60. Der weisse Wolf.

[331] Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten eine sehr schöne Tochter. Nun geschah es, als der König eines Tages auf die Jagd geritten war, dass ein fein gekleideter Herr zu der Königin kam und sie bat, ihm die Prinzessin zur Frau zu geben. »Das kann ich nicht bestimmen,« sagte die Königin, »wartet, bis mein Mann nach Hause kommt.« Das war der vornehme Herr zufrieden, und als der König von der Jagd heimkehrte, trug er ihm sein Anliegen vor. Dem König gefiel der Freiersmann, und er sagte ja zu der Rede, wollte aber die Hochzeit noch ein wenig hinausgeschoben haben. Der Fremde liess sich das gefallen und blieb indessen an des Königs Hof.

Es begab sich aber, dass der Herr mit der Prinzessin zum Vergnügen in den Wald fuhr. Da kamen sie nach einer kleinen Weile in ein grosses Bruch, und als sie da so recht mitten in der tiefsten Wildnis waren, that es auf einmal einen lauten Knall, und statt des vornehmen Herrn sass ein weisser Wolf in dem Wagen.[331] Der befahl der Königstochter, ihn zu lausen, und als sie ihm zitternd gehorchte, fand sie in seinem Pelz eine allmächtig grosse Laus. »Leg sie in den Weg!« befahl der weisse Wolf, und als die Prinzessin nach seinen Worten gethan hatte, fuhr er fort: »Sollte es geschehen, dass ein Wagen über die Laus hinweg fahren würde, so muss ich verschwinden und dich allein im Walde lassen.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, so rollte auch schon eine prächtige Kutsche des Weges daher, und eine Dame sass darin; das war die Frau des weissen Wolfes, der längst verheiratet war und schon kleine Kinder hatte. Die Kutsche kam näher und näher und fuhr gerade über die Laus hinweg. Da zerplatzte sie mit einem lauten Knall, und im Augenblick waren der prächtige Wagen und die Dame und der weisse Wolf verschwunden, und die Prinzessin stand allein in dem wilden Walde.

Da war sie nun in grosser Angst und Not und wusste nicht aus noch ein und irrte rat- und hilflos viele Tage lang zwischen den Bäumen umher und nährte sich von Wurzeln und Beeren. Endlich begegnete sie einem Kesselflicker, den fragte sie, ob er nicht einen fein gekleideten Herrn gesehen habe. »Ich habe niemand gesehen!« antwortete der Kesselflicker, und die Prinzessin musste auf's Geratewohl ihre beschwerliche Wanderung fortsetzen. Über ein paar Tage traf sie einen Besenbinder; doch auch der wusste ihr keinen Bescheid zu geben. Halb tot vor Hunger und Kummer, ging sie weiter, bis sie einen alten abgedankten Soldaten auf sich zukommen sah. Dem lief sie entgegen und fragte ihn nach dem fein gekleideten Herrn und erzählte ihm, was ihr in dem Bruche mit dem weissen Wolfe begegnet sei. »Von dem weissen Wolf habe ich schon gehört,« antwortete ihr der alte Soldat, »doch den Weg, auf dem du zu ihm gelangst, kann ich dir nicht beschreiben. Geh nur weiter bis an das kleine Häuschen, da wirst du schon mehr erfahren.« Die Prinzessin bedankte sich bei dem abgedankten Soldaten für die gute Auskunft, die er ihr gegeben, und sagte zu ihm: »Sollte ich je wieder in meines Vaters Reich kommen, so will ich es dir gedenken!« Dann wanderte sie weiter und weiter, bis sie in der Ferne ein Licht schimmern sah. Und als sie nahe heran kam, war es das kleine Häuschen, von dem der alte abgedankte Soldat ihr gesagt hatte.

Die Prinzessin trat herein und fand in der Küche eine steinalte Frau am Herde stehen und kochen. »Behaltet mich über Nacht bei Euch!« bat die Prinzessin. »Ich thäte es herzlich gern,« gab ihr das Mütterchen zur Antwort, »wenn nur Sonne, Mond und Sterne, meine drei Söhne, nicht wären. Finden sie dich, so gilt es dein Leben, denn sie sind alle drei grosse Menschenfresser.« Da fing die Königstochter an, bitterlich zu weinen und zu klagen, wie sie so matt und müde sei, dass die Alte sich ihrer erbarmte und zu ihr sprach, sie wolle es versuchen und sie vor den drei Söhnen verbergen. Darauf kochte sie der Prinzessin ein Hühnchen zum Nachtessen und riet ihr, alle Knöchelchen wohl aufzuheben, sie würden ihr dereinst von grossem Nutzen sein. Und die Prinzessin gehorchte. Nachdem sie das Hühnchen[332] verzehrt hatte, nahm sie ihr schwarzseidenes Tüchlein vom Halse und that die Knöchelchen hinein und band es fest zu. Dann fasste die Alte sie bei der Hand und hiess sie tief unter das Bett kriechen, auf dass ja niemand ihrer gewahr würde.

Sie hatte noch nicht so gar lange unter dem Bette gelegen, so öffnete sich die Thüre, und herein trat Sonne und schnüffelte in der Stube herum und stellte sich alsdann vor seine Mutter und sprach: »Mutter, hier ist Menschenfleisch!« Sagte die Alte: »Ach, mein Sohn, was kommt dir in den Sinn? Wie sollte wohl Menschenfleisch in diese Wildnis geraten!« Aber Sonne liess sich's nicht ausreden und sprach: »Ich merk's, hier ist doch Menschenfleisch! Aber ich will dem Menschen das Leben schenken, wenn du mir sagst, wo er steckt.« Da befahl die Alte der Königstochter, hervorzukommen, und sie kroch gar ängstlich unter dem Bette heraus und ging auf Sonne zu und weinte und klagte ihm ihr Leid. Über den Worten empfand Sonne Mitleid mit der Prinzessin und sprach zu ihr: »Ich bin nicht schlimm, aber hüte dich vor meinem Bruder Sterne, der ist viel, viel schlimmer, wie ich.« Dann kochte die Alte ein zweites Hühnchen, und hiess die Prinzessin dasselbe essen und die Knochen in das schwarzseidene Tuch binden, worauf sie sich wieder unter dem Bett verbergen musste.

Es währte eine kurze Zeit, so trat Sterne in's Zimmer. Der schnüffelte gar bedenklich darin umher und rief: »Ich wittre Menschenfleisch! Ich wittre Menschenfleisch!« und begann entsetzlich zu toben und zu schelten, als die Mutter es ihm ausreden wollte. Weil er aber den Menschen nicht finden konnte, beruhigte er sich endlich und sprach: »Wer es auch sei, ich schenke ihm das Leben, wenn er aus seinem Verstecke hervorkommt.« Da kam die Prinzessin hervor und erzählte auch dem Sterne ihre Lebensgeschichte, so dass er gerührt wurde und sprach: »Von mir hast du nichts zu fürchten, aber hüte dich vor meinem Bruder Mond; der ist schrecklich und wird dich gewiss fressen!« Und da musste die Prinzessin sich wiederum verbergen, nachdem sie zuvor ein drittes Hühnchen gegessen und die Knochen zu den andern in das schwarzseidene Tuch gebunden hatte.

Zuletzt kam auch Mond und schnüffelte durch das ganze Haus und schrie: »Ich wittre Menschenfleisch! Ich wittre Menschenfleisch!« Die Mutter suchte es ihm auszureden, da wurde er so zornig, dass er über sie herfallen wollte; aber sie kannte ihn schon, und am Ende besänftigte sie ihn doch, dass sie die Königstochter ungestraft aus ihrem Versteck hervorziehen durfte. »Woher kommst du?« fragte Mond, »und wohin willst du?« Da erzählte ihm die Prinzessin haarklein die ganze Geschichte und, wie sie jetzt den weissen Wolf suche und den Weg zu ihm nicht finden könne. Sprach der Mond: »Wenn du zum weissen Wolf willst, musst du den Weg noch einmal zurückgehen, den du gekommen bist, so lange, bis du an ein grosses Wasser gelangst. Da musst du durch. Das aber kannst du ohne die Hühnerknöchelchen nicht vollbringen. Nimm sie daher mit dir und vergiss nicht, vor jedem Schritte, den du im Wasser thust, eins derselben vor[333] dich hinzulegen. Unterlässt du's auch nur ein einziges Mal, so bist du verloren!« Da dankte ihm die Prinzessin für seine Auskunft und machte sich am andern Morgen auf den Weg. Bevor sie ging, schenkten ihr jedoch die drei Brüder ein jeder noch ein herrliches Kleid, das eine mit Sonnen, das andere mit Sternen, das dritte mit lauter Monden verziert.

So ging denn die Prinzessin, wie ihr der Mond gesagt hatte, den ganzen langen Weg zurück, bis sie an das grosse Wasser gelangte. Da schritt sie mutig durch und legte jedesmal, bevor sie den Fuss niedersetzte, eins der Hühnerknöchelchen vor sich hin und wanderte darauf wie auf einer festen Brücke. Nur noch einen einzigen Schritt hatte sie zu thun, dann war sie drüben; siehe, da war das Tüchlein leer, und so sehr sie auch suchte, es war kein Knöchelchen mehr darin zu finden. Geschwind zog sie ihr Schermesserchen aus der Tasche hervor, und ratz! schnitt sie sich den kleinen Finger ab und legte ihn vor sich und kam glücklich hinüber ans andere Ufer.

Drüben aber lag eine grosse, schöne Stadt, welche dem weissen Wolfe gehörte. Da nahm die Prinzessin von den drei prächtigen Kleidern dasjenige, welches mit den goldenen Sonnen geziert war, und legte es an und ging damit durch die Strassen. Die Frau des weissen Wolfes aber sass gerade am Fenster, und als sie die Prinzessin in dem köstlichen Kleide erblickte, gefiel ihr dasselbe so sehr, dass sie heraustrat und die Königstochter fragte, ob sie es ihr nicht verkaufen wolle. Die Prinzessin sagte es ihr umsonst zu, wofern sie ihr erlaube, eine Nacht bei dem weissen Wolfe bleiben zu dürfen. Das bewilligte ihr die Frau und nahm das Kleid, ihrem Manne aber gab sie am Abend einen Schlaftrunk ein, dass er das Mädchen nicht gewahr würde.

In der Nacht ging die Prinzessin zu ihm in die Kammer und setzte sich auf sein Bett und beugte sich zu seinem Ohre und sang:


»Herr Prinzipal!

Auf deinen Saal

Hab' ich geritten,

Mein'n kleinen Finger

Mir abgeschnitten!

Herr Prinzipal!«


Der weisse Wolf aber erwachte nicht, und die Prinzessin ging endlich ihrer Wege. Am andern Morgen aber erzählte er seiner Frau, wie er geträumt habe von einer Prinzessin, welche die ganze Nacht auf seinem Bettrand gesessen und ihm ein Lied vorgesungen habe. Dann wiederholte er ihr die Worte, welche er wirklich von der Prinzessin vernommen hatte. Doch seine Frau wusste ihn auf andere Gedanken zu bringen, dass er bald gar nicht mehr an die Sache dachte.

Den zweiten Tag legte die Prinzessin das Kleid mit den goldenen Sternen an und ging damit an dem Schlosse vorbei, wo die Frau des weissen Wolfes am Fenster sass. Die Lust nach dem schönen Gewande ward in ihr auch dieses Mal so gross, dass sie hinauslief und die Prinzessin um den Preiss fragte, und als sie dasselbe verlangte,[334] wie den Tag zuvor, versprach sie ihr, dass sie auch die zweite Nacht bei ihrem Manne sein dürfe.

Als aber die Nacht kam und die Prinzessin an das Bett trat und dem weissen Wolf in's Ohr sang:


»Herr Prinzipal!

Auf deinen Saal

Hab' ich geritten,

Mein'n kleinen Finger

Mir abgeschnitten!

Herr Prinzipal!«


da hielt auch diesmal ein Schlaftrunk seine Sinne gefangen, dass er nicht erwachen und ihr auf den Gesang antworten konnte. Darauf ging die Prinzessin schweren Herzens hinweg und nahm am folgenden Morgen das letzte Kleid mit den goldenen Monden und zog es an und ging zum Schlosse der Frau des weissen Wolfes. Der schien das Gewand so über alle Massen herrlich, dass sie, es zu erlangen, der Prinzessin zum dritten Male die nämliche Bitte gewährte.

Als sie jedoch am Abend dem Manne wieder den Schlaftrunk reichte, schüttete derselbe ihn unbemerkt zum Fenster hinaus; denn er hatte Verdacht geschöpft, dass es mit dem Traume seine besondere Bewandtnis haben möchte. In der Nacht kam die Prinzessin, beugte sich zu seinem Ohre und sang:


»Herr Prinzipal!

Auf deinen Saal

Hab' ich geritten,

Mein'n kleinen Finger

Mir abgeschnitten!

Herr Prinzipal!«


Und dann erzählte sie ihm alles, was sie um seinetwillen ausgestanden hatte. Da erkannte er sie und gab ihr Geld, so viel sie nur tragen konnte, damit sie heimkäme in ihres Vaters Reich. Und als sie zur Stadt hinaus und in ein Dorf kam, da erkannten die Leute die verschwundene Prinzessin, und ein Mann brachte sie zu dem alten König zurück. Da herrschte grosse Freude im ganzen Lande. Die Prinzessin aber gedachte des abgedankten Soldaten, der ihr den Weg zu dem kleinen Häuschen gewiesen, und des Versprechens, das sie ihm gegeben, und bat den König, ihr alle Soldaten des Reiches vorführen zu lassen. Und wie sie gebeten hatte, so geschah es auch. Die Prinzessin aber erkannte ihn unter den vielen Tausenden heraus und heiratete ihn. Da haben sie ihr lebelang vergnügt und fröhlich mit einander gelebt; und wenn sie nicht gestorben wären, so lebten sie heute noch.

Quelle:
Ulrich Jahn: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l, Norden/Leipzig 1891, S. 331-335.
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