Lehre und Literatur

[128] Ich habe früher gesagt, die Lehre isoliere die Jugend.

Wenigstens war die damalige Lehre geschaffen, die Jugend jener Zeit zu isolieren.

Die Lehre ist, wenn man von ihr im strengsten Sinne reden darf, etwas Fixes, sie gibt den Niederschlag der Forschung in einem gewissen Stadio der geistigen Gärung. In diesem Sinne existiert jetzt kaum eine Lehre. Das zweifelnde Jahrhundert, welches aus den Scherzen, die Voltaire und Wieland zu ihrer Zeit trieben, eine ernste Arbeit gemacht hat, läßt nirgends einen eigentlichen Abschluß zu. Altertumswissenschaft, Geschichte, Mythologie, Sprachkunde sind in ganz neue Bahnen eingetreten, worin der Auslaufpunkt zwar bestimmt ist, der Siegespfahl aber noch nicht erblickt wird und denen daher die Umgrenzung fehlt. Diese Doktrinen werden auch nicht wie früher von gelehrten Idioten betrieben, sondern elegante Geister sind in ihnen tätig, solche, die eine ästhetische Form besitzen. Unsere große Literatur ist endlich zu allen hindurchgedrungen; an ihr haben sich die frischesten Kräfte heraufgebildet, diese Bildung hat nun wieder jeden auf irgendeine Weise auch zu den Literaturen der anderen Nationen hinübergeführt. Jeder geht auf einem Markte der Geister umher und besieht sich die Ware, anstatt daß sonst mehr im Laden eingekauft wurde. Es gibt keine barbarische Archäologen, Historiker, Philologen mehr, wie sonst, deshalb wird die Forschung der Zeit von einem Elemente des Schönen durchdrungen, oder dieses steht vielmehr über ihr wie ein Morgenrot, welches vielleicht am sichersten den Anfang der Sonne verkündet, der Sonne, die in der Wissenschaft einen neuen Tag schaffen wird. Noch ist es Dämmerung und die Gestalten des Erkennens fließen kritisch ineinander; von dem Lichte jenes Tages beleuchtet, werden sie, eine jede auf ihrem Orte, sich scharf umrissen sondern.[129]

Je beschränkter die Lehre, desto selbstzufriedner der Lehrling. Denn desto gewisser gibt sie ihm den Glauben, daß er in ihr das wahre Wissen für sich und seines Geistes Kraft erobert habe. Desto weiter entfernt sie ihn von dem Zusammenhange mit dem Fortschritt oder mit den Nachbargebieten. Er rundet sich in der Lehre und mit ihr ab, er wird durch sie isoliert.

Die Lehre in jener Drang- und Kriegesperiode war eine zugeschnittene. Große Arbeiten waren zwar geschehen auf dem Boden der Wissenschaften, welche den Geist am meisten erregen, aber sie hatten den gangbaren Lehrbegriff noch wenig berührt, in den sie erst jetzt eingebrochen sind. Die jungen Leute wandelten daher in einer Art von wachem wissenschaftlichem Traume umher, zu vergleichen mit dem praktischen Traume von politischer Größe, dessen Einbildungen so rauh entscheucht worden waren. In den Disziplinen, die vorgetragen wurden, war alles für einen guten Kopf bezwingbar, über den Verhack der Lehrsätze hinaus wurde sein Blick nicht gelockt, er durfte daher meinen, wenn er den Vortrag gefaßt, die Sache zu besitzen. Ich wünschte, das Gefühl, welches damals ein strebsamer Anfänger hatte, schildern zu können. Er glaubte immer zu wissen, woran er war in der Wissenschaft, jedes abgemachte Kompendium wies ihm in seiner Meinung die Rangstufe im Reiche der Geister an. Schwerlich möchte dem jetzigen Geschlechte diese bornierte Unschuld des Erkennens eigen sein.

Zwischen der Schule und der Universität ist eine große Kluft. Den Sprung vom erzwungenen zum freien Lernen macht niemand, ohne daß eine Entwicklungskrankheit ihn befiele. Diese bestand in jenen Zeiten für die meisten, nämlich für diejenigen, welche nicht berufen waren, dereinst als Lehrer der Nation zu glänzen, in dem sogenannten Burschenleben. Es ist untergegangen, weil die Freiheit, deren Surrogat es war, begonnen hat selbst in das deutsche Leben einzusickern. Die Studenten sind auch jetzt noch vergnügt oder dissolut, sie glauben aber nicht mehr, daß ihre Possen und Ausschweifungen in ein System gebracht werden müßten. Das Burschenleben war ein ausgebildetes Nichtstun, eine Tabulatur phantastischer Gesetze von Müßiggängern für Müßiggänger gegeben,[130] ein problematischer Staat, in welchem kindische Tätigkeit, kindische Ehre, kindische Tapferkeit regierten, nebst einiger wahren Freundschaft, Hingebung und Brüderlichkeit. Es war die deutsche Komödie, der nationale Schwank. Die mittleren Köpfe füllten damit ihre Zeit aus, bis das Gespenst des Examens herandrohte und sie zu den Studien scheuchte, zu dem Studium, welches damals für die Mehrzahl noch keinen verächtlichen Nebenbegriff hatte.

Dies war das Brotstudium. Es ist jetzt mit Recht verrufen und wird nur gleichsam illegitim geliebt. Damals galt es als das ganz ehrenvolle, es war schon ein besonderer Luxus, wenn der Jurist, der Theologe, der Philologe sich noch mit Lehrvorträgen außer seinem »Fache« befaßte. Die meisten blieben in der Trainkolonne, die unmittelbar zum Amte fuhr, und empfingen, was auf diesem Wege ihnen als Proviant zugemessen wurde.

Allerdings gab es zwischen den künftigen Lehrern der Nation und den Handwerksköpfen auch noch eine zahlreiche Klasse, welche durch die eigentlich bildenden Disziplinen erregt blieb. Diese Klasse hat einen höchst achtbaren Bestandteil der nachherigen Männer geliefert, sie erhielt aber ihre Impulse auf eine von der jetzigen Art verschiedene Weise.

Die Disziplin, welche dem Geiste vorzugsweise Form und Gehalt geben, sind die Kunde vom klassischen Altertum, die Geschichte und die Philosophie. Über Fichte, den Philosophen, der zu jener Zeit in Norddeutschland der wirkendste war, werde ich später reden. Jetzt einige Worte von der Beschäftigung mit den Alten und von der Geschichte, wie beide damals einfluenzieren mußten.

Faßt man das, was jetzt in vielfältigster Zusammenstellung, Kombination, Konjektur für die Erkenntnis der Alten geschieht, unter einem einfachen Gesichtspunkte auf, so wird man, glaube ich, finden, daß das Forschen sie als Gewächse eigener Struktur auf eigenem Boden ersprossen, verstehen lernen will. Offenbar ist die Überzeugung vorhanden, daß jede Meinung, Auffassung, Form, ja jede Konstruktion, jedes Wort und jeder Akzent der Alten etwas sei, was aus irgendeinem politischen, religiösen, Kultur- oder Lokalmomente[131] ihres Lebens entsprang, und daß gerade die hohe Vortrefflichkeit der uns gebliebenen Denkmäler in dem innigen Zusammenhange derselben mit dem Realismus des antiken Zustandes bestehe. Die Alten wollen uns werden etwas im größten Sinne Abgetanes, in der Zeit Untergegangenes, von uns Grundverschiedenes, eben deshalb aber nun einer ewigen und reinen Betrachtung Gewonnenes. In dieser Überzeugung ist der deutsche Geist den anderen Nationen vorgesprungen; bei den Engländern und Franzosen herrscht noch die ältere Behandlung.

Die erste Stufe derselben war die grammatische Taglöhnerarbeit. In ihr waren die Deutschen stark, und viele kamen darüber nicht hinaus. Meldete sich ein Bedürfnis nach stofflicher Ausbeute, so stillte es der bekannte oder verschwiegene Irrtum, daß modernes Wissen, Denken, Sein eigentlich nur eine Fortsetzung des Altertums sei. Insbesondere gehörte er dem achtzehnten Jahrhundert an, dem alle Belebung durch die Potenzen des Mittelalters ausgegangen war, er wirkte aber auch noch stark hinüber in das erste Dezennium des neunzehnten und in die nächstfolgenden Jahre. Er veranlaßte das Bestreben, unter jenen ehrwürdigen Falten unsere Gestalt, unsere Züge, nur in idealer Verklärung zu erblicken. Ihre Sentenzen sollten für unsere Verhältnisse die leitendsten Normen abgeben; ihre Tugenden waren der unsrigen Vorbilder, ein Gleiches galt von ihren Formen, obgleich sie die Verzweiflung aller Nachbildenden waren. Und da denn doch eine Herstellung ihrer Volks- und Staatseinrichtungen durchaus nicht mehr gelingen wollte, so begegnete man sich wenigstens mit ihnen auf einem allgemeinen Gebiete, welches von ihren Vortrefflichkeiten bevölkert war, denen nur leider die eigentliche Spitze und das, was sie gerade zu ihren Vortrefflichkeiten gemacht, hatte abgebrochen werden müssen.

Es ist zwar richtig, daß Männer, wie Wolf, Schleiermacher, Hermann, welche auf die Erkenntnis des Altertums, als eines in sich abgeschlossenen und nur durch sich zu verstehenden Ganzen mächtig hingewirkt haben, Koryphäen der älteren Periode sind. Allein ihre Erfolge waren doch eine geraume Zeit nur in den Schulen der näheren Anhänger beschlossen,[132] der allgemeinere Durchbruch der realistisch-kontemplativen Behandlungsweise des Altertums ist weit später erfolgt. Man muß Goethe als den Repräsentanten der abgewichenen Zeit in den meisten ihrer Richtungen anerkennen, es kam so ziemlich ihm alles zu, was die Zeit meinte und wähnte; und wo hat er anders über die Alten als in dem ideell-vermittelnden Sinne geredet, den ich für den Ausdruck der früheren Anschauungsweise halte? Wo spricht sich in ihm je die Neigung aus, Probleme, die sie ihm vorlegen, durch realistische Gründe aufzulösen oder mit ihrer Poesie sich auf historische Weise in Zusammenhang zu setzen? –

Nun aber ist freilich klar, daß, sosehr die neuere Betrachtung die wahrere Erkenntnis zeugt, sie doch auch wieder die betrachteten Muster uns ferner stellt. Auf gewisse Weise hatte man von den Alten sonst mehr als jetzt. In allem, was ein Menschengeschlecht zu seiner besten Zeit hervorbrachte, ist nämlich ein allgemeiner Gehalt, der freilich nicht das Höchste der Sache gibt, dagegen den Betrachtenden rascher er wärmt, als die historische Beobachtung. Der allgemeine Gehalt der Alten besteht in dem Festen, Palpabeln ihrer Taten und Gedanken, erkennbar auch ohne das speziellste Wissen von den einstigen Bedingungen dieser Tugenden. Diesen allgemeinen Gehalt brachte nun die ältere Lehre rascher und erwärmender herzu.

In der Geschichte werden immer zwei Methoden einander ablösen: die biographische und die Deduktion aus Zuständen. Denn alles, was geschieht, geschieht durch den Helden und durch das Volk. In dem Volke gärt eine Unzahl vorbereitender Umstände, die der Held durch die Energie seines Wesens zusammenfaßt, sie mit einem Teile von sich selbst vermischt, und sie dann zur Tat macht. Der Held ist nichts ohne das Volk, das Volk nichts ohne den Helden, beide leben in der unlösbarsten Ehe. Christus, der größte Held aller Zeiten, den man hin und wieder als Beispiel angeführt hat, daß eine große Tat ohne irdischen Boden wachsen könne, fand gerade für sein Werk die reichste Gunst der Umstände vor, wenn man, wie billig, nicht auf das augenblickliche Triumphieren des jüdischen Synedriums über ihn ein besonderes Gewicht[133] legt, sondern darauf, daß die beiden entgegengesetzten Gestalten der alten Religion, der Paganismus und das mosaische Gesetz, sich geistig abgelebt hatten, ohne politisch indifferent und streitunfähig geworden zu sein.

Das sind allgemeine Sätze, die zu finden nicht schwerfällt. Das Schwierige aber ist, bei den einzelnen Ereignissen auszufinden und darzustellen, welchen Anteil an ihnen der Held, welchen das Volk gehabt habe? Betrachtet man die Geschichte der Geschichtschreibung, so sollte man fast sagen, eine vollkommene Lösung der Aufgabe übersteige die Grenzen der menschlichen Kraft. Lange galten die Alten auch für vollkommene Muster in diesem Gebiete, in ihren Historikern schien die glücklichste Würdigung der einzelnen und des Ganzen vorgebildet zu sein. Nun aber hat Niebuhr schon ganze Strecken der römischen Geschichte aufgelöset und dem Volke, den Zuständen weit mehr übertragen, als Livius, er hat von der attischen Demokratie, von welcher die Quellen so ungerechte Ostrazismen berichten, ausgesagt, daß Plato unrecht und der Demos recht gehabt habe, und welchen Aufklärungen gehen wir nicht wahrscheinlich noch über andere Geschichtträume entgegen?

Gegenwärtig herrscht unleugbar in der Geschichtschreibung die Deduktion aus Zuständen vor. Man sieht den Helden oft nur schwer vor den Dingen, die ihn gemacht haben sollen, wenigstens wird ihm so viel als möglich abgenommen, um ihn gleichen Maßes mit seiner Zeit zu halten. Hiebei ist nicht die kleinliche Sucht rege, unsterbliche Taten aus erbärmlichen Anlässen abzuleiten, sondern die Überzeugung, daß in der Gemeinschaft ein Verstand und eine Kraft rege sei, die den Eigenschaften der größten einzelnen wenigstens das Gleichgewicht halte. Ranke, unser bester Historiker, zeigt schon durch den Titel, noch mehr aber durch die Art der Abfassung seines bisherigen Hauptwerks, daß ihm in den Zeiten, welche der Reformation folgten, kein über alle hervorragender Charakter vorgekommen sei. Er weiß zwar sich nach der Seite der Individuen zu wenden, am besten gelingen ihm aber doch die Porträts von solchen, welche abwartender oder retardierender Art waren oder an Geschicksverwickelungen untergingen.[134] Ich erinnere an seine Schilderungen von Karl dem Fünften, Philipp dem Zweiten, Johann von Österreich.

Der Hegelianismus ist dieser historischen Manipulation günstig, es scheint aber in ihr auch die Erinnerung an den außerordentlichen Mann sich zu regen, dem keiner seiner Feinde für die Person gewachsen war, und der dennoch dem Volksgeiste erlag. Denn die Geschichte nimmt mehr als jede andere Wissenschaft ihre Stimmung von der Zeit an, in der sie ihr Zeugnis niederschreibt. Dagegen war ihre Lehre früher mehr biographischer Art. Trocken genug verfuhr sie, das ist wahr, wenn sie auf die Entschließungen des Feldherrn, des Ministers, des Königs das Gewicht legte, aus ihnen den Erfolg entspringen ließ, und die Masse fast nur als den Stoff darstellte, in dem oder durch den gewirkt wurde, oder der zu einem unvernünftigen Siege über die glücklose Größe gelangte. Aber sie regte dadurch eben den Trieb an, diesen dürren Rahmen mit freilich oft falsch-lebendigen Vorstellungen auszufüllen. Hin und wieder wurde auch jene atomistische Ansicht laut, die von den Franzosen herübergekommen war, und derer ich vorhin beiläufig gedachte. Die, welche einen Krieg Ludwigs sich an dem schiefen Fenster von Klein-Trianon entzünden läßt, und einem Paar Handschuhe eine große Rolle in der Geschichte der Königin Anna und ihres Feldherrn zuteilt. Aber weit entfernt, daß diese Anekdoten das biographische Element zerstört hätten, hoben sie vielmehr dasselbe nur noch mehr hervor, da sie zeigten, daß selbst von den Launen der großen Weltgestalten die Welt häufig aus den Angeln gehoben worden sei. – Charakteristisch in der Geschichtslehre der damaligen Zeit war auch noch, daß über der ganzen christlichen Zeit der protestantische Blick schwebte. Das Mittelalter wurde als Barbarei, die Reformation als das schlechthin gute Werk, das Papsttum als eine Ausgeburt der Unvernunft und Heuchelei tradiert. Alles dieses versteht sich natürlich nur vom Durchschnitt der Lehre, denn die Nibelungen waren freilich schon früher genannt, die romantische Schule hatte ihre Werke bereits gestiftet, aber populär konnten die Ergebnisse der freien Bestrebungen nicht genannt werden.[135]

In den beiden Hauptnahrungsmitteln des Geistes war es daher leicht, zur Selbstbefriedigung zu gelangen. Die Lehre war eng, von ihrer Enge aber führte die große deutsche Literatur die Jugend in die Weite. Der Anstoß wirkte von ihr aus noch in seiner frischesten Kraft. Lessing war zwar etwas verschollen, auch gehört sein Kultus mehr einem reiferen Alter an. Aber Klopstock war noch keinesweges so in den Hintergrund getreten, daß es nicht für eine heilige Pflicht gegolten hätte, den »Messias« zur Hand zu nehmen und womöglich wenigstens die ersten zehn Gesänge zu bewältigen; seine Oden an die Freunde und Geliebten kosteten uns dagegen keine Mühe, sondern erfüllten das Gemüt mit einem sich von selbst darbietenden Entzücken; Wielands zierliches Spötteln galt uns für die Blüte der Weisheit; Vossens »Luise« stand in hoher Achtung, vor allen jedoch entzündeten Schiller und Goethe, der erste, ein Jahr vor dem Nationalunglück abgeschieden und im vollsten Nachglanz der untergegangenen Sonne leuchtend, der zweite, lebend und die reifsten Schöpfungen, »Wahlverwandtschaften« und Biographie, in die Furchen der traurigen Zeit aussäend. – Herder war der wenigst Zugängliche. Wir wußten mit diesen weichen, wollenen Wort- und Denkgespinsten etwas Rechtes nicht anzufangen.

Die deutsche Poesie hat eine Entstehung gehabt, welche von dem Ursprunge der anderen europäischen Dichtungen ganz verschieden war. Diese brachten ihre höchsten Gestalten hervor teils im Mittelalter, teils in den Zeiten, welche wenigstens noch den Reflex des Mittelalters aufwiesen. Bei den Italienern folgen einander binnen dieser Grenzen in einem wunderbar schönen Reigen Dante, Boccaccio, Petrarca, Ariost, Tasso; bei den Portugiesen tritt Camoens auf unter dem ritterlich-religiösen Sebastian. Bei den Spaniern blühen Cervantes und Lope unter Philipp dem Zweiten, der noch einmal mit ganzer Kraft die Würde der alten Kirche und des gotischen Königtumes aufrechtzuhalten unternimmt, hierin seinem Volke nicht wie eine Singularität vorkommt, sondern den Spaniern der Kluge, der Gerechte heißt. Calderon glänzt unter dem dritten und vierten Philipp, unter welchen jene Richtungen, wenn auch mit weit geringeren Gaben verfolgt[136] wurden. Bei den Engländern hat Shakespeare noch alle Nachklänge des alten »lustigen« Landes und der Feudalkriege im Ohr; bei den Franzosen endlich erscheinen Corneille und Racine unter Ludwig dem Vierzehnten, dem geistigen elften Ludwig. Der elfte Ludwig hatte die großen Vasallen gedemütigt oder vernichtet, der vierzehnte schlug die idealen Befugnisse des spanisch-französischen Rittertums, Galanterie und Bigotterie, zur Krone. Wie die ser König sich den Staat nannte, so repräsentierte er dessen einzigen tapfern, devoten, verliebten Ritter. Ludwigs Hof war das Mittelalter in einer Abbreviatur, welche die Züge der alten Schrift freilich schon etwas verstümmelt hatte. Den Sinn dieser Abbreviatur gaben die großen französischen Dichter wieder, wenn sie auch ihren Helden französische oder griechische Namen beilegten. Und so waren auch sie wenigstens mittelalterlicher Nachfärbung.

Ich glaube, daß vor einem richtig würdigenden Auge die späteren Führer jener Literaturen, soweit sie nämlich ein Eigenes haben anstreben wollen, über oder auch nur neben den genannten Ahnherren nicht Stich halten. Spanier und Portugiesen sind auf ihren Lorbeeren eingeschlafen, von denen kann also nicht einmal die Rede sein. Voltaire nennt sich mit kluger Bescheidenheit selbst den Soldaten Corneilles. In dem, was er eigen hat, in dem kaustischen Witze seiner Romane, in dem Deismus des »Mahomet« ist da aber etwas, von dem organisch gestaltenden Leben der großen Meister des Siècle? Ist's in der Laszivität, in dem Atheismus Diderots, oder in der Ungebundenheit Rousseaus? Alle diese Schriftsteller waren doch nur von der Negation begeistert, der ein abstrakter Begriff, die unbedingte Freiheit des Geistes und Gemütes zur trügerischen Unterlage dienen mußte. Und die Neusten? Spielt nicht Victor Hugo nur mit abgeborgten Klängen? Einzig und allein in der Dudevant will sich etwas Originell-Plastisches Luft machen, aber es ist unentwickelt, läßt sich also noch nicht abschätzen. Ein bedeutungsvoller Zufall muß es heißen, daß sie Aurore heißt, vielleicht kündigt sich in ihr die poetische Zukunft der Franzosen an. Chateaubriand hat dagegen seine besten Schwünge von dem Gefühle der Vergangenheit. Er ist der letzte Troubadour mit längerem Atem,[137] weiterem Blick als Arnaud de Marveil und Pierre Vidal von Toulouse. An Shakespeare reicht niemand hinan, also auch kein späterer Engländer. Durch das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch blühte auf der britischen Insel nur das Lehrgedicht, die deskriptive Poesie, der Familienroman, die Satire, die Sittenschilderung, an und für sich schon niedere oder gemischte Genres. In der neusten Zeit haben zwar Byron, Walter Scott, Thomas Moore wieder einen höheren Ton der Dichtung angeschlagen. Aber Thomas Moore luxuriert zu sehr, um als ein eigentlich großer Dichter dem Neide der Zeiten stehen zu können, Byron ist in dem, worin er Größe besitzt, durchaus Anklage, also Vernichtung, nicht plastisch-aufbauend, Walter Scott dagegen hatte sich ganz in die älteren Motive versenkt nur mit neuerem Geschäfts- und materialistischem Blicke. – Endlich: Sollen wir in Goldoni, Gozzi, Alfieri, Manzoni so große formgebende nationale Geister verehren, wie die Stammväter der italienischen Poesie waren und geblieben sind?

Findet man diese Schätzung richtig, so ergibt sich, daß die Literaturen aller übrigen tonangebenden europäischen Völker romantischen Ursprungs sind, aus romantischem Boden ihre edelsten Säfte zogen, in ihm zu einer noch nicht wieder erreichten Blüte aufwuchsen. Dort hatte sich bei ihnen der Begriff der Klassizität festgestellt. Die romantischen Motive sind aber aus dem Leben verschwunden. Die Dichter jener Völker empfinden daher den Zwang, entweder zurückzugreifen auf abgeschlossene Muster ohne Anfrischung durch einen fortquellenden Strom der wirklichen Dinge, oder sich zu versuchen in neuen Gebieten mit dem niederschlagenden Bewußtsein, daß unleugbar der Nation früher schon einmal ein Allerbestes geboten worden sei. Unmöglich ist nun zwar nichts in der Welt, bis jetzt aber scheinen die späteren Meister nicht den Beweis geliefert zu haben, daß jenes Bewußtsein ohne eine gewisse Abkältung der zeugenden Kraft, wie groß sie auch gewesen, bleiben könne.

Ganz verschieden lautet nun das Taufzeugnis der deutschen Literatur. Wir haben zwar auch eine Poesie des Mittelalters, und seiner Nachzeiten: »Nibelungen«, »Tristan«, »Parzival«,[138] Minnegesang, dann die Meistersänger, Hans Sachs, die scharfen Satiriker der Reformationszeiten, endlich die schlesische Schule und Fleming. Ich teile die Verehrung für diese alten Denkmale, allein wer möchte behaupten, daß sie unter Umständen entstanden seien, unter welchen Klassiker möglich sind? Diese entstehen nur, wenn ein Volk den Kern seines Wesens in seinen Zuständen empfunden hatte und die Sprache so weit gebracht worden war, daß sie für bevorzugte Geister zum Instrument mustergültigen Ausdrucks werden konnte. Italien besaß Eleganz des Wissens und Lebens, die Durchbildung der Einzelverhältnisse, welche für die Entwicklung der Eigenschaften so günstig ist, Spanien seinen insularischen grandiosen Fanatismus, Portugal berühmte Seefahrer und fabelhafte Küstenfernen, England ein reiches Volkswesen und die mannigfachste Gliederung der öffentlichen Verhältnisse, Frankreich die hohe Komödie der Repräsentation, als die Klassiker dieser Nation erschienen. Das deutsche Volk aber war weder im Mittelalter noch in den Zeiten, die diesem folgten, eines solchen Kernes sich bewußt geworden, auch hatte ein entsprechendes Idiom sich nicht hinreichend vorbereitet. Die romantischen Elemente waren wohl alle vorhanden in Deutschland, aber teils waren sie mehr angeeignet, wie das Rittertum, was selbst nur wieder im südlichen und westlichen Deutschland zu einer gewissen Zierlichkeit der Existenz kam, teils aber und hauptsächlich fehlte das Etwas verbreiteter Bildung, durch welches alle jene Elemente erst für den großen Schriftsteller zubereitet werden müssen. Der große Schriftsteller ist wie der große Feldherr, der sich auch nicht in das Handgemenge begibt, sondern dem sich das Heer, die Tapferkeit der einzelnen, der Verstand der Untergebenen zu feinen Abstraktionen klären müssen, wenn er seine beste Kraft zeigen soll. Die Verfasser der »Nibelungen«, des »Narrenschiffes«, des »Leo Armenius« standen gleichsam im Handgemenge rüder Vorstellungen, und deshalb konnten sie den nachwachsenden Geschlechtern der Deutschen nicht das werden, was Dante, Cervantes, Corneille ihren Nationen geworden sind. Die deutsche Literatur des Mittelalters blieb ein großer Ansatz, ein kühner Handstreich, sie konnte nicht für[139] den Sieg des deutschen Geistes in einer Hauptschlacht gelten. Man lobe und preise jene älteren Werke, wie man will, man wird aber den Flecken der Barbarei nicht von ihnen hinwegpreisen.

Dem achtzehnten Jahrhundert mußte es vorbehalten bleiben, das Geburtsjahr der eigentlich großen Literatur der Deutschen, derjenigen, welcher eine nationale Nachwirkung von langer Dauer vorherzusagen ist, zu werden. Über den politischen und patriotischen Unwert dieser deutschen Zeit sind wir einverstanden. Aber gerade in dem Unwerte konnte nur eine eigenste Seite der Deutschen erst zum Vorschein kommen, von welcher in meinen Betrachtungen schon mehrfach die Rede gewesen ist: ihre Subjektivität. In dem Chaos des aufgelösten Staates, der verwesten Kirche, der zerrütteten leitenden Begriffe entsprang eine Unzahl von Individualitäten, deren Gemeinsames nur war, daß eben das Individuum sich mit allen seinen Berechtigungen und Launen voll in die Wirklichkeit hinausleben wollte. Diesen Stoff subjektiver Ansprüche ergriff nun der Geist großer Männer durch eine Sprache, welche gerade so weit mannbar geworden war, um unter dem Kusse der Meister Mutter werden zu können. Alle unsere großen Schriftsteller gehen von Standpunkten aus, die nur ihnen, nicht einem Vaterlande, einem Kirchendogma, einer stabilen öffentlichen Meinung angehören. Klopstocks lyrische Gedichte sind der Ausdruck individuellster Empfindungen, im »Messias« muß er zwar einigermaßen an den protestantischen Lehrbegriff sich anschließen, er gibt sich aber dafür durch Abbadonna Genugtuung, den sentimentalen Teufel, und träumt das imaginäre Vaterland Hermanns; Lessing will so wenig etwas Festes, außer ihm Stehendes, daß er einmal sagt, er würde, ließe ihm Gott die Wahl, der Schale voll Wahrheit unermüdliches Forschen, mit beständigem Irren verbunden, vorziehen. Herder ist mit seinem schweifenden, weiblichen Geiste überall und nirgends, die Humanität, als deren Priester er genannt wird, hat wenigstens an keinem Orte einen greiflichen Kultus; Schillern ist alles Wirkliche das Gemeine, seine etwas hektische personelle Sehnsucht das Ideal; Goethe endlich will mit seiner universellen Begabung[140] nur sich und noch einmal sich und ohne Ende sich in den Dingen. Da aber ein solcher Wille nur mit Maß und Weisheit zum Ziele gelangen kann, so wird er gewissermaßen ein gelinder Tyrann der Dinge, ein Despot, unter dem es den Dingen wohl geht, ihm aber ergeht es über oder in ihnen doch am besten.

Sonach ist unsere große Literatur entstanden aus völlig antiromantischen Stimmungen, nach dem Verschwinden des letzten Widerscheins des Mittelalters; sie ist die vorzugsweise moderne. Das moderne Leben ist mit seinen feinsten Nuancen, mit seiner Anatomie der Seele, mit allem Zauber und Elend der Gegenwart nur in ihr zu seinem vollen Ausdrucke gelangt. Während die anderen Nationen nach genuinen Schöpfungen aus der Fülle ihres modernen Lebens heraus umhertasten, und nur zu solchen mittleren Maßes gelangt sind, besitzen wir in Symbolen des modernen Geistes (der nicht immer an einem Stoff aus der jüngsten Zeit sich abzudrücken braucht; ich erinnere an »Nathan« –) unsere Hauptwerke.

Mit dieser ganz subjektiven Poesie trat nun die Mehrzahl der Empfangenden von jeher in ein subjektives Verhältnis. Während bei den andern Völkern sich rasch das Gefühl erzeugte, daß die Dichtkunst eine Kunst, ein heiteres Spiel, eine Form sei, blieb bei uns vorwiegend der stoffartige Anteil, hervorgegangen aus dem Glauben, daß Dichten eigentlich ein Handeln in Versen vorstelle. Vielfältig hat man sich über dieses unzarte und schwerfällige Interesse geärgert, und doch war es nur eine deutsche Notwendigkeit. Die ausgestattetsten Individuen bei uns wollten ja, von keinem äußeren Gesetze bestimmt, nur den innersten stofflichen Gehalt ihres Busens entladen, dieser Gehalt, zwar durch eine Form gefaßt – denn sonst hätte er nicht Poesie werden können –, aber doch immer über die Form hinausschwellend, wurde von den Empfangenden entgegengenommen, wie nun eines jeden Individualität die Wahlverwandtschaft bildete. Goethe gesteht selbst, daß seine Werke nur Bruchstücke einer großen Konfession seien; wie konnte er sich also darüber formalisieren, daß »Werther« die Deutschen nicht als Kunstwerk, sondern als Wirklichkeit entflammte?[141]

In neuster Zeit hat sich der stoffartige Anteil bis zur Karikatur gesteigert. Meistens macht er sich leider als Haß Luft. Es darf in einem Werke nur diese oder jene Stelle vorkommen, welche dem Sinne einiger Menschen nicht behagt, so wird darum das Werk und der Autor verworfen ohne Untersuchung, ob die Stellen nach den Gesetzen der Komposition nicht gerade so lauten müssen, wie sie lauten. Ich selbst habe davon noch neuerdings an vielen Urteilen über die »Epigonen« eine Erfahrung gemacht. Während das Werk in seinem Schlusse gerade lehrt, daß die schrecklichsten Zerstörungen die in der Zeit schlummernden Heilungskräfte nicht vernichten können, sahen viele nur die abgelebten Figuren, durch welche sich das Thema seiner Natur nach auch freilich hindurcharbeiten muß, und verwarfen die Arbeit als eine nihilistische. Sie bedachten nicht, daß, wenn ich einen Schritt weiter gegangen wäre, ich das Gebiet des Staatsmanns, des Philosophen oder des Predigers betreten hätte. Es war mir merkwürdig, daß gerade den frischesten und gesündesten Lesern der Atem der Hoffnung aus den »Epigonen« entgegenwehte, so daß mir daher die Vermutung kam, die anderen, welche von Verwesungsduft schwatzten, möchten sich wohl selbst gewittert haben.

Ein stoffartiger Anteil solches Gepräges ist nun freilich etwas gar Schlimmes. Jener Ältere aber, der mehr aus dem Vollen auf das Volle ging, wird so lange immer wieder emportauchen, bis die deutsche Poesie die Form findet, die sie bei ihrem subjektiven Ursprünge noch nicht rein erlangen konnte. Ich meine nicht die äußere grammatische Form, für die Platen lebte und starb, sondern eine innere, geistige, eine, wie sie mir aus Shakespeare, Dante, Cervantes deutlicher entgegentritt, als aus Goethe. Die deutsche Poesie als Kunst will mir als eine zweite Möglichkeit unserer großen Literatur erscheinen.


Gerade wegen ihres Stofflichen und Subjektiven war aber die Literatur besonders geeignet die Trösterin eines zerdrückten Volkes zu sein. Die Form wird genossen und zum Genuß taugen nur glückliche Zeiten, der Gehalt spornt in[142] der Not an, regt auf, hält den Menschen zusammen. Die Form tritt als ein Medium zwischen Dichter und Publikum, am Subjekt klammert sich das Subjekt unmittelbar an. Es ist wahr und muß immer wiederholt werden, die Deutschen hatten in jenen Leidensjahren nur in ihrer großen Dichtung das Evangelium, welches sie zur Gemeine machte, sie über der materiellen Not, über dem Verlieren in eine wüste Verzweiflung emporhielt. Namentlich sind Goethe und Schiller die beiden Apostel gewesen, an deren Predigt sich das deutsche Volk zu Mut und Hoffnung auferbaute. Es ist mehr als sündlich, wenn dieses unsterbliche Verdienst nachmals hin und wieder in stumpfsinniger oder heuchlerischer Mäkelei hat vergessen werden wollen. Die »Evangelische Kirchenzeitung« und die mit ihr trollende Lämmleinsbrüderschaft hat den beiden ihr Heidentum aufgestochen und mancher meint etwas recht Kluges gesagt zu haben, wenn er von sich gibt, daß Goethe doch keine Religion habe. Er hatte die Religion, ein großer Mann zu sein und den Ausländern Bewunderung abzuzwingen, während wir anderen vor ihnen im Staube knirschten: Ich sage euch, diese zwei Heiden haben uns mehr genützt, als ihr guten Christen jemals uns nütztet, nützet und nützen werdet! –

Das Verhältnis, in welches sich die Jugend zu den großen Schriftstellern setzte, war ein leidenschaftlicher Liebesbund. Das junge Alter pflegt eine richtige Ahnung von dem Höchsten zu haben, was gerade in der Zeit da ist. Die Ersten lebten noch zum Teil und das tat auch viel, denn das Tote ist abgeschlossen und fällt der Betrachtung anheim, das Lebendige weist aber immer in eine unendliche Zukunft hin; der Nerv der Bewegung wird von ihm affiziert. Sie kamen uns wie Heilige vor, deren leuchtende Fußtapfen zu sehen, schon das höchste Glück gewesen wäre. Von Kritik war unter diesen Jünglingen nicht die Rede. Eine beschränkte Lehre machte die Seele nur um so lechzender, am Quell der Poesie sich zu berauschen, wenn sie einmal zu ihm hinangeleitet worden war. Auch war der Blick nicht zerstreut, die Literatur bot dem geistigen Auge die einzige Weide. Von der bildenden Kunst, welche jetzt viele ableitet, sprach niemand.[143]

Am gewaltigsten unter allen wirkte aber doch Schiller, während Goethe uns mehr ein Gott in unendlichem Abstande blieb. »Faust«, der jetzt das Haupt- und Grundbuch der Jugend geworden ist, regte uns eher Schreck als Freude an. Ich erinnere mich noch des eigenen Fröstelns, mit dem ich Mephistopheles und die Meerkatzen zum ersten Male gedruckt las. Einer unserer Lehrer sagte, es solle das größte Werk Goethes sein, man könne es nur leider nicht verstehen. – Schiller hat das ganz eigentümliche Genie besessen, scheinbar die Gestalten der Welt heranzubeschwören, und sie doch so im Feuer des Begriffs wieder aufzulösen, daß sie Schatten glichen, die nun ein jeder erst mit seinem wärmsten Herzensblute tränken mußte, um die edeln bleichen Lippen für sich zum Reden zu bringen. Schillern ist die Welt dunkel und in dieser Dunkelheit läßt er einige Figuren ohne individuelle Züge aber von glänzender Durchsichtigkeit erscheinen. Gerade diese erhabene Transparentmalerei war es aber, was dem Sinne der damaligen Jugend am mächtigsten zusprechen mußte. Das frische Gefühl der Menschheit verlangt nach Gestalten, es mag aber nicht gern seine noch große Reizbarkeit durch ihren Realismus belästigen lassen. Damals nun bedurfte der auf allen Seiten von der kolossalsten Wirklichkeit umdrängte Sinn nur noch mehr des poetischen Widerhalts, den ihm diese großen und doch leichtfaßlichen Transparente gaben. Obgleich die Empfindsamkeit noch nicht der Jugend verschwunden war, so konnte doch die Poesie jener Stimmung unter so historischen Umständen in uns nur die zweite Stelle einnehmen, und deshalb ist erklärlich, weshalb »Werther« uns nur in geringerem Grade berührte, selbst hinter Klopstocks tönenderen Freundes- und Liebesworten zurückstand und erst unsere reifere Zeit entzücken sollte. In Schiller traf nun aber alles zusammen, was wir begehrten, gleichsam historische Sentimentalität wehte uns aus ihm entgegen. Seine voll hinrauschenden Worte prägten sich fast ohne Absicht, sie zu behalten, dem Gedächtnisse ein; das Gedächtnis ist aber die erste Kraft, welche im Menschen sich ausbildet. Wird man mich mißverstehen, wenn ich sage, ich halte es für das Hauptverdienst Schillers, der größte Jugendschriftsteller[144] der Nation geworden zu sein? – Meine Verehrung für ihn habe ich hoffentlich deutlich genug ausgedrückt, allein dieser unbeschadet darf ich wohl gestehen, daß die Zeit mir ziemlich nahe zu sein scheint, in welcher er dem männlichen Alter ebensowenig mehr bieten wird, als ihm z.B. schon jetzt Herder noch bietet.

Unsere Begeisterung für ihn ging aber bis zur Andacht. Es war uns wunderbar, daß ein solcher Mann hatte sterben können; das Bewußtsein, daß sein Tod erst vor wenigen Jahren erfolgt sei, schärfte noch die mythische Empfindung, von welcher jeder in seinem Privatgeschicke ein Analoges erlebt, wenn nun ein Geliebtester soeben abgeschieden ist, und die an den Verlust noch nicht gewöhnte Seele aus ihren Tränen und aus ihrer Sehnsucht, aus den Kleidern des Dahingegangenen, aus den Spuren seines Wirkens, aus allem, was seine Hand berührte, noch eine Zeitlang die teure Schattengestalt sich zusammenwebt. So schritt uns Schiller als Schatten noch umher, denn er war ja in der Mitte seiner Laufbahn hinweggerafft worden, und wir sagten uns, daß wir, wenn er das gewöhnliche Lebensalter erreicht hätte, ihn dereinst vielleicht von weitem gesehen haben würden. In einer unserer Zusammenkünfte, es mochte sieben Jahre nach seinem Tode sein, als wir wieder einmal über ihn sprachen, rief einer plötzlich aus: »Wenn er noch lebte, wollte ich gern einen Finger meiner rechten Hand darum geben!« – Dieser Eifer blieb nicht ohne Nachahmung. Ein zweiter setzte die Hand, ein dritter beide Hände daran. Der Enthusiasmus wuchs und sprach sich in immer größerem Erbieten zu Verstümmelungen aus, so daß, wenn man die Gliedmaßen, welche aufgegeben werden sollten, zusammensummiert hätte, der ganze Kreis zum wenigsten einen vollständigen Menschen eingebüßt haben würde. Man kann diese Szene lächerlich finden und zweifeln, ob der Opfermut stark genug gewesen wäre, sich beim Worte nehmen zu lassen, indessen ist es doch immer schön, wenn die Jugend ihre ersten Aufregungen von starken, positiven Geistern empfängt.


Ich habe die Literatur, welche durch Goethe, Schiller, Herder, Klopstock, Wieland, Lessing, Voß, und die dieser[145] Reihe Nachfolgenden repräsentiert wird, unsere große genannt, weil sie ganz aus der vollen Nationalität und aus einer der ausgesprochensten Seiten in ihr erwuchs, in jenen Männern die begabtesten Organe fand und also auch voll in das Volk zurücktönte. Aber die Meister selbst drückte doch ein stilles Ungenügen, welches dem Poeten nicht ausbleiben kann, wenn er, wie hier geschehen, nur geschaffen hat, um eines Stoffes quitt zu werden. Man erinnere sich an die Mühe, die sich Goethe und Schiller gaben, Regeln zu erfinden, die Motive in eine Theorie zu bringen, den Dienst der Muse, sozusagen, reglementsmäßig zu versehen, man erinnere sich an die Urkunde dieser Mühe, an den Briefwechsel.

Der Grund jenes Ungenügens war das Bewußtsein unserer Heroen, daß die Kunst fehle, welche doch immer das Alpha und Omega des Poeten ist. Sie konnte aber von ihnen mit allem Experimentieren nicht entdeckt werden, weil jene großen Männer sonst an sich und ihrer Art zu Selbstmördern hätten werden müssen. Es ist merkwürdig, daß Schiller auf diesem Wege zum Chore gelangte, der ohne alle organische Vermittlung mit seiner Tragödie von Messina blieb, Goethe aber zu »Hermann und Dorothea« und zu den »Wahlverwandtschaften«, zu einem Epos und einem Roman, welche dramatischer sind, als irgendeins seiner Dramen. Das Resultat ihres Suchens war also, abgesehen von dem Gedankengehalt jener Werke, ein totales Mißverständnis über die Form, eine Entmischung der Form.

Ein zweiter praktischer Versuch, der deutschen Poesie die Form zu erobern, war die romantische Schule. Sie gehört zu den am seltensten in der Literatur vorgekommenen Beispielen, daß sich bei voller Blüte der einen Richtung schon ein Gegensatz auftut und zwar nicht der Eifersucht, der Kleinmeisterei, sondern ein tiefer, gründlicher; ein Gegensatz des Prinzips. Man war in dieser revolutionären Schule freilich in einiger Verlegenheit, da man sich vielfältig kritisch äußerte und die Kritik doch ein Objekt behalten mußte, das Objekt aber wegfiel, wenn die ganze deutsche Literatur negiert wurde. Man ließ daher vorbereitende oder untergeordnete Gestalten, wie Lessing oder Bürger, stehen, oder lobte in[146] einschränkender Weise, gegen den zweiten aber unter den ersten, gegen Schiller, tat sich ein entschiedenes Mißwollen kund, wodurch die Schärfe des Gegensatzes enthüllt wurde. Mit Goethe gab es ein eigenes Verhältnis. Er hatte jeden zu mächtig berührt, als daß das nicht hätte eingestanden werden müssen, man zollte ihm daher leidenschaftliche Verehrung, während man selbst produktiv oder didaktisch auf diametral entgegengesetzten Mustern und Methoden sich gründete. Goethe hat dieses zweideutige Verhältnis gefühlt und sich darüber so ausgesprochen, als habe er den Weihrauch einer klugen Politik zu danken gehabt. Daran glaube ich nicht, denn die Urteile über ihn, die aus der Schule hervorgingen, sind, wenn sie gleich seine eigentliche Grundnatur nicht berühren, doch der Art, um als Worte ehrlicher Überzeugung gelten zu können. Vielmehr war es eines der Verhältnisse, in welchen jemand das Große anerkennt und doch das Gefühl in sich trägt, daß dadurch das Allergrößte nicht habe erreicht werden können.

Die Schule griff unleugbar die Sache praktischer an, als Goethe und Schiller, sie stellte sich bei einem Gegenstande höherer Empirie auf den empirischen Standpunkt und wies nach den romantischen Literaturen hin, die eine Form besaßen; denn nicht um Rittertum, Andacht, Vergangenheit selbst war es ihren Stimmführern zu tun, sondern um die Dichter dieser Dinge. Sie brachten die Dichter in voller Rüstung herüber, welche die Poesie als Kunst getrieben hatten: Shakespeare, Calderon, Cervantes. Sie redeten von Dante, von Boccaccio, Petrarca geistreicher, als es je geschehen war. Von wie vielen anderen, was in das System ihrer Vorstellungen paßte, redete die Schule nicht außerdem noch! In ihren eigenen Schöpfungen verließ sie den subjektiven Weg der älteren Meister; sie trank aus dem Borne der der Gegenwart entlegenen Ideen, und vermied selbst in unwesentlichen Nebensachen die Reminiszenz an die fremden Muster nicht.

Die produktiven Geister in ihr waren Friedrich Schlegel, Novalis, Tieck; denn August Wilhelm ist, obgleich er viele Verse gemacht, doch nie etwas anderes gewesen als Kritiker, Gelehrter, Metriker.[147]

Friedrich Schlegels Geist beherbergte manches. Seinem innersten Sinne stand aber doch wohl Calderon am nächsten. »Alarcos« bleibt sein bedeutendstes Gedicht und dieser ist ganz calderonisch gedacht. Auch in seinen lyrischen Sachen sind Nachklänge jener pomphaften runden Kategorienwelt des Spaniers vernehmbar.

Novalis vertieft sich in die Mystik des Mittelalters, insofern sie ihm durch das Mittel seiner Naturwissenschaft und der Naturphilosophie erscheint. In »Heinrich von Ofterdingen« konsolidiert sich diese Mystik selbst wieder zum Begriff, der an dem Dienstmanne des Herzogs Leopold von Österreich eine gelegenheitliche Entwicklung findet. In den Fragmenten und geistlichen Liedern wird die Richtung hin und wieder getrübt durch protestantischen Pietismus. Novalis hat allerdings einen Drang Eigenes zu offenbaren, aber man fühlt doch in den wunderbaren Kristallisationen seines Geistes etwas Fremdes, ihm nur Angeeignetes wirkend.

Tieck ist am schwersten zu fassen. Das steht fest, daß er der größte Dichter der Schule war. Zu selbstständig, um in fremden Kleidern volles Behagen zu empfinden, und doch zurückgestoßen von der Gegenwart, von der Stimmung, wie sie war, erschafft er sich zwischen zwei Welten eine eigene, dritte, phantastische, in welcher eine fortwährende Magie operiert. In dieser Welt ist nichts wirklich als die Phantasie des Magus. Aber in dem Zauberer selbst geht nach und nach ein Märchen der Verwandlung vor. Die holden, leichten Gestalten der Jugend weichen zurück und wollen dem beschwörenden Worte nicht mehr gehorchen. Die realistische Welt bleibt stehen und wird von ihm in den Novellen seines Alters von den individuellsten Gesichtspunkten aus betrachtet. Nur selten sind in ihnen die Figuren, die durch sich da sind, eine epische Milde und Rundung besitzen, meistens redet der Dichter durch die Personen nur das Thema seiner Abneigung oder Vorliebe aus. Und so erlebt die Schule in ihrem poetischen Haupte schon wieder den Rückschlag in die alte, subjektive Art, die aber hier einseitiger und schärfer auftreten muß, als bei den Meistern der reinen anderen Richtung,[148] weil dem Poeten unterwegs eine Saite seiner Leier gesprungen ist.

Die romantische Schule war von dem größten Einflusse auf Koterien und poetische Köpfe. Kein wahrhaft Strebender konnte sich ihrem Reize entziehen, weil sie einen notwendigen Punkt in der Entwicklung der deutschen Literatur angab.

Aber populär konnte die Schule nicht sein. Denn sie ruhte nicht auf der Breite des wirklich Vorhandenen, sondern sie ging aus der Sehnsucht nach einem Nichtdaseienden hervor, und zwar aus einer Sehnsucht, die nur ein feines ästhetisches Bedürfnis zum Ursprung hatte. Gerade Rittertum, Katholizismus, Märchenwelt, Mystik waren es, die das aufgeklärte Jahrhundert perhorreszierte, so perhorreszierte, daß es nicht einmal das Spiegelbild dieser Lebensgestalten sehen wollte. Die Dichter der großen Literatur hatten zwar an alle jene Gebiete auch gestreift, aber in ihrem Sinne, nicht im Sinne der Ursprungszeiten. Sie brachen den Acker um, wie ihr ökonomisches Bedürfnis es erforderte.

Am wenigsten konnte die Schule bei der Masse der Jugend rasch populär werden. Die Jugend von 1806 und 1813 verlangte nach starken, auf Energie und Praxis hinleitenden Anreizen. Die schönen fremdartigen Klänge und Schatten gaben dergleichen nicht. Im Frieden hat sich das geändert. Sonderbar war es, daß das Romantische zuerst durch die Schüler am heftigsten aufregte und wieder am frühesten durch den manieriertesten unter den Schülern, durch Fouqué. Er war rasch allgemein bekannt und brachte in den ersten Jahren der Restauration eine Wirkung hervor, die man wohl mit der des »Werther« und der »Räuber« einigermaßen vergleichen durfte. Traurig, daß dieses große Talent sich so gar nicht besinnen zu lernen vermocht hat, und deshalb auf seinem gelben Streitroß mit verhängtem Zügel in die Wüste galoppiert ist. – Später ist Uhland an seine Stelle getreten. Über ihn werde ich an einem anderen Orte reden.

Das Ziel der Entwicklung, von welcher die romantische Schule einen Punkt bildete, scheint noch vorwärts zu liegen. Wir müssen durch das Romantische, welches der Ausdruck[149] eines objektiven Gültigen sein sollte, aber nicht ward, weil seine Muster und Themen ganz anderen Zeitlagen angehörten, hindurch in das realistisch-pragmatische Element. An diesem kann sich, wenn die Musen günstig sein werden, eine Kunst der deutschen Poesie entwickeln. Es ist ein großes Verdienst, welches sich einige Schriftsteller der jüngsten Gegenwart erworben haben, daß sie auf dieses Element zuerst hinwiesen, sich selbst in ihm hervorbringend versuchten.

Quelle:
Immermann, Karl: Memorabilien. München 1966, S. 128-150.
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