Viertes Kapitel.

[64] Es gibt Menschen, die ihren Kummer auf sich nehmen und ihn tragen können, starke Naturen, die sich ihrer Stärke gerade durch die Last der Bürde bewußt werden, während sich die schwächeren Naturen ihrem Kummer hingeben, willenlos, wie man sich einer Krankheit hingeben muß; es durchdringt sie auch der Kummer wie eine Krankheit, saugt sich in ihrem innersten Wesen fest und wird eins mit ihnen, wird in ihnen in einem langsamen Kampfe umgeformt und verliert sich dann in völliger Genesung.

Aber es gibt auch Menschen, für die der Kummer eine gegen sie gerichtete Macht ist, eine Grausamkeit, die sie[64] niemals als Prüfung oder Zuchtrute und ebensowenig als ein einfaches Schicksal ansehen lernen. Er ist für sie eine Ausgeburt der Tyrannei, etwas persönlich Feindliches, und er läßt stets einen Stachel in ihren Herzen zurück.

Es ist nicht häufig, daß Kinder so trauern, aber bei Niels Lyhne war das der Fall. Denn in der Inbrunst seines Gebetes hatte er seinem Gott gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, er hatte sich auf den Knien vor den Thron seines Schöpfers geschleppt, voller Hoffnung, bebend vor Furcht, aber doch in dem festen Glauben an die Allmacht des Gebetes, mutig in seinem Flehen um Erhörung; und er hatte sich aus dem Staube erheben müssen, und von dannen gehen mit getäuschter Hoffnung. Er hatte mit seinem Glauben das Wunder nicht vom Himmel herunterzuholen vermocht, kein Gott hatte ihm Antwort gegeben auf sein Rufen, der Tod war, ohne einzuhalten, auf seine Beute losgeschritten, als sei kein Wall von inbrünstigen Gebeten schützend zum Himmel aufgetürmt.

Es entstand eine tiefe Stille in ihm.

Sein Glaube war blindlings gegen die Pforten des Himmels angeflogen, und nun lag er mit geknickten Schwingen auf Edelens Grab. Denn er hatte geglaubt, er hatte jenen geraden Märchenglauben besessen, den man so oft bei Kindern findet. Es ist nicht der Gott des Lehrbuches, an den die Kinder glauben, es ist der mächtige, alttestamentliche Gott, der Adam und Eva so herzlich[65] geliebt hat, dem gegenüber das ganze Menschengeschlecht, Könige, Propheten, Pharaonen, nichts sind als artige oder unartige Kinder, dieser gewaltige, väterliche Gott, der mit dem Zorne eines Riesen zürnt, und der gütig ist mit der ganzen Gutmütigkeit eines solchen, der kaum das Leben erschaffen hat und auch schon den Tod darauf entfesselt, der seine Erde mit den Wassern seines Himmels ersäuft, der Gesetze herniederdonnert, die viel zu schwer sind für das Geschlecht, das er erschaffen hat, und der dann zu Kaiser Augustus' Zeit Mitleid mit den Menschen empfindet und seinen Sohn in den Tod gibt, damit das Gesetz gebrochen werden kann, indem es gehalten wird. Dieser Gott, der stets ein Wunder bereit hat, ist der Gott, zu dem die Kinder reden, wenn sie beten. Dann kommt wohl einmal ein Tag, wo sie verstehen, daß sie in dem Erdbeben, das Golgatha erschütterte und die Gräber sprengte, zum letztenmal seine Stimme gehört haben, und daß jetzt, nachdem der Vorhang seines Allerheiligsten zerrissen ist, das Jesuskind regiert, und von dem Tage an beten sie anders.

So weit war Niels noch nicht gekommen. Wohl hatte er in gläubigem Sinne Jesum auf dessen Erdenwanderung begleitet; aber die Tatsache, daß dieser sich stets dem Vater unterordnete, so machtlos einherging und so menschlich litt, hatte für ihn die Göttlichkeit beeinträchtigt; er hatte in ihm nur den gesehen, der den Willen des Vaters tat, nur den Sohn Gottes, nicht Gott selber; und darum hatte er auch zu Gott dem Vater gebetet, und nun hatte[66] Gott der Vater ihn in seiner bitteren Not im Stich gelassen. Aber hatte sich Gott von ihm abgewandt, so konnte auch er sich von Gott wenden. Hatte Gott kein Ohr, so hatte auch er keine Lippen, hatte Gott keine Gnade, so hatte auch er keine Gottesverehrung mehr. Und er trotzte und stieß Gott aus seinem Herzen.

An dem Tage, an welchem Edele begraben ward, stampfte er jedesmal, wenn der Prediger den Namen des Herrn nannte, verächtlich mit dem Fuße in die Erde des Grabes, und wenn er seitdem auf den Namen Gottes in Büchern oder im Munde anderer traf, so runzelte er voll Empörung die Kinderstirn. Legte er sich am Abend schlafen, so überkam ihn ein wunderbares Gefühl verlassener Größe, wenn er daran dachte, daß sie nun alle, Kinder wie Erwachsene, zu Gott beteten und ihre Augen in seinem Namen schlossen, während er allein seine Hände nicht faltete, während er allein Gott seine Huldigung verweigerte. Er war ausgeschlossen aus dem Schutze des Himmels, kein Engel wachte an seiner Seite, allein und unbeschützt trieb er umher auf den seltsam murmelnden Wassern, und die Einsamkeit senkte sich auf ihn herab und verbreitete sich, vom Lager ausgehend, in immer weiter und weiter werdenden Kreisen; aber er betete doch nicht, sehnte er sich auch bis zu Tränen danach, er rief trotzdem nicht.

Und so blieb er auch den Tag über, denn er löste sich in bitterem Trotz von der Art und Weise, zu sehen, auf die er durch seinen Unterricht hingeführt worden war,[67] und er flüchtete mit seiner Sympathie auf die Seite derer, die vergeblich ihre Kraft dazu verwendet hatten, wider den Stachel zu löken.

In den Büchern, die er gelesen, und in dem, was man ihn gelehrt hatte, zogen Gott und die Seinen – sein Volk und seine Ideen – daher in unaufhaltsamem Siegeszuge; und er hatte mit eingestimmt in den Jubel, hingerissen von dem glückseligen Gefühl, mit zu den stolzen Legionen der Siegreichen zu zählen; denn ist nicht der Sieg stets eine gerechte Sache, ist nicht der Sieger ein Befreier, ein Förderer, ein Verbreiter des Lichts?

Jetzt aber war der Jubel in ihm verstummt, jetzt dachte er mit den Gedanken des Überwundenen, fühlte mit den Herzen der Geschlagenen, und er verstand jetzt, daß darum, weil das Siegende gut ist, das Unterliegende nicht schlecht zu sein braucht, und da nahm er denn Partei für das letztere, sagte, daß es besser, und fühlte, daß es größer sei; die Siegesstärke aber nannte er Übermacht und Gewalt. Er nahm Partei gegen Gott, aber wie ein Vasall, der wider seinen rechtmäßigen Herrn zu den Waffen greift, denn er glaubte noch immer und konnte den Glauben nicht wegtrotzen.

Sein Lehrer, Herr Bigum, war nicht die Persönlichkeit, die seine Seele wieder zurückgewinnen konnte. Im Gegenteil, Bigums Stimmungsphilosophie, die es ihm möglich machte, sich für alle Seiten einer Sache zu begeistern, heute ganz hingerissen zu sein von der[68] einen und morgen wieder von der entgegengesetzten, führte seinen Schülern alle Dogmen vor. Er war wohl im Grunde ein christlicher Mann und würde, wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, eine bestimmte Antwort von ihm darüber zu erlangen, was für ihn das Feste in all dem Schwankenden sei, wohl auch gesagt haben, daß es der Glaube und die Lehre der lutherisch-evangelischen Kirche sei, oder doch etwas Ähnliches; aber er war nun einmal durchaus nicht dazu gemacht, seine Schüler auf dem genau begrenzten Wege des Kirchenglaubens vorwärtszutreiben und ihnen bei jedem Schritt zuzurufen, daß das geringste Abweichen den Weg zur Lüge und zum Dunkel, zur Seelenverirrung und zur Hölle bedeute; denn die leidenschaftliche Fürsorge der Strenggläubigen für Buchstaben und Titelchen ging ihm völlig ab. Er war nämlich auf jene künstlerische, überlegene Art und Weise religiös, wie so begabte Menschen es sich gestatten zu können glauben; sie schrecken nicht vor ein wenig Harmonisierung zurück und lassen sich leicht zu halb unwillkürlichen Umdichtungen und Änderungen verleiten, weil sie bei allem, was es nun auch sei, zuerst ihre Persönlichkeit berücksichtigen, und weil sie, in welche Sphären sie auch hineinfliegen, vor allen Dingen das Brausen ihrer eigenen Geistesschwingen hören müssen.

Menschen wie diese leiten ihre Schüler nicht, aber in ihrem Unterrichte liegt eine Fülle, eine Mannigfaltigkeit, eine etwas schwankende Allseitigkeit, die den Schüler, wenn sie ihn nicht verwirrt, in hohem Grade zur Selbständigkeit[69] entwickelt und ihn fast dazu zwingt, sich seine eigene Anschauung zu bilden; denn Kinder können sich ja nun einmal nicht bei etwas Unbestimmtem, Nebelhaftem beruhigen, sie fordern aus instinktmäßigem Selbsterhaltungstriebe stets ein reines Ja oder ein reines Nein, ein Für oder Wider, um zu wissen, welchen Weg sie mit ihrem Haß und welchen sie mit ihrer Liebe einzuschlagen haben.

Es gab also keine zuverlässige, unerschütterliche Autorität, die durch ihre eigene Sicherheit, ihr beständiges Beispiel Niels auf den alten Pfad des Glaubens hätte zurückführen können. Er hatte die Stange zwischen die Zähne genommen und eilte jeden neuen Steig entlang, der sich ihm zeigte, gleichviel, wohin er führen mochte, wenn er nur in der entgegengesetzten Richtung von dem ging, was früher das Sein seiner Gefühle und Gedanken gewesen war.

Es liegt ein neues Gefühl von Kraft darin, so mit den eigenen Augen zu sehen, mit dem eigenen Herzen zu wählen und an sich selber zu arbeiten; es taucht so viel auf dem Grunde der Seele auf, so viele ungeahnte, zerstreute Seiten seines Wesens fügen sich so wunderbar zusammen zu einem vernünftigen Ganzen. Es ist eine wonnevolle Zeit der Entdeckungen, in welcher er nach und nach, in Angst und unsicherem Jubel, voll zweifelnden Glückes sich selbst entdeckt. Zum ersten Male sieht er ein, daß er anders ist als die anderen, ein geistiges Schamgefühl erwacht in ihm und macht ihn wortkarg[70] und verlegen. Allen Fragen gegenüber ist er mißtrauisch und findet in allem, was gesagt wird, Anspielungen auf seine verborgensten Seiten. Weil er gelernt hat, in sich selber zu lesen, glaubt er auch, daß alle anderen lesen können, was in ihm geschrieben ist, und er zieht sich von den Erwachsenen zurück und schweift einsam umher. Die Menschen sind alle auf einmal so merkwürdig anzüglich geworden. Er hat ein fast feindseliges Gefühl ihnen gegenüber, als seien sie Wesen einer anderen Rasse, und in seiner Einsamkeit fängt er an, sie vorzunehmen und sie spähend, aburteilend zu betrachten. Bis dahin waren die Namen »Vater, Mutter, der Pfarrer, der Müller« eine völlig genügende Erklärung gewesen. Der Name hatte die Person völlig vor ihm versteckt. Der Pfarrer war der Pfarrer, mehr bedurfte es nicht. Jetzt aber sah er, daß der Pfarrer ein kleiner, jovialer Herr war, der zu Hause so zahm und still wie möglich war, um nicht von seiner Frau bemerkt zu werden, und der sich dann außer dem Hause in einen förmlichen Rausch von Empörung und freiheitsdürstender Gewalttätigkeit hineinredete, nur um das häusliche Joch zu vergessen. Das war aus dem Pfarrer geworden. Und Herr Bigum? Er hatte ihn bereit gesehen, für Edelens Liebe alles über Bord zu werfen, er hatte ihn in jener Stunde der Leidenschaft sich selbst und den Geist in sich verleugnen hören, und jetzt redete er stets von des philosophischen Menschen olympischer Ruhe gegenüber den Wirbelwinden und dunsterzeugten Regenbogen des Lebens.[71] Welch schmerzliche Geringschätzung erweckte das nicht in dem Knaben, wie wachsam und beobachtend machte es ihn! Er wußte ja nicht, daß das, was Herr Bigum bei den Menschen mit verächtlichen Namen bezeichnete, ganz anders genannt wurde, wenn es sich um ihn selber handelte, und daß seine olympische Ruhe dem gegenüber, was die Menschen in Erregung versetzte, das verächtliche Lächeln eines Titanen war, voll von Erinnerungen an das Sehnen der Titanen, an die Leidenschaften der Titanen.

Quelle:
Jacobsen, J[ens] P[eter] : Niels Lyhne. Leipzig [o. J.], S. 64-72.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Niels Lyhne
Niels Lyhne: Roman
Niels Lyhne (insel taschenbuch)
Niels Lyhne

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon