Sylli an Clerdon

[507] Den 7. März.


Ich war heute lange vor Tag aus dem Bette. Ein sonderbar schönes Licht, das immer heller mich umgab, trieb mich aus meinem Kabinett in das Zimmer gegen Morgen, welches die weite Aussicht nach dem kleinen Gebürge hat. Ich fuhr zusammen von dem Anblick, und blieb unbeweglich am Eingang des Gemachs. Was mich fesselte, war die große Stille bei all dem Glanz, bei all dem Werden am weiten Himmel; unüberschauliche unaufhörliche Verwandlungen, und doch kein sichtbarer Wechsel, keine Bewegung. Aber itzt trat die Sonne näher, und fuhr auf einmal hinter den Hügeln herauf, daß ich davon mit in die Höhe fuhr. – Clerdon, es waren selige Augenblicke. Und sehen Sie! wie dieser Sonnenaufgang, so war der ganze heutige Tag; Frühlingsanbeginn, Anbruch des Jahrs, erster Lichtstrahl einer viel größern Schöpfung, als die Schöpfung eines einzelnen Tages. Ich mußte heraus aus dem Gemäuer in die offene Welt. Sophie, die ich angerufen hatte, begleitete mich. Welch ein Spaziergang! Der Himmel war so rein, die Luft so sanft, die ganze Erde wie ein lächelndes Angesicht, voll Trost und Verheißung, Unschuld und Fülle des Herzens. Dies alles konnte ich jetzt wunderbar auffassen, meine Blicke waren milde, segnend; und so ward ich unvermerkt wieder das gute zuversichtliche Geschöpf, das nichts als Wonne über der Gotteswelt Schönheit, und volle Hoffnung im Herzen hatte.[507]

Ja volle Hoffnung, bester Clerdon, ohne zu wissen, was ich hoffte; alles Gute, alles Schöne; und diese liebe Verworrenheit, diese Dämmerung war's eben, was mir so wohl machte, war's, daß kein Unglaube mich wach stören konnte.

Dieser Tag sollte recht genossen werden. Ich wollte unter freiem Himmel die Sonne auch untergehen sehen. Wir nahmen unsern Weg über die Wälle. Ich verweilt an dem Orte, wo ich vor zwei Jahren im späten Herbst mit Ihnen stand, und Sie von der weiten mannigfaltigen Aussicht so entzückt waren. »Säh er sie itzt!« Ein lieber Frühlingshauch wehte mich an, und stellte Sie neben mich. O wie war rund um uns herum alles so herrlich, so schön! Aber es ließ sich nicht lange so ansehen; ich begab mich weg. Nun kam ich an die Stelle, wo man den langen, breiten Weg um die Ecke nach Zielen3 gerade vor sich sieht. – »Da kam ich her vor sechs Jahren, da kam vor zwei Jahren Clerdon her, da geht der Weg hin. – Ach wann?« Sie erinnern sich der Lage: eine unabsehbare Fläche; nichts, das Auge zu hemmen; der Weg ganz geradaus, und so breit, und so eben – wie ich da drüber hinrollen könnte! – Indem ließen sich nahebei, gleich hinter der Stadtmauer, zwei Instrumente hören. Es war eine Flöte und eine Harfe, die ganz vortrefflich in meine Melodie einfielen, sie begleiteten und fortführten. Da ließ ich mich denn gehen, ließ mir's so werden, daß ich die Augen recht naß kriegte. Mein gutes Mädchen neben mir wartete alles mit Freundlichkeit ab. Auf mein Stöckchen gelehnt blieb ich lange so dastehen: endlich lief ich hurtig mit ihr nach Haus, und – Gute Nacht, Clerdon, Amalia, und Schwestern, gute Nacht!

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Die erste Poststation nach C**.

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 507-508.
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