir haben Ambitionen, wo wir nur Vergnügen haben sollen.

Endlich gehen bei uns nie von den Salons Erfolge aus. Die Literatur treibt ihre Wurzel anderwärts, die öffentlichen Verhältnisse, wo dergleichen sind, entziehen sich ganz der Herrschaft der sogenannten guten Sozietät.

Auf diese Weise hat unser Salon eine ziemlich mißfarbige Gestalt bekommen. Die Präsidentschaft führt eigentlich ein stilles Unbehagen und eine gelinde Langeweile der meisten. Über diesem unfruchtbaren Lettenboden (um bei einer so disparaten Sache aus dem Bilde zu fallen) lagert sich nun eine dünne Schicht fruchtbareren Erdreiches, in welchem aber doch nur die kümmerliche Flora einiger Redensarten, Komplimente, Schmeicheleien, schwerer Dissertationen, die sich zu Gesprächen verdünnen und leichter Gespräche, die sich zu Dissertationen verdicken, verschiedener unterhaltungsbedürftiger, mehrerer flüsternder oder boudierender Damen fortzukommen vermag.

Ich glaube nicht, daß ich zu schwarz gesehen habe. Deutsche Salons habe ich vielfältig kennengelernt und an vielen Orten und von guter Fabrik. Ich muß nun gestehen, daß ich meine geselligen Freuden immer weit ab von dieser Geselligkeit angetroffen habe. Und da dasselbe mir von manchem andern, dessen Urteil ein unbestochenes war, gesagt worden ist, so wird wohl eine Wahrheit und nicht eine säuerliche Verstimmung ausgesprochen worden sein. – Im Gegensatz zu jener läßt sich nun wohl eine echt deutsche Geselligkeit denken, deren Beschreibung, als eines Dinges, welches erst werden soll, freilich schwer ist. Sie würde aber von einem[77] allgemeineren Bedürfnisse, wahlverwandte Naturen zu finden, verbunden mit der Scheu, ohne dieses Bedürfnis mit jemand zu verkehren, ausgehen.

Die Familie der Gegenwart hat also von dem schönen Grundschema der Liebe, welches ich früher aufzeichnete, eine Ausbeugung nach der Rechts- und Verstandessphäre hin genommen. Gewisse Normen treten in ihr markierter hervor und bringen sie einem kontraktlichen oder verfassungsartigen Verhältnisse näher. Alles ist einfacher im Hause geworden; wenn man will, vernünftiger, aber auch nüchterner, kälter. Skandalöse Geschichten hört man seltener als sonst, noch seltener sind die tiefeinschneidenden Zwiespalte der Pflicht und Neigung, die poetischen Irrsale des Herzens, an welchen eine abgewichene Periode reich war, aber dafür hat das eheliche Band selbst etwas Herbes und Phantasieloses bekommen. Die Eltern stellen sich früher als sonst zu ihren Kindern in das Verhältnis älterer Freunde, woraus denn folgt, daß die Kinder noch früher Gedanken der Emanzipation hegen und zwar nicht auf Schuldenmachen und Ausschweifungen, sondern auf alle Befugnisse der Kultur und Zivilisation gerichtete. Bezeichnend für den Geist der Gegenwart ist das häufig in den Familien vorkommende Verlangen nach einem Talente in ihr. Es hat seinen Ursprung in dem Widerwillen gegen die Einförmigkeit des gewöhnlichen Lebensganges, in dem Grauen vor den geheimen Schrecken der Zeit, und in dem richtigen Gedanken, daß das große Talent nicht allein für die Welt, sondern auch für das Individuum die glücklichste Himmelsgabe ist, weil es dasselbe am sichersten durch alle Stürme trägt; übersieht aber, daß es nichts Unglückseligeres gibt, als mühsam gepflegte Halbtalente.

Im ganzen fehlt es der deutschen Familie an dem früheren durchgehenden Genügen in sich selbst, sie wird eingeschränkter als sonst wie eine Freude empfunden, und steht wenigstens nahe daran, wie eine Notwendigkeit erkannt zu werden. Auf mannigfache Weise suchen sich die Frauen zu helfen. Ich schweige von den Schriftstellerinnen, auch von den an der Emanzipationsfrage sich Beteiligenden schweige ich[78] und bringe über diese berühmte Frage nur dahin meine Meinung bei, daß die Frauen dadurch weit weniger die ostensible Absicht, gleiche Rechte mit den Männern zu erlangen, verfolgen, als vielmehr wünschen, auf einem Umwege die Forderung an ein Wiedererwachen wärmerer Neigungen in den Männern geltend zu machen. Das Thema, welches Aristophanes in der Lysistrata zynisch, roh, frivol abhandelte, wird in der Gegenwart geistig, zart, verschämt wiederaufgenommen. Ziehen die Männer in den Krieg, sei es mit dem Speer oder mit Gedanken, so tun die Weiber, als könnten sie für sich bestehen. Sind die Männer verliebt oder nur galant, so denkt keine Frau an Emanzipation.

Nur über die Frauenvereine seien einige Worte vergönnt. Auch sie gehören zu den Symptomen, daß der Frau das Haus zu leer oder zu kalt geworden ist. Nur ehelos schließt in Zeiten, welche einen einfacheren Bildungstrieb haben, das Weib Vereinigung mit ihresgleichen: die Nonne, die Barmherzige Schwester beruht auf diesem Grundsatz. Wenn Mistreß Fry unerschrocken mit dem Evangelium in der Hand unter die Verworfenen ihres Geschlechts zu New-Gate tritt, so ist das der Heroismus einer einzelnen, der wie jede große Tat zur Nacheiferung fortreißen und zur Stiftung einer Komitee führen kann. Wenn im Kriege sich die Frauen verschwistert der Kranken und Wunden annahmen, so geschah es, weil unter so außerordentlichen Umständen eben nicht anders geholfen werden konnte, und wenn in England ein Magdalenenhospital der Prostitution entgegenwirkt, so läßt sich sagen, daß jeder Frau die nähere Berührung mit dieser Pest in ihren persönlichen Umgebungen verfänglich erscheinen mußte. – Wenn aber in ruhigen Friedensjahren allerorten Frauenvereine entstehen, um die Armut zu unterstützen, oder sich des verwaisten Alters anzunehmen, so läßt sich wenigstens eine aus der Sache hervorgehende Notwendigkeit nicht begreifen, welche die Frauen zwänge, auf solche Weise den reingezogenen Kreis weiblicher Individualität zu überschreiten. Vielmehr wird die Frau, in deren Gemüt wirklich alles an der rechten Stelle ist, in deren Seele ein vollkommen ungetrübter Friede wohnt, Werke der Mildtätigkeit[79] in der unscheinbarsten, verborgensten und vor allem in der personellsten Art verrichten, ohne Abkältung durch fremde Medien, weil sie auch solchen Werken ein mit der Liebesfähigkeit wenigstens verwandtes Mitleid, eine individuelle Teilnahme an dem Gegenstande der Fürsorge schenken zu müssen glaubt, weil die rechten Werke bei ihr nur aus solchen Empfindungen aufblühen. Nichts ist der Frau im Gleichgewicht fremder als die sogenannte allgemeine Menschenliebe, nichts steht ihr näher als ein warmes Interesse an dem besonderen Falle. Von ihr gilt in noch höherem Grade, was Pascals Schwester in seiner Lebensbeschreibung von ihm erzählt, wo sie über seine zärtliche Liebe zu jedem Armen, der ihm aufstieß, redet:

»Tous ces discours nous excitoient et nous portoient quelque fois à faire des préparations, pour trouver des moyens pour des réglemens généraux, qui pourvussent à toutes les nécessités; mais il ne trouvoit pas cela bon, et il disoit que nous n'étions pas appellés au général, mais au particulier, et qu'il croyoit, que la manière la plus agréable à Dieu étoit de servir les pauvres pauvrement, c'est à dire chacun selon son pouvoir, sans se remplir l'esprit de ces grands dessins, qui tiennent de cette excellence, dont il blâmoit la recherche en toute chose.«

Wenn also, wie jetzt der Fall ist, es zur allgemeinen Sitte wird, daß die Frauen Milde und Wohltätigkeit gleichsam als Geschäft treiben, so ist dieser Umstand eine Anomalie und läßt auf ein gestörtes Gleichgewicht zurückschließen, wobei wir natürlich die feinsten und der gestörten selbst vielleicht nicht bemerkbaren Irrungen im Auge behalten müssen.[80]

Überhaupt dürfen wir nie vergessen, daß in einer solchen Charakteristik, wie ich sie von der deutschen Familie der Gegenwart zu geben versuchte, die Züge nahe aneinandergerückt sind, zwischen welche des Lebens unerschöpfliche Fülle eine Menge versöhnender und tröstlicher Gestaltungen wirft. Sie ist nur wie ein Grundriß oder eine Charte zum Orientieren bestimmt. Trittst du an das Gebäude hinan, trägt dich das Segel zur Küste, so siehst du gefällige architektonische Linien, sanftes Vorland, romantische Klippen, bebüschte Zungen, wo du auf dem Papiere nur scharfe Winkel, trockene, unschöne Umrisse sahest. – Ich bin durchaus nicht der Meinung, daß unser Familienleben an einer hoffnungslosen Auszehrung deshalb leidet, weil es hin und wieder sich einer gewissen Müdigkeit nicht erwehren kann. Als ein gutes Zeichen, es sei nur in einem Zustande der Durchbildung begriffen, muß angesehen werden, daß der Mangel gefühlt wird ohne den Gedanken an schlimmen Ersatz. Eine heimliche Unruhe, gleichsam ein stilles Nachtwandeln bei Tage treibt die Menschen aus der Enge des Hauses in ferne und fremde Dinge. Diese genügen ihnen dann doch auch wieder nicht, sie fallen von ihnen ab und in das Haus zurück, wo aber die frühere Empfindung sich ihrer von neuem bemächtigt. Ein ziemlich schwindelhafter Kreislauf! das muß man einräumen. Aber die Umgetriebenen empfinden ihn mit schmerzlicher Bitterkeit, sie empfinden ihn als tragische Verlegenheit und wo es bei dem reinen Bewußtsein eines moralischen Übels bleibt, da ist noch Heilung zu erwarten. Noch suchen die Männer nicht fern von ihrem Herde häusliche Freuden, noch haben die Frauen von den Genüssen der Repräsentation und Sozietät, die ich anführte, kaum Genuß.

Der Hinblick auf zwei psychologische Phänomene der französischen und deutschen Frauenwelt schließe diese Betrachtung. Aurore Dudevant und Charlotte Stieglitz stellen[81] Extreme des verwundeten weiblichen Gefühls, des Leidens an unsäglich unerträglicher Häuslichkeit dar. Der tiefste Riß, der in Frankreich und der in Deutschland durch die Familie gehen konnte, ist in ihren Schicksalen abgebildet. Beide mögen unglücklich gewesen sein in einem Grade, den man vielleicht nicht zu ermessen, gewiß nicht zu schildern vermag. Aber Aurore entweicht dem furienwimmelnden Hause, Charlotte stirbt darin. Die Französin weiß sich zu trösten, sie legt Mannskleider an, raucht Zigarren, spekuliert in den Fonds, rächt sich durch Romane von unvergleichlicher Verve und wird eine berühmte Schriftstellerin. Die Deutsche versteht nur sich zu opfern, in einem erhabenen Wahnsinne, für ein Phantom, für ein Nichts allerdings, aber das nimmt dem Opfer seine rührende Größe nicht. Wir haben von dem Fatum unserer Landsmännin zwar keinen ergreifenden Roman als Frucht pflücken dürfen, aber in Charlottens Totenantlitz wie in einem magischen Spiegel, wenn auch etwas fremdartig, doch kenntlich aussehend, die Quelle der Jugend erblicken können, aus welcher sich deutsches Leben immerdar tränkt.


Mit diesem Bilde der modernen Familie in lauter Halbtönen sei nun die Gestalt der Familie verglichen, über deren Dach die Wucht der Weltereignisse stürzte. An ihr war alles noch winklig, barock, kurios; desto zusammengefaßter kann der Bericht von ihr sein.

Weil der öffentliche Zustand von Deutschland seit dem Westfälischen Frieden ein völlig nichtiger gewesen war und auch Friedrich die Kraft und Zuversicht der Menschen nur erst in eine Vorschule genommen hatte, von welcher sie nachher die hohe Schule der Selbsterkenntnis in Not und Trübsal beziehen sollten, so hatten sich alle echten Triebe des deutschen Gemüts in die Familie geflüchtet. In diesem engen Rahmen hatte sich das Gemüt zu jener Enge, Sentimentalität, Bequemlichkeit und zu der mit Isolierungen immer verknüpften wunden Strenge zusammengezogen und zersplittert, abgeflacht und zugespitzt, über die ich nicht weitläuftig werden will, weil man allbekannte Dinge nicht[82] immer von neuem erzählen soll. Ich verweise auf Iffland; er ist der getreueste Cicerone durch alle Schätze und Kuriositäten des damaligen deutschen Familienlebens. Meine Achtung für ihn als Dichter will ich niemandem aufreden; als Quellenschriftsteller wage ich ihn gegen jedermann zu vertreten. Da ist er von unschätzbarer Reichhaltigkeit. Er hat mit einem Auge, welches für die Wahrnehmung des Kleinen recht eigentlich organisiert zu sein schien, gesehen, mit der musterhaftesten Treue beschrieben. Es ist bekannt, wie er sich über die Genesis seiner Arbeiten selbst erklärt hat. »Ich mache«, sagte er, »bei meinen Stücken keinen Plan, sondern mir schwebt eine Figur vor, die mir gefällt, die mich interessiert, zu ihr gesellen sich andere Figuren, es bilden sich Beziehungen und Verhältnisse, ich lasse die Leute reden, wie es ihnen gemäß ist, und bin oft selbst neugierig, wohin die Sache führt, deren Entwicklungen ich im Anfange nicht vorhersehe.« – Diese scheinbar auf ein höchst tadelnswertes Arbeiten deutende Äußerung bezeichnet doch nur in unserem Falle die organische Entstehung jener sonderbaren Stücke, welche weiter nichts sind, als Studien der Beobachtung in dramatischer Form, und welche diesen Charakter nicht haben könnten, wenn der Verfasser den Reichtum seiner Wahrnehmungen durch eine schärfere Fabel geschmälert hätte. Es tut mir wohl, bei dieser Gelegenheit meinen Respekt vor einem viel getadelten Manne auszusprechen. Um ihn endlich im richtigen historischen Lichte zu sehen, muß man ihn nur mit seinem Rival vergleichen, mit Kotzebue. Bei dem ist alles schwammig, verblasen, liederlich; er verläuft sich, wenn nicht in der ganzen Anlage einer Arbeit, was auch oft genug vorkommt, doch jederzeit an irgendeinem Punkte in das völlig Dumme und Alberne, wie denn zum Beispiel einem seiner am besten geführten Stücke, dem »Taschenbuche«, ja doch das Schnupfen der alten Haushälterin als Plattitüde eingeimpft werden mußte. Von diesen Mängeln trifft man bei Iffland nichts an. Seine Region ist eine beschränkte, aber mit dem Durchblick auf eine weite Perspektive, nämlich auf die unzerstörbare Macht und Würde des Hauses; und in jener Beschränkung waltet er durchaus als Meister von der[83] Kanzelleigröße des alten Dallner, bis zu dem vor dem Geheimrat Wallenfeld stumm geigenden Jean hinunter. Jedes weiß er an seinen Ort zu stellen; fehlt ihm auch bei der Planlosigkeit der Fabel die eigentliche Strategie des dramatischen Feldherrn, so ist er dagegen in der Taktik der einzelnen Szenen desto vortrefflicher. Darin ist alles gescheit, ökonomisch, wirksam. Er ist, was Kotzebue nie war, nämlich auch für seine Person ein bedeutender Mensch. Seine kluge Führung der Berliner Bühne unter den schwierigsten Umständen, die Achtung, in welche er sich bei dem Hofe und den höchsten Personen in einer dieser Achtung noch gar nicht vorarbeitenden Zeit ohne niedere Künste zu setzen wußte, seine vornehme und imponierende Erscheinung daheim und auf Reisen – alles dieses rechtfertigt das Urteil, welches ich von mehreren Personen, die zu urteilen fähig waren, über ihn vernahm, und welches mit dem übereinstimmt, was Goethe von Schiller gesagt hat: er wäre überall an seinem Platze gewesen, auch im Staatsrate.

Das Ifflandische Hauswesen Norddeutschlands war nun, als der große Stoß von 1806 das Werk der Zerstörung vollendete, welches die Okkupation Hannovers begonnen hatte, zu einem Gipfelpunkte gediehen. In der Blüte von Gefühl und Empfindelei, von Schroffheit und Weiche, von tüchtigem Verstand und willkürlichster Einbildung, von Übersehen der wichtigsten Dinge und Wichtignehmen der kleinsten Kleinigkeiten erfuhr es jenen Stoß. Er erschütterte die Häuser bis zu den Grundfesten des materiellen Bestandes hinunter. Es ist doch eine Täuschung, daß man ein Vaterland entbehren, oder daß für dieses Vaterland ein Traumbild einstehen könne.

Die Entbehrung hatte niemand gefühlt, das Traumbild, was als Ersatz der Wirklichkeit gegolten, war zerstört, die Familien schwebten also gleichsam in der Luft. Die Not war nicht klein, jeder mußte sich einschränken, viele darbten; gegen diese Bedrängnisse der unermeßlichen Mehrheit verschwand das Wohlleben einzelner, was diese sich allerdings durch schlaues Benutzen des allgemeinen Ruins oder durch gefälliges Anschmiegen an die Fremden zu bereiten wußten.[84]

Die Einwohner des preußisch gebliebenen Staates hatten eigentlich gar keinen Zustand mehr, die neuen Westfalen, welche aus Niedersachsen, Hannoveranern, Braunschweigern, Hessen und einigen alten Westfalen koaguliert waren, hatten einen Halbzustand, ähnlich dem des Zusammenwohnens in einem teuren und dabei schlechten Gasthofe, sie machten zwar untereinander wohl Gasthofsbekanntschaften, aber immer mit dem Gedanken an baldiges Umziehen. Ihre Furcht empfand zwar, daß bei Sturm und Unwetter das löcherichtste Obdach immer noch besser sei, als keines, jedoch erzeugte dieses Gefühl des Einigermaßen-Geborgenseins keinesweges eine Neigung zu dem traurigen Schutzmittel. Am meisten mögen die Sachsen in der alten Weise sich fortgedacht haben, doch kam auch bei ihnen allgemach die Überzeugung zum Durchbruch, daß ein zu mächtiger Freund eine gar bedenkliche Gabe des Schicksals sei. – Die Städte, welche jetzt überall mit den Häusern zu den Toren hinauswandern, verödeten, in den Straßen begann Gras zu wachsen, ein eigenes Haus, wonach sonst jeder verlangt, wurde an vielen Orten wegen der Heereszüge ein Fluch. In meiner Vaterstadt kam einmal ein altes Mütterchen auf das Rathaus gegangen, überreichte der Serviskommission ganz froh, und erleichtert durch ihren Entschluß, die Schlüssel ihres Häusleins und sagte, die Herren möchten nun damit anfangen, was ihnen gut dünke, sie habe aufgegeben, was ihr doch nicht mehr gehört, sondern der Einquartierung.

So war das Gefühl und die Lage, als man sich von der ersten Betäubung erholt hatte, und wieder um sich zu blicken begann. Die Teilnahme an den öffentlichen Dingen, soweit sie sich nicht in Haß entlud, schränkte sich darauf ein, daß jeder in seinem Kreise einzelnes, wie Schulen, Stiftungen, Vermächtnisse, Anstalten, vor dem Angriff der Fremden zu erhalten suchte; der Patriotismus, wenn man das so nennen will, wurde durchaus lokal, korporativ; man sieht, wie die gewaltigste Zerschmetterung hier die ersten Keime des Verbindungsgeistes hervorrief, aus welchem naturgemäß ein erneutes öffentliches Leben der Deutschen nur emporwachsen kann.[85]

Aber die Familie hatte in ihrem innersten Wesen, welches ich in die Beseelung durch Liebe gesetzt habe, durch Napoleons Sieg nicht gelitten. Im Gegenteil, da ihr jede Neigung, sich nach außen zu wenden, nachdrücklich verleidet wurde, da für keinen Besseren in den Beute gewordenen Landstrichen irgendein Antrieb vorhanden war, im Gemüte mit dem Staate anzuknüpfen, so zog sie sich nur um so straffer, krampfartiger in sich zusammen. Was einer in seiner Frau, in seinen Kindern, in den Hausgenossen und nächsten Freunden hatte, das besaß er noch, und außerdem nichts. Das Gefühl dieses Zusammenhangs mit allen seinen Konsequenzen wurde daher noch gesteigert, jedes Haus war nur für sich da, und in dieser Isolierung und gesonderten Existenz tritt uns nun das Hauptunterscheidungszeichen der deutschen Familie während der Unterdrückung, von der jetzigen in ihrer Verflößung nach dem Allgemeinen hin, entgegen.

Man würde aber sehr irren, wenn man glaubte, der Familiengeist habe, durch die Not belehrt, seine Koboldstücken abgestreift. Im Gegenteile: das Wort von Tacitus kam abermals zu Ehren: Inter adversa gliscit superstitio. Alle Abenteuerlichkeiten und Velleitäten prägten sich nur noch schärfer in den gereizten Seelen, welche in diesem Gebiete allein noch ihre Selbstständigkeit fühlten, aus.

Sonderbar mag der Zustand in Preußen gewesen sein. Die Last der Tyrannis war dort noch schwerer, unter ihr aber bestand denn doch der wundgedrückte Staat mit seinem Königshause, seinen Gesetzen und älteren Einrichtungen fort. Dazu kamen die Arbeiten der Wiedergeburt, die bald nach dem Sturze begannen, sowie die Einflüsse Fichtes und Jahns auf ihre nicht kleinen Kreise. Es ist unwahrscheinlich, daß dort die Isolierung der Familie in sich so groß gewesen sei, wie links von der Elbe, der Blick mehrerer Menschen auch aus der Mittelschicht der Bildung mag sich in jenen Gegenden in das Öffentliche gesenkt haben, wenngleich die Städteverordnung, die hier scheinbar den größten Anreiz hätte geben müssen, als ein zu neues Institut in der Tat am wenigsten wirksam war, und nur von einem Teile der Städte als[86] willkommene Gabe empfangen, von einem anderen Teile aber als Mittel beargwöhnt wurde, drückende Lasten durch die Belasteten verteilen zu lassen, und sie dadurch scheinbar leichter zu machen. Jedenfalls aber war das Symptom, welches ich angegeben, dort nur ein schwächeres, und fehlte nicht. Denn die Hoffnungen, wo sie bis zu dem Bündnisse von 1812 bestanden hatten, waren gebrechlich, die Bürde aber war stark.

Eine besondere Äußerung des sich isolierenden Familiengefühls war der Nepotismus jener Zeit. Auch jetzt herrscht der Nepotismus; die Mehrzahl der einigermaßen wichtigeren Anstellungen geschieht in seinem Geiste, aber er wird sorgfältig verborgen und nur dem Kundigeren gelingt es, in jedem Falle seine geheimen Fäden aufzufinden. Damals aber war er etwas Eingestandenes, selten hatten die, welche das Geschick anderer zu gründen imstande waren, Hehl, daß sie vorzugsweise für ihre Angehörigen und Freunde sorgten, ja, es wurde wohl für einen Familienehrenpunkt gehalten, in dieser Weise zu verfahren. Sehr natürlich, wenn man die Lage der Dinge, wie sie war, in das Auge faßt.

Auf das heranwachsende Geschlecht wirkte daher die Familie nicht als Teil eines Ganzen, sondern als rundes Ganzes. Sie erschien ihm als eine Theokratie des Gefühls, als eine ehrwürdige Usurpation. Der Sohn sieht jetzt den Vater in Verwicklung mit so manchem Übermächtigen und dabei Vernünftigen. Früh fängt er daher an den Vater mit Dingen und Personen zu vergleichen. Ein solcher Seitenblick war der damaligen Zeit sehr fremd. Womit der Vater nicht fertig werden konnte, das war das Unvernünftige, Schlechte, durch keine Niederlage ging die Autorität verloren. Die Alten taten und verlangten allerhand, was der erwachende Verstand der Jungen nicht billigen konnte; das erweckte aber nur den stillen Wunsch der Jungen, auch dereinst so selbstständig zu werden, um dergleichen ebenfalls tun und verlangen zu dürfen. Man vergönne mir die Erzählung einer lächerlichen Kindergeschichte. Das Oberhaupt einer Familie hielt Rührei für eine der Jugend schädliche Speise. Sooft sie daher im Hause bereitet wurde, erhielten die Kinder von[87] derselben nur eine äußerst geringe Spende, während der Vater zu sich nahm, so viel ein Mann in seinen Jahren bewältigen konnte. Der Älteste, in dessen lebhaftem Geiste ein frühes Freiheitsgefühl spukte, hatte diese ungleiche Verteilung der Güter auf Erden lange still gekränkt erdulden müssen. Endlich machte sich die Empfindung unter seinen Kameraden Luft. Wir saßen an einem Sonntagnachmittag zusammen und unterhielten uns, vom Spiel ausruhend, von dem, was jeder vornehmen wolle, wenn er erwachsen sein werde. Die Reihe kam auch an jenen Frondeur und dieser rief: »Ich lasse mir dann alle Abende noch einmal soviel Rührei machen, als mein Vater jetzt ißt!« – Ein brennender Durst nach den Studentenjahren, von welchen man den Himmel aller Freiheit sich verhoffte, war ebenfalls der Ausdruck jener Wünsche. Die jetzige Stimmung junger Leute in Beziehung auf diese Periode läßt sich mit dem damaligen leidenschaftlichen Begehren nicht vergleichen.

Aber die geheimen Leiden, Bitterkeiten und Anklagen jenes jugendlichen Alters raubten dem kindlichen Gefühle nichts. Die Eltern standen als der Mittelpunkt der ganzen kleinen Welt da und eine einfache Pietät, eine schlichte Unterwerfung machte sich daher von selbst. Was aber in dieser durch Willkür und Unrecht hätte erschüttert werden können, wurde wieder befestigt durch den Anblick der Not, die jene litten. Die Kinder sahen die Eltern Not leiden, wenigstens Bedrängnis und Verdruß mancher Art, und deshalb wurden sie ihnen Gegenstand eines ehrfurchtsvollen Mitleids. Die Jugend kommt meistenteils gut aus der Hand der Natur, deshalb ist ihr eine zärtliche Teilnahme an den Leiden älterer Personen gar nicht so fremd, wie die Liebhaber der Erbsünde meinen. Nur verschwindet das Mitleid rasch aus der Erinnerung, wenn das Leiden aufhört. Hier aber waren dauernde Bekümmernisse und deshalb bildete sich auch die sympathetische Empfindung stationär aus und gab dem ganzen Verhältnisse eine eigene warme Färbung.

Patriarchalischer, als jetzt, war mithin die Gewalt in der ecclesia pressa des damaligen deutschen Hauses. Auch nach außen machte sich dieser patriarchalische Charakter geltend.[88] War gleich von einer früheren noch größeren Herbigkeit des Regiments schon viel abgeschliffen, so standen doch noch manche Ecken und Kanten da, die jetzt sonderbar auffallen würden. Im allgemeinen galt der Grundsatz, daß die Kinder der Eltern Eigentum seien, und daß ein jeder mit seinem Eigentume schalten dürfe, ohne daß andere Einspruch zu erheben, das Recht besäßen. Nichts Seltenes war es, daß die Eltern, gleichsam um ihr Eigentumsrecht durch untrügliche Zeichen abzustaben, die Kinder durch seltsame Kleidung oder andere Auffälligkeiten auszeichneten. Varnhagen erzählt, daß ihn sein Vater als Türke habe gehen lassen. Dieser Zug gehört nun allerdings einer älteren Periode an. Aber auch ich erinnere mich noch mancher Dinge ähnlicher Art. So wohnten zwei Familienväter als nächste Nachbarn nebeneinander, deren Eigentumseifer gleich groß war, sich aber verschieden äußerte. Der eine hatte fünf rasch aufeinander gefolgte Knaben. Diese ließ er eines Tages plötzlich völlig uniformiert in rote Jacken mit blauen Samtkragen und Silberstickerei und in gelbe Nankinghöschen stecken, in welchem schreienden Putze sie dann wie Jockeis verjüngten Maßstabes auf der Straße umherwandelten. Der andere gestattete an dem Haupthaare seiner Kinder nicht Schere noch Schermesser. Sie mußten ihre Mähnen bis auf die Mitte des Rückens hinabwallend tragen, obgleich keines etwa besonders schönes Gelock führte, sondern alle nur sogenannte Lichtspieße, an denen nichts zu schonen war. Dergleichen würde nun jetzt manche Verwunderung erregen, damals aber unterlag es keiner Zensur.

Freilich gab es auch manches Haus, in welchem die weichliche Erziehung herrschte, über die Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« zürnt, und Tieck in der »Verkehrten Welt« spottet. Es fehlte nicht an diesem und jenem Ehepaare Rabe, welches die »verehrungswürdigen Kleinen« zu den Gebietern des Hauses erhob. Aber auch diese Abirrungen verloren sich nicht aus dem patriarchalischen Gebiete, dessen Kennzeichen darin bestehen, daß der Untergebene etwas tun muß, oder sich erlauben darf, weil der Vorgesetzte, bloß durch sich und seinen Willen bestimmt,[89] ihm gebietet oder verstattet. Es waren schwächliche Despoten, solche Eltern, wie sie aber in größeren Verhältnissen auch vorkommen, wo dann Weiber oder Eunuchen herrschen, ohne daß gleichwohl dadurch der Despotismus in das Repräsentativsystem oder in den Liberalismus umschlüge. Unter solchen Einflüssen entstehen Ungezogenheiten, die Widerstandslust wird genährt, und es kann bis zum offenen Aufruhr kommen; aber alles bleibt in der Sphäre Absaloms und Davids. Der moderne Geist, der die Familie zu durchziehen angefangen hat und dem jetzigen jungen Geschlechte zeitig die Ahnung gibt, daß ihm gegen das ältere Rechte zustehen, daß beide sich unter der Herrschaft eines gemeinsamen Begriffs befinden, war jener verkehrten Welt fremd.

Quelle:
Immermann, Karl: Memorabilien. München 1966, S. 53-90.
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