14

[153] Jetzt, da die ganzen Tage ihr gehörten und sie thun konnte, was sie wollte, da ihr Ehrgeiz geweckt war und sie von Erfolgen träumte, warf sie sich mit aller ungebrochenen sanguinischen Hoffnung auf das Schreiben. Sie schrieb eine Reihe Novelletten und brachte sie Tage mit.

Es war ausgemachte Sache zwischen ihnen, daß er sie jeden Tag zum Spazierengehen abholte. Frau Wewerka lächelte diskret. Sie war gewiß die Letzte, die Steine auf andere warf, wenn es auch unleugbar war, daß die Kleine dumm war, riesig dumm. – Die Spekulation, die Schüler mit ihr zu machen gedachte, war mißlungen oder hatte vielmehr andere Wege genommen, als er beabsichtigte. Nicht Johanne, seine eigne Frau war die Veranlasserin, daß seine Wünsche bezüglich einer Gehaltsaufbesserung erfüllt wurden. Davon ahnte er freilich nichts. Er ließ es sich nie träumen, in Lohringer einen Nebenbuhler zu erblicken.[153] Er dankte ihm herzlich für seine Fürsprache und begegnete ihm freundschaftlich. Daß er mit Johanne nicht in nähere Beziehungen getreten war, sah er wohl, aber daß dies nicht an Schüler lag, mußte Lohringer zugeben. Jener hatte kaum sein Interesse für das junge Mädchen wahrgenommen, als er ihm auch, so weit dies anging, die Gelegenheit bot, sich ihr zu nähern. Was zwischen den Beiden sich weiter abspielte, war nicht weiter seine Sache. Lohringer, der Schülers Absicht durchschaut hatte, mochte sich innerlich über die Verschiebung der Dinge belustigen. Wewerkas hatten ebenfalls Schülers Pläne gekannt, aber sie schwiegen natürlich.

Eines Tages sagte Hans Tage zu Johanne, als sie wieder auf ihrem Lieblingsweg promenierten: »Hör Schatz, du mußt jetzt eine zeiltang pausieren. Ich habe nun schon sieben Novellen von dir. Zwei davon habe ich untergebracht, aber die übrigen –«

»Und das Honorar?« fragte sie plötzlich zu seiner Ueberraschung.

Es war ihm recht unbehaglich, daß er auch hier wieder in seine Börse greifen mußte. Aber da er anfänglich so protzig gethan hatte, durfte er jetzt nicht zurück. Na, auf ein paar Goldfüchse sollts ihm nicht ankommen.

»Erhältst Du in diesen Tagen« sagte er. »Es ist[154] aber sehr klein, Liebchen. Weißt du, größere Honorare kommen erst später. Die ersten Jahre gehts immer nur tropfenweise«.

»Aber später glaubst du doch, daß ich viel verdiene; denn wovon sollte ich sonst leben? Dann müßte ichs ja am Ende bereuen, nicht doch die Kindergärtnerei weiter –«

»Aber Kleine« sagte er ärgerlich, »laß doch das: später. Für jetzt bist du zufrieden, nicht?« Er preßte ihren Arm leidenschaftlich an sich.

Diese bäuerliche Vorbedachtsamkeit verstimmte ihn, brachte ihn in Verlegenheit.

Was kümmerte ihn ihr: später?

Vielleicht brachte sies in der That zu etwas auf litterarischem Gebiete. Vielleicht nicht. Ihm galt hauptsächlich die Gegenwart. Ach, daß diese kleinen Mädchen so viel Mätzchen machten, bevor sie sich ergaben! Sie erhielt wirklich eine kleine Summe. Auf der Postanweisung stand: »Für die Novellen ›Gebet‹ und ›Ein armes Mädchen‹«.

»Warum war die Redaktion nicht genannt, nur dein Name?« fragte sie später Tage.

»Weil ich es von der Redaktion abholte, um es sofort an dich zu senden« log er.

Dann quälte sie ihn, er solle sich doch mit den anderen Sachen beeilen. Er wurde ungeduldig.[155]

Einmal bat er sie, zu Klingenbergs zu gehen. Es sei Brauch, Leuten, bei denen man eingeladen war, einen Besuch zu machen.

»Ach die sind mir zu langweilig« meinte sie.

»Du mußt aber« beharrte er.

Sie ging nicht. »Was hatte ich davon, als ich dort war? Wenn du und Lohringer nicht gewesen wärt –«

»Ja, Lohringer« sagte er bissig.

»Laß ihn; du weißt, ich mag ihn gut leiden«.

»Gott ja, schwärme für ihn. Seine Glatze ist ja auch wirklich anschwärmenswert«.

»Du bist roh« rief sie.

Sie gingen kühl auseinander und sprachen sich etliche Tage nicht. Sie langweilte sich fürchterlich. Seine Werke, drei Bände Gedichte, die er ihr gebracht hatte, kannte sie schon auswendig. Sie besaß auch keine rechte Lust zu lesen. Die Frage: was wird nun aus mir? bring ichs auch wirklich zu etwas? lag schwer auf ihr. Sie schrieb allerlei kleine Sächelchen, tastete unsicher in sich herum und wußte nicht recht, welchen Stoff sie wählen sollte.

Grade als sie recht unglücklich den Kopf in die Hände gestützt dasaß, kam Tage. Sie gingen spazieren. Als sie die Stadt hinter sich hatten, sagte sie: »Weißt du, ich glaube doch, daß es eine Dummheit von mir[156] war, was ich gethan habe. Vielleicht wärs das Beste, ich ging wieder ins Fröbelhaus zurück«.

»Thus« sagte er achselzuckend.

»Nun bist du auch noch so gegen mich« rief sie weinerlich.

»Was willst du denn eigentlich?«

Er blieb stehen und sah sie an.

»Mein Gott, etwas Sicheres vor mir erblicken, eine Thätigkeit haben. Ich sitze den ganzen Tag in den Ecken herum«.

»Du schriftstellerst ja« bemerkte er ungeduldig.

»Aber ich glaube, es kommt nichts dabei heraus«.

»Warum glaubst du das?«

»Weil ich denke, ein Mensch, der wirkliches Talent in sich hat, weiß doch, was er schreiben soll. Ich aber weiß nie, wozu ich die Feder ansetzen soll. Es ist manches in mir, aber verworren, so ... ich weiß nicht wie«.

Er nickte. »Aber ich weiß es. Ich will dir etwas sagen. Ein Mädchen so ganz ohne jede innere Erfahrung, ohne jede Erschütterung der Seele – ich will ehrlich zu dir reden – kann unmöglich etwas leisten. Du müßtest einmal –«

»Was denn?«

»im Arm eines Mannes gelegen haben«, er sah von ihr fort, »gebebt, gejauchzt, geweint haben, eine Erfahrung gemacht haben, dann wäre die Künstlerin in dir[157] reif und du brächtest schöne Bücher zu stande. Was du jetzt schreibst, ist lauter Kinderstammeln, die Redaktionen wollen es nicht. Die ersten zwei Stücke gefielen, aber immer das gleiche Gesänglein anzuhören, ermüdet«.

»Also?« fragte sie leise.

»Also, du wirst es wissen«.

Sie sahen beide zu Boden.

Sie zog ihr Taschentüchlein heraus und drückte es leicht an die Augen. Das war unverblümt. Und trotz dem, genau hatte sie ihn doch nicht verstanden.

»Also wird nichts aus mir« sagte sie nach einer Weile tonlos.

»Wenn du dir selbst hindernd im Weg stehst«. Er zuckte die Schultern.

»Was soll ich denn thun?« rief sie leidenschaftlich. »Jeder behandelt mich als kindisches Ding, belächelt, bemitleidet mich; was soll ich denn thun?«

Tage blieb stehen und sah ihr in die Augen. »Dem Mann, zu dem du dich am meisten hingezogen fühlst, angehören«.

Sie spürte heiße Schauer über sich gehen.

»Du ahnst nicht, welche Veränderung mit dem Weibe nach einem mutigen Schritt vorgeht. Die Welt erscheint ihm in ganz anderen Farben, eine ungeahnte Lebenskraftund Lust rauscht durch seine Adern; Schönheit, Gesundheit, Geist übergießen es mit ihren beglückenden Gaben.[158] Ein Mädchen ist immer eine vor den Thoren des Lebens Harrende; erst das Weib dringt hinter das Geheimnis des Daseins«.

»Ach, vielleicht hast du recht, aber –« sie seufzte.

Er warf die Arme um sie und preßte einen heißen Kuß auf ihre frischen Lippen.

»Johanne!«

Sie sagte garnichts. Mit gesenktem Haupte schritt sie neben ihm nach Hause.

Und nun begann ein stillschweigendes, erbittertes Kämpfen zwischen ihnen.

Einen Tag war er stürmisch, zärtlich, kühn gegen sie. Wenn sie ihn erzürnt in seine Schranken zurückwies, blieb er am nächsten Tag aus und vernachlässigte sie. Für sie, die keine rechte Beschäftigung hatte, waren solche Tage voll Verzweiflung. Sie schrieb verwirrtes Zeug, zerriß es wieder, rannte hundertmal ans Fenster, irrte planlos durch die Straßen und rief ihn endlich. Und wenn er dann kam und sie auf den Wegen draußen mit seinen wilden, glühenden Küssen überfiel und Dinge von ihr forderte, die ihr das Rot in die Wangen trieben und sie empört auffuhr, begann er zornig, höhnisch, bitter zu werden und blieb wieder weg. Einmal schickte sie ihm einen Pack Manuskripte.

»Lauter dummes Zeug, mein Kind« sagte er, als er sie nach einer Szene wiedersah. »Laß das Schreiben[159] für jetzt. Du bringst nichts zustande, du bist zu unruhig«.

»O Gott« sagte sie traurig, »aber es ist ja gar nicht wahr! warum sollte ich unruhig sein?«

»Weil das Blut in deinen Adern nach Erfüllung schreit; stell dich doch nicht gar so dumm. Man sieht es dir ja im Gesicht an«.

Er redete ihr so lang von dem Aufruhr in ihr vor, bis sie schließlich daran zu glauben begann. Sie weinte über sich selbst. Aber sie widerstand.

Zu Hause saß sie am Fenster gekauert und wußte nicht, sollte sie beten oder verzweifeln.

Wenn sie noch einen Menschen besessen hätte, dem sie sich anvertrauen konnte. Aber sie besaß niemand. Frau Wewerka mit ihrem stillen, vielsagenden Lächeln war ihr unausstehlich. Alice würde sie ausgelacht haben. Sie hörte fast ihr: thue doch, was dich freut, Närrchen. Lohringer war sogar der Meinung, der Mensch müsse Erfahrungen machen, um »sich selbst« zu finden. Also alle und alles drängte sie zu dem Einen. Sie weinte fortwährend, nahm kaum Nahrung zu sich und fühlte sich todunglücklich.

Währenddessen begann Tages Geduld zu erlahmen. So lange Zeit, so viele hundert Wege, Bitten, Szenen hatte ihn kein Weib gekostet. Freilich, sie alle, die er besessen hatte, waren nicht mehr rein gewesen. Aber[160] trotzdem. Er verwünschte diese dumme, spröde Mädchenhaftigkeit, die sich sträubte und von einem Tag auf den andern um Aufschub bettelte. Er sah schon, hier konnte keine Beredsamkeit, keine Schmeichelei wirken, hier mußte er zu einer brutalen That seine Zuflucht nehmen. – Sein Begehren nach ihr war durch die halben Vertraulichkeiten, die sie von seiner wilden Art bedrängt ihm gewährte, aufs Aeußerste entfacht.

Einmal nur diese spröde Teufelinne ganz in den Armen halten, dann mochte sie seinetwegen laufen, wohin sie wollte.

›Ich kann morgen erst gegen Abend kommen, schrieb er ihr eines Tages, erwarte mich nicht vor der Dämmerstunde‹. – Er kam um die angegebene Zeit etwas erhitzt.

»Ich hatte sehr viel Laufereien heute«.

»Dann magst du wohl jetzt nicht mehr ausgehen« meinte sie.

»Natürlich, natürlich mag ich ausgehen« sagte er nervös. »Komm nur; es ist sehr schön draußen. Wir können uns ja auch einen Wagen nehmen. Auf die Felder zu gehen ist heute zu spät« setzte er hinzu, als sie ihren gewohnten Weg einschlagen wollte, »gehen wir ein wenig in die Stadt«.

Sie gingen Arm in Arm eine Weile. Plötzlich schlug er sich vor die Stirne. »Herrgott, daß ich das[161] vergessen konnte. Ein wichtiger Brief, der heute noch abgehen muß. Nichtwahr, du erlaubst doch, daß ich einen Augenblick in meine Wohnung hinaufspringe, ihn zu holen. Er liegt auf dem Schreibtisch. Wir sind ja grade hier an meiner Straße«.

»Ich habe noch nie dein Haus gesehen« sagte sie harmlos, »wohnst du hübsch?«

»Ha, eine Idee, Schatz. Willst du mit hinaufkommen? Es sieht dich niemand. Ja, willst du?«

Sie zögerte und blickte ihn ungewiß an.

»Na, wie du willst. Dann wart also hier unterm Thor, bis ich wieder herabkomme« sagte er barsch.

»Sei doch nicht gleich so –«

»Weil du einem auch die kleinste Bitte abschlägst. Ich wäre ja gar nicht darauf gekommen. Deine Frage brachte mich dazu. Na. Also wart«. Sein gekränkter ehrlicher Ton rührte sie.

»Gut also, ich will zu dir hineingucken; aber –«

Er faßte sie stürmisch um die Mitte und trug sie halb die Treppe empor. Sie kicherte und wollte sich losmachen, aber er ließ sie nicht aus den Armen. Oben schloß er auf und stieß sie scherzhaft in ein Zimmer, das er durch einen Druck auf den elektrischen Knopf erleuchtete.

Es war ein großer, durch Teppiche, Felle und etliche Divans sehr wohnlich hergestellter Raum. Auf mehreren[162] Tischen lagen Bücher, Bildwerke, Manuskripte umher. In einer Ecke stand ein zierlicher Theekessel. Hinter einem hohen, eleganten Wandschirm befand sich das Bett. Die Wände bedeckten zahlreiche gute Radierungen, Stiche und mehrere Oelgemälde.

»Sehr hübsch« rief Johanne, sich auf dem Absatz umdrehend. Er sprang zu einem Eckschränkchen und nahm eine Flasche und zwei Gläser heraus.

»Seinen Gästen muß man mit etwas aufwarten«. Er goß sich und ihr ein Glas dunklen Weines ein. »Auf dein Wohl, Johanne. Nun?«

Zögernd stieß sie an.

»Trink doch, Mädel«. Er zog sie neben sich aufs Sopha. Dann kramte er einige Zeitungen fort, die eine Schale schöner Südfrüchte verdeckt hatten. »Knabbere auch ein bischen dazu. Magst du eine Tasse Thee? er ist im Moment fertig. Hier ist Konfekt«. Er schob ein Tellerchen mit Zuckerwerk heran.

»Aber nein« sagte sie überrascht, »das sieht ja aus als ob du Gäste erwartest. Kommt jemand zu dir?«

»Außer der, die gekommen ist, niemand«.

»Aber du wußtest doch garnicht, daß ich käme, wie konntest du das alles für mich herstellen?«

Er lachte. »Ich dachte schon lange, daß du mich vielleicht einmal besuchen würdest – aber – sappristi, frag nicht so viel«.[163]

Er riß sie an sich. Sie zog die Brauen schmerzlich zusammen. »Laß mich doch; das mag ich nicht«.

»Was? Wie? Magst du nicht? Wart, kleiner Unhold, heute will ich mich rächen für all die Teufeleien, womit du mich seit Monden quälst«. Er wollte sie auf seinen Schooß ziehen. Sie stieß ihn von sich und erhob sich.

Er knirschte die Zähne zusammen, bemühte sich aber, ruhig zu bleiben.

»So, so, du entfliehst mir? na meinetwegen; aber den Wein trink doch gefälligst aus; er ist nicht vergiftet, wenn er auch von mir ist«.

»Ich mag keinen Wein« sagte sie und näherte sich der Thür.

Er sprang auf.

»Johanne! Bleibe doch noch einen Augenblick. Schau, es ist so hübsch, daß du da bist. Wer weiß, wenn wieder – ich will ganz brav sein. Komm, noch ein bischen«.

Seine Hand ergriff die ihre, während er mit der andern das Weinglas an ihren Mund hob.

»Mir zu liebe, aber ex«.

Sie that einen Schluck.

»Ex« kommandierte er.

Sie trank das Glas leer.

»Und jetzt noch ein Augenblickchen, ja?« Er zog sie neben sich. Sie sah umher.

»Wo ist denn der Brief? Du sagtest doch, er eilte«.[164]

»Ach was, meinetwegen. Ich bin augenblicklich so glücklich, daß mir alles andere gleichgültig ist«.

Er nahm eine Feige von dem Tellerchen und wollte sie zwischen ihre Lippen stecken.

Sie lachte und bog sich zurück.

»Magst du nichts Süßes?«

»O doch«.

»Na, dann also ...« Plötzlich hatte er seine Arme um sie geworfen.

»Du, ich bin ganz rasend. Quäl mich doch nicht so, Mädel. Gieb mir einen Kuß«.

Sie wollte etwas entgegnen; er preßte sein Gesicht auf das ihre.

»Du erdrückst mich ja ...«

»Ach was ...«

»Hörst du?«

Ihre Hand faßte krampfhaft sein Haar.

»Laß mich«.

»Fällt mir nicht ein. Die Komödie muß ein Ende haben. Dummes Ding, gieb doch nach; hörst du?«

Mit einer zornigen Bewegung suchte sie ihn abzuschütteln. Dabei glitt die Tischdecke herab und der Inhalt der Weinkaraffe ergoß sich in roten Strömen über beide.

Er sprang in die Höhe. »Auch das noch«.

Sie hörte ihn ein heftiges Schimpfwort murmeln und stürzte hinaus.[165]

Ihr Hut, ihre Jacke, ihre Handschuhe waren oben liegen geblieben. Barhäuptig in ihrem dünnen Kleidchen, mit losgegangenen Flechten, rannte sie durch die Gassen.

Die Leute blieben stehen und sahen ihr nach. In ihrem Zimmer angelangt, fiel sie halb bewußtlos aufs Bett ...

Zwei Tage lang lag sie wie im Fieber. Frau Wewerka sah ab und zu nach ihr. Am dritten Tag, als sie sich wohler fühlte und aufstehen wollte, sagte die Hausfrau: »Mein armes Kind, teilen Sie mir doch mit, was Ihnen widerfahren ist; man braucht sich nicht alles gefallen zu lassen. Vielleicht kann ich Ihnen irgend einen guten Rat geben«.

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie mich nur; mir ist ganz gut. Ich habe mich neulich erkältet; das ist alles«.

»Nun, wie Sie wollen. Ein Dienstmann hat übrigens ein Packet für Sie gebracht. Es war so unordentlich verschlossen, daß alles beim Empfang herausfiel. Hut, Handschuhe und Jacke habe ich in Ihren Schrank gehängt«.

Frau Wewerka lächelte ein wenig.

Johanne kehrte sich gegen die Wand und flüsterte: »danke«.

Nachmittags stand sie auf. Sie ging aus einer Ecke[166] in die andere, sah zum Fenster hinaus und kehrte wieder ins Bett zurück.

Sie fühlte sich wie zerbrochen. Ihre Hände und Füße zitterten. Die Arme unter dem Kopf verschränkt lag sie da. Was nun? Was sollte sie nun beginnen? Ins Fröbelhaus zurückgehen? den ironischen Gesichtern der Lehrerinnen begegnen? Dann mußte sie jedenfalls auch den abgebrochenen Kurs wieder von vorn beginnen, was so viel hieß, als den Aufenthalt hier um ein Jahr verlängern.

Nur das nicht. Lieber – Sollte sie geradewegs nach Sienenthal zurück?

Aber was würde ihr Vormund, der Pastor, und jeder, der sie kannte, von ihr denken? Und was sollte sie in Sienenthal? Kartoffel schälen in der Küche der alten Schlächterin? Mein Gott! War jung sein wirklich ein Glück? Was sollte sie nur mit sich anfangen? Jetzt, da sie die ganze Schurkerei Tages kennen gelernt hatte, glaubte sie auch nicht mehr an ihr Talent. Er hatte ihr wohl nur eingeredet, daß sie dichterische Begabung besaß, um Macht über sie zu gewinnen

Sie begann ihn zu durchschauen. Und das war der Mann, dessen Biographie in allen frommen Familienblättern stand, dessen Gedichte junge Mädchen auswendig lernten, dessen Name als einer der besten galt. Freilich, sie wußten nichts von seiner Gemeinheit. Er sprach ja[167] immer so edle Gedanken in seinen Gedichten aus. Ihm galt in seinen Versen die Reinheit als das höchste Gut, die Güte gegen Mensch und Tier (besonders gegen hübsche junge Mädchen) als erstes Gebot Christi. Man bekam ordentlich feuchte Augen, wenn man diese lieben, kleinen, feinen Lieder las. Umsomehr, als sie so angenehm abstachen gegen die heißen, ungesunden Gefühlsergüsse manch anderer Dichter. Allerdings, die waren deshalb nicht schlechter, nur – ehrlicher. Sie gaben sich, wie sie waren. In einem glichen sich alle, die zur Fahne der Kunst schworen, besonders der Dichtkunst: abgesehen von dem Haß und Neid, womit sie einander befehdeten, – es galt ihnen kein Mittel als zu gering, auch kein täglicher Meinungswechsel, um zu Geld und Ansehen zu kommen.

Es war sehr traurig, das alles in der Nähe ansehen zu müssen und lächerlich zu denken, daß diese »Künstler« Einfluß auf ihre Zeit und auf alle naiven, unverdorbenen Gemüter hatten. Fort von hier, rief es in Johanne. Und doch wieder – fort? ohne etwas, auch nur das Geringste, erreicht zu haben?

War das nicht allzu kläglich? Gott, Gott! Sie sprang aus dem Bette und warf sich auf die Kniee. Sie wollte beten, aber es ging nicht. Kein Tropfen Trostes kam in ihre Seele. Mit trockenen Lippen wühlte sie sich wieder in ihre Kissen. Ob es nicht das Beste wäre, zu[168] sterben? Sie ließ alle Todesarten an ihrem Geiste vorüberziehen. Sie malte sich ihre einzelnen Schrecken aus. Und doch was waren sie im Vergleich zu diesem entsetzlichen, trostlosen Jammerleben? In einer Verzweiflung, die an Irrsinn grenzte, verbrachte sie die halbe Nacht. Erst gegen Morgen sank sie in unruhigen Schlaf.

Als sie die Augen aufschlug, war es Mittag. Das Mädchen brachte ihr das Frühstück ans Bett. »Nein, wie Sie aussehen, zehn Jahre älter« sagte sie erschreckt.

Johanne erhob sich, kleidete sich langsam an und setzte sich an den Tisch. Was thun? was beginnen?

Frau Wewerka kam herein.

»Gehen Sie doch ein wenig ins Freie. Die Luft wird Ihnen gut thun. Wir ordnen indessen Ihr Zimmer«.

Johanne kämpfte eine Stunde lang. Dann setzte sie den Hut auf, zog ihr Jäckchen an und ging hinab. Als sie über die Treppe schritt, fragte es in ihr: Wirst du auch wieder herauf kommen? Wer weiß? Wenn aber nicht, wo wirst du morgen früh erwachen? Sie fuhr sich über die feuchte Stirn und ging. Sie wußte nicht, wohin. Ihre Füße trugen sie mechanisch vorwärts. Von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf und sah sich um. Wenn sie doch an einer Kirche vorbeikäme. Vielleicht gings heute mit dem Beten. Sie irrte durch dunkle Straßen in entfernten Vorstädten, kam an mehreren Gotteshäusern vorüber, die ihr geistesabwesender Blick[169] übersah, und rannte weiter, weiter. Sie hörte Uhren schlagen, sah die Menge der drängenden Leute sich lichten, Millionen angezündeter Gasflammen die Stadt wie in Funken hüllen, Omnibusse und Wagen zu den Nachtzügen nach den Bahnhöfen rasseln, sie sah wie Voraneilende sich nach ihr umsahen; endlich konnte sie nicht weiter. Vor einem großen Hause mit drei Thoren taumelte sie an die Wand und sank nieder.[170]

Quelle:
Maria Janitschek: Ninive. Leipzig 1896, S. 153-171.
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