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[125] Etliche Tage später erhielt Hans Tage einen auf allen vier Seiten engbeschriebenen Bogen. Dabei lag ein Zettel. »Ich weiß nicht, ob Sie das brauchen können. Johanne«.

Donnerwetter! die geht ins Zeug, lachte er, entfaltete den Bogen und las:


Gebet.


Das Fieber steigt und steigt. Und der Arzt ist weggegangen. Freilich, was sollte er hier noch weiter? Die Krankenwärterin ist aufs Genaueste unterrichtet. Sie weilt im Nebengemach. Elise wird doch ihr einziges Kind nicht von fremder Hand pflegen lassen. Eher zusammenbrechen vor Erschöpfung. Aber man bricht nicht zusammen, wenn man sich aus Liebe opfert, nein. Es liegt eine stählende, feiende Kraft in solchem Sichaufgeben.

Die junge Mutter beugt sich mit fieberndem Lächeln über das Kind. Blickt ihr nicht aus dessen gespannten, ernsten Zügen der Tod entgegen? Wer hätte in diesem Gesicht die kleine Emmy wiedererkannt, das holde, herzige Geschöpfchen, das man so leicht erfreuen, so leicht glücklich[125] machen konnte? Ein zum Kreisen gebrachter Fingerhut, und sie jauchzte, ein rotbäckiger Apfel, den man ihr schenkt, und ihr Auge leuchtet vor Dankbarkeit. So harmlos und ursprünglich war sie, so voll goldener Freude an jedem Lächeln des Lebens, ein Vöglein, das in den rosenroten Morgen hineinjubiliert und nicht weiß, daß es eine Nacht giebt. Und jetzt, gerade jetzt, wo sie anfing zu erwachen, wo sie aus sich selbst das Gute zu lieben begann, jetzt, mit sieben Jahren, sollte sie sterben müssen?

Elise strich zitternd über das blonde Haar der Kleinen, das sonst mutwillig in hellen Goldfarben das Köpfchen umlockte. Heute lag es fahl, wie zusammengekittet, in kleinen, steifen Strähnen um die brennende Stirne.

Nein, Gott konnte das nicht thun. Es war ja ihr Liebstes. Ihr Mann, Schiffskapitän, trieb in fernen Gewässern umher. Er wußte von nichts, er erfuhr es erst, wenn alles vorüber war. Aber es durfte nicht, nein, nein ... Elise wirft sich auf die Kniee und breitet die Arme nach oben. Lieber Gott, hast du nicht so viel reifwelke, müde Blumen in deinem Schöpfungsgarten? So viel Unkraut, das keiner Biene, nicht dem Wind Freude giebt, wenn er duftdurstig über die Felder streicht? Lieber Gott, nimm doch von diesem und nicht mein armes, junges Blümlein hier, das eben erst die Augen zu deinem Himmel aufzuschlagen begann? Hörst du, hörst du, lieber Gott? Du mußt mich ja hören, denn du bist[126] allgegenwärtig. Siehe, ich will nie wieder Zerstreuungen ersehnen, Putz, Schmuck, Anerkennung, ich will nichts weiter als dieses kleine Seelchen da, will ihm dienen, es hegen und pflegen, bis es eine große, schöne, starke Seele geworden ist, die dir Wohlgefallen bereitet. Hörst du mich auch, mein Gott, hörst du mich auch? Der Arzt meint, wenn sie erwachte, mit klarem Bewußtsein nach Nahrung verlangte, mich erkennte, dann wäre sie gerettet. Sie muß also erwachen, sie muß erwachen ... Die Hände der jungen Frau ringen sich schmerzhaft. Ich gebe mein halbes Leben für sie, du mein Gott, mein Augenlicht, o ich will gern blind werden, um ihre Gesundheit zu retten, ich ... ich ... nur noch ein paar, zwei, ein einzig Jahr laß sie mir, du mein lieber, guter, lieber Gott, bitte, bitte, bitte! Du mußt, hörst du, du mußt! In ausbrechender Verzweiflung stürzt sie ans Fenster und streckt die Arme zum Himmel.

Da schrillt ein Klang herüber. Drüben, jenseits des Platzes, liegt das hohe, düstere Gefängnisgebäude, in dessen Hof die schwersten Verbrecher gerichtet werden. Die Betende kennt das Glöcklein. Es läutet nur, wenn Einer zum Sterben geführt wird. Ihre entsetzten Augen glauben den armen Sünder in den Hof hinausschwanken zu sehen.

Es ist eine Frau.

Elise schauert zusammen. Hat die auch eine Mutter[127] gehabt, die zum Himmel für sie flehte? Die um ihr Leben zu Gott schrie? Allmächtiger! ... vielleicht hat ihr stammelndes Gebet, das Leben ihres Kindes erhalten, erhalten, damit dieses aus ihm wurde?

Allmächtiger!

Sollte man – vielleicht nicht so heiß beten und bitten, den Herrn zwingen wollen, etwas zu thun, was – vielleicht – besser ungethan bliebe? Sollte man unterlassen, etwas erkämpfen zu wollen, was dann ... das Rot des glutvollen Wunsches an sich trägt, aber – als Blutflecken ... vielleicht. – –

Die gefalteten Hände der jungen Frau lösen sich, und sinken steif, starr herab.

Ists vielleicht besser, nicht allzuheiß zu beten? gar nicht um etwas zu bitten, sondern in Gelassenheit, in erstrittener Stille, in lächelnder Opferbereitheit, im Wissen, daß das Beste geschieht, das Kommende zu erwarten?

O Gott! ich will nicht bitten! .....

Das Weib bricht in die Kniee und neigt seine Stirn.

Da regt sichs im Bettchen der Kleinen und ein Stimmchen flüstert:

»Mama, Mama, ich bin so hungrig«......

Er ging etliche Male in der Stube auf und nieder, schüttelte dann und wann den Kopf, trat wieder zu dem Bogen, las ihn, faltete ihn zusammen, steckte ihn ein, und ging fort.[128]

Quelle:
Maria Janitschek: Ninive. Leipzig 1896, S. 125-129.
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