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[17] Als Hildegard sich zur Ruhe begeben und die Lampe auslöschen wollte, entdeckte sie, daß überhaupt keine angezündet war. Und doch war das Zimmer in taghelles Licht getaucht. Sie trat verwundert ans Fenster. Eine riesige elektrische Bogenlampe, die unter demselben hing, klärte sie auf.

Sie starrte in das blendende Licht. Die Augen thaten ihr weh. Und da sollte ein Mensch schlafen können? Zu Hause hatte ihr das Mädchen nie dunkel genug im Schlafzimmer machen können. Schon wieder das Rückwärtsschweifen ... Hier wars eben anders. Und die zwei Millionen Menschen schliefen doch, trotzdem sich an den meisten Fenstern keine Laden, sondern nur dünne Stors befanden. Gut, wenns die Andern konnten, wollte sies auch versuchen. Die »Andern« war ja immer ihr Losungswort gewesen. Sie legte sich zu Bette. Bald aber erhob sie sich wieder. Nicht die Helle trieb sie empor, der Lärm, der brausende dröhnende Straßenlärm. Sie hatte ihr Fenster offenstehen lassen, weil die Luft in der Stube[17] so schlecht war. Sie schloß es nun und legte sich wieder hin. Aber die dünnen Glasscheiben machten das donnernde Getöne von draußen nicht leiser. Das Klingeln der Omnibusse, das Getute der Mail Coatch, das Rasseln der Wagenräder, die Stimmen der tausendköpfigen Menge, die sich eng aneinandergepreßt da unten vorüberschob, und aus der der Eine den Andern zu überschreien suchte, klang nervenzerreißend herauf. Hildegard drückte den Kopf ins Kissen. Sie wollte nicht hören, aber sie hörte doch. Sie band ihr Taschentuch über die Ohren. Nun hörte sie schwächer, aber umso beängstigender. Einige Töne klangen sogar vernehmbarer so, andere erstickten zu einem dumpfen Sausen. Furcht ergriff sie. Es schien ihr, als gehörten diese tausend und tausend Töne einem riesigen Ungeheuer an, das in jedem Augenblick die dünnen Wände des Hauses eindrücken, zu ihr hereinbrechen und sie zermalmen würde. Sie erhob sich und ging im Zimmer auf und nieder. Sie suchte sich damit zu trösten, daß all dieser Lärm doch wohl gegen Mitternacht aufhören müßte. Und dann sagte sie sich, daß sie heute übermüdet und besonders gereizt sei.

Morgen würde es ihr schon besser gelingen, ihre Nerven dem Getriebe der Großstadt anzupassen. Sie nahm einen Schluck Wasser aus der Karaffe, konnte es aber nicht hinabschlingen. Es mochte wohl seine vierzehn Grad Wärme haben.[18]

Ach Gott, nein, das alles hatte sie sich anders gedacht – ganz anders. Und sie war doch kein kleines verträumtes Mädchen mehr. Aber so, gerade so hätte der Anfang nicht zu sein brauchen. Sie hatte sich unter einer Zimmervermieterin in Berlin eine schöne alte Dame mit weißem Haar vorgestellt, die sie mit den Worten empfangen würde: »Liebes Kind, ich will Sie chaperonnieren, seien Sie nur ruhig, wir werden eine gute prächtige Stellung für Sie ausfindig machen; schlafen Sie sich indessen aus. Sehen Sie, dies ist Ihr Zimmer.«

Und die Dame geleitet sie in ein kleines niedliches Zimmerchen. Ein Resedastock steht am Fenster und duftet. Die altmodischen Möbel sind mit weißen Schutzdecken geziert. In der Ecke steht ein grüner Kachelofen. An den Wänden hängen etliche gute alte Ölporträts, die Verwandte aus der Familie der braven Zimmervermieterin vorstellen. Und da kommt auch schon ein Dienstmädchen im sauberen weißen Häubchen, ein zierliches Kaffeebrett mit dem dampfenden Getränk in den Händen. Und die sagt im lieben Badener Dialekt:

»Lasse Sie sichs wohlschmecke, Madamche.«

Ach Gott! Hildegard setzte sich auf den Bettrand und begann zu weinen. Das Alles hatte sie ja besessen und weggeworfen, weil sie sich als Frau des Fortschritts fühlte, der das eheliche Zusammenleben mit einem schlichten Menschen viel zu wenig bot, um ihre geistigen Fähigkeiten[19] zu entwickeln. Das Weib muß sich selbständig machen, um beweisen zu können, daß es auch ohne Mann, ja gerade ohne ihn, sich eine hervorragende Stellung auf dem Kampfplatze des Lebens zu erringen vermag.

So hatte sie es gelesen, Tag für Tag, in den hübschen blauen, grünen und gelben Broschüren, die ihre »Genossinnen im Streite um ihr Menschenrecht« ihr hatten zugehen lassen. Seit es ihr klar geworden war, daß sie Einhart nicht liebte, war plötzlich der Durst nach »Bildung« in ihr erwacht. Sie begann zu lesen; zuerst Romane, dann auch anderes. Schließlich war sie kühn geworden und hatte ein oder dem andern Autor, meist waren es weibliche, die sie interessierten, geschrieben. Nach kurzem Briefwechsel wußten die Andern bereits, daß sie eine Unglückliche, Unverstandene sei, eine jener Tausende, die unter dem Sklavenjoch der Ehe schmachteten.

Das war ja eine, wie sie sie brauchen konnten. Die Vertreterinnen der männerverdammenden Richtung antworteten ihr und sandten Bücher, Broschüren und Flugblätter aus ihrer Werkstatt an sie. Sie fühlte sich gehoben, beglückt.

Nach den letzten trübseligen Monden ihrer Ehe, wo oft Wochen vorübergegangen waren, ohne daß eines der Gatten zum andern sprach, hatte er sie endlich freigegeben. Ihre Bekannten überhäuften sie mit Vorwürfen[20] – Eltern hatte sie nicht mehr – und bewiesen ihr klipp und klar, daß sie eine Närrin wäre, einen braven edlen Mann zu verlassen, den sie überdies aus einem lebensfrohen Menschen zu einem wortkargen Sonderling gemacht hätte.

Sie gab scharfe Antworten: daß die andern eben dem alten, sie aber dem neuen Geschlechte angehöre, das zu höhern Berufen geboren sei. Mitzuarbeiten am großen Befreiungswerke der Frau, das sei Pflicht jedes denkenden Weibes. So stolz hatte sie gesprochen, und nun saß sie auf dem Bettrand und weinte, weils unruhig auf der Straße war. Sie griff nach der Uhr, es war beinahe zwölf, und streckte sich wieder aus. Nun mußte es doch jeden Augenblick still werden. Eine Genugthuung hatte sie wirklich. Die elektrische Lampe vor dem Fenster verlöschte. Aber der Lärm? Als sie wieder zur Uhr griff, war es vier. Und dem Lärm fiel es gar nicht ein, zu verstummen. Es toste, krachte, schmetterte, pfiff fort. Dann endlich begann es zu dämmern. Hildegard wälzte sich mit rotgeweinten Augen auf den Kissen. Ihre Gehörorgane waren so gereizt, daß sie nicht wahrnahm, wie es jetzt mählig stiller und stiller zu werden begann. Sie erwog im Geiste, wie sie Fräulein Schulze sagen würde, sie vermöchte es keine zweite Nacht in diesem Höllenspektakel auszuhalten, das Fräulein möge ihr – sie hatte leider schon die Miete für[21] einen Monat voraus bezahlt – die Hälfte derselben zurückgeben und sie ziehen lassen, sie würde sich sofort um ein anderes Zimmer umsehen. Diesen Vorsatz erwägend schloß sie die Lider.

Als sie sie wieder aufschlug, stand die Sonne am Himmel. Hildegard setzte sich verwundert im Bette auf. Hatte sie geschlafen? Nein, das konnte doch nicht gut sein. Sie sprang auf. Sie mußte ja Fräulein Schulze sprechen, und diese ging schon um neun Uhr ins Geschäft. Es war gleich zehn. Mit einem Seufzer sank sie aufs Sofa. Nun war die Andere natürlich längst fort, und sie würde noch eine Nacht – nein, lieber wollte sie in einem Hotel schlafen. Aber ihr Geld! Sie mußte sehr sparen, um überhaupt auszukommen. Ihr Mann würde ihr monatlich hundert Mark geben. Mehr konnte er nicht. Er verdiente nicht allzuviel.

Sie wusch sich, kleidete sich an und überlegte, was am klügsten zu thun wäre. Und da fiel ihr ein, sie könnte nach dem Geschäft gehen, wo Fräulein Schulze Directrice war. Sie wollte ihr Vorstellungen machen. Ihre Toilette war bald beendet.

»Fräulein Schulze ist wohl schon lange fort« sagte sie ins Vorzimmer tretend. Die Dienerin, die nähend am Fenster über ein rosa Kleid gebeugt saß, verzog ihr Gesicht zu einem hämischen Grinsen. »Det will ick meenen. Hier in Berlin werden die Jeschäfter schon[22] vor zehn Uhr jeöffnet.« Frau Wallner runzelte die Brauen und entfernte sich.

Sie frühstückte in der ersten Konditorei, an der sie vorbeikam, und begab sich nach der Jägerstraße. Man rief Fräulein Schulze aus der Schneiderinnenwerkstätte in den Laden herüber. Sie war nicht wenig verwundert, ihre Mieterin zu sehen, und lachte hell auf bei deren Anliegen.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen die Miete zurückzahle, liebe Frau. Nee, das glauben Sie nicht. Aber –« die thränengefüllten Augen der jungen Frau rührten sie – »ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Nehmen Sie mein Zimmer, und ich gehe nach vorn. Einen Monat lang werden Sie's schon aushalten können. Sind Sie's nicht, ists wer anders. Ich böte nicht Jedem diesen Vergleich an, aber Sie dauern mich, weil Sie fremd sind, und weil die dreißig Mark unnötiger Ausgabe Ihnen schwer fielen. Also. Hinten nach dem Hofe zu ists totenstill, und die Herren Nerven werden sich schon zufrieden geben.«

Hildegard lächelte schwach.

»Also Sie meinen –«

»Ja ich meine, so wirds gehen, versuchen wirs heute Abend; aber jetzt entschuldigen Sie – ja, ja Fräulein Kohler, ich komme schon! – Sie sehen, man ruft mich; adieu indessen.«[23]

Und zwischen einem Knäuel kaufender Kunden und herumstehender Ladendiener wand sie sich geschickt hindurch und eilte wieder nach der Arbeitswerkstätte. Hildegard verließ kleinlaut das Geschäft.

So hatte sie's eigentlich nicht beabsichtigt; aber vielleicht war es besser für ihre Kasse, als ein neues Zimmer zu mieten.

Sie erkundigte sich nach den Museen und schlenderte dorthin. Für etliche Stunden vergaß sie über die herrlichen Kunstschätze ihre persönlichen Sorgen. Später ging sie in eine Restauration, aß, und durchflog mehrere Zeitungen. Da fiel ihr eine Ankündigung auf.

»Heute Abend, acht Uhr, im kleinen Konzertsaal, Leipzigerstraße, Frauenversammlung. Sprecherin Frau Eugenie Blatt, Fräulein Cornelie Speiler. Präsidentin Frau von Werdern.«

Frau Blatt! Ob das dieselbe war, mit der sie in Briefwechsel stand? Erst neulich hatte sie geschrieben: ›Nur Mut! Unsere Sache wird siegen! Könnte ich Sie doch sprechen. Wir vermögen nicht genug Soldaten unter unsere Fahne zu bekommen.‹ Gewiß, es konnte nur ein- und dieselbe Person sein. Auch jene hieß Eugenie und war Pionier der Frauensache. Wäre das ein Wink des Schicksals? Sollte Hildegard nicht gleich hineilen zu dieser Genossin und ihr die ganze hilflose Lage mitteilen? Natürlich würde sie das thun. Aber[24] heute nicht, morgen. Heute würde Frau Eugenie viel zu thun, sich für den Abend vorzubereiten haben. Morgen. Morgen. Gott sei Dank, der sie diese Notiz hatte finden lassen. Und daß diese Frau gerade hier sprach. Sie wohnte für gewöhnlich in Frankfurt.

Hildegards Augen begannen zu strahlen. Nun würde vielleicht doch noch ihre Hoffnung, die große Hoffnung, die sie auf Berlin gesetzt hatte, sich erfüllen. Sie hatte immer gedacht: die andern Frauen sitzen in Dresden, Zürich, Frankfurt, Leipzig, du aber gehst gleich in die größte Stadt, wo die meisten Chancen für die »Sache« sind, und wirst da eine bedeutende Rolle spielen.

Hildegard besah sich einige der schönsten Schaufenster in der Leipziger Straße, trat in eine der Konditoreien ein, und ging dann nach Hause. Zu ihrem Erstaunen wars bereits sieben Uhr. Die Zeit verging hier märchenhaft schnell. Das Warzengesicht war nicht zu Hause. Hildegard sah zum Fenster hinaus, frisierte sich aus langer Weile, und ärgerte sich über den Verdruß, den sie über Fräulein Niehms Abwesenheit empfand. Endlich klirrte draußen der Schlüssel im Schloß. Aber nicht Anna, sondern Fräulein Schulze war die Ankommende.

»Ei, da sind Sie ja schon« sagte sie freundlich, »ich dachte, Sie wären noch nicht zu Hause. Ich bin Ihretwegen so früh gekommen. Es ist heute Donnerstag.[25] An diesem Abend hat Anna immer Ausgang. Die armen Mädels müssen auch ihr Vergnügen haben. Sonntag Abend kann ich sie nicht recht entbehren. Da habe ich meist Theebesuch; mein Bräutigam kommt, oder andere Bekannte.«

»Wollen Sie nicht bei mir eintreten?« fragte Hildegard.

»Ich denke, wir räumen zuerst um, nur das Bettzeug, das andere macht Anna morgen. Ohne sie bringen wir doch nichts fertig.«

Fräulein Schulze ging auf ihr Zimmer und erschien bald mit einem Arm voll Wäsche bei Hildegard. Unter einigen Scherzen wurde das Wechseln der Betten vollzogen.

»So, nun kommen Sie in Ihr neues Zimmer; der Theekessel steht noch drüben, wir wollen eine Tasse Thee trinken. Ich habe meinem Bräutigam heute abgeschrieben, wegen der Umzieherei.«

Die junge Frau sagte einige höfliche Worte und setzte sich neben ihre Hausfrau, die den Docht unter der Theemaschine anzündete.

Hildegard mußte immerfort auf den dunklen, fast schwarzen Kattunvorhang blicken, der das Zimmer in zwei Hälften schied. Dahinter stand das Bett und der Nachttisch. Hier vorn in der Nähe des Fensters befanden sich etliche Sessel, das Sofa, der Theekessel, eine Kommode, ein Kleiderschrank.[26]

»Gefällts Ihnen hier?« fragte Fräulein Schulze. »Ich müßte eigentlich für dieses Zimmer viel mehr fordern als für das andere, denn eigentlich sind hier zwei Apartements« setzte sie scherzend hinzu.

»Aber die Aussicht« warf Hildegard ein, die ans Fenster getreten war.

Sie wandte sich schauernd ab.

»Sind Sie schwindlich?« Fräulein Schulze lachte.

»Das ist ja schrecklich. Sind die Berliner Höfe alle so?«

»Beinahe alle.«

Ein enger Schacht, der so schmal war, daß man die Hand zum Fenster des Vorzimmers strecken konnte, das gegenüber lag, zog sich drei Stockwerke tief hinab. Modrige Feuchtigkeit bedeckte das viereckige Stück Asphaltboden dieses häßlichen Abgrundes.

»Die Fenster der übrigen Hinterzimmer sehen auch hinab« bemerkte Fräulein Schulze.

Deshalb war sie sofort mit dem Tausch zufrieden, dachte die junge Frau. Hier rückwärts war ja kein Tropfen frischer Luft. Zögernd nahm sie die Tasse heißen Thees, den das Fräulein ihr anbot. »Da sind auch einige Cakes.«

Hildegard dankte. Ihr wurde übel in dieser Luft. Die Vermieterin schien etwas gereizt zu werden.

»Sind Sie eine Dame von großen Ansprüchen,«[27] sagte sie im Laufe des Gesprächs, »was haben Sie eigentlich für Ihre dreißig Mark erwartet? Leute in vornehmen Häusern vermieten keine Zimmer. Und zuvorkommender gegen Sie, als ich bin, könnte ich auch nicht sein.«

»Aber ich danke Ihnen ja auch herzlich.« Hildegard zwang sich zur Heiterkeit und kämpfte die aufsteigenden Thränen nieder. Ich bin ja auch ganz zufrieden. Blos das Ungewohnte, die große Stadt ....«

»Na ja« meinte die Directrice und lehnte sich ins Sofa zurück, »das entschuldigt Sie ja auch. Sonst könnte ich Sie nicht begreifen. Sie sind hier bei anständigen Leuten. Meine Anna ist eine Perle, sie wird Sie aufs Beste bedienen.«

»Ist sie wirklich gut?« fragte Hildegard schüchtern. »Sie sieht« –

Fräulein Schulze lachte. »Sie ist häßlich. Aber auf das Äußere darf man nie gehn. Sehen Sie, mein Bräutigam ist auch kein Adonis, und doch ist er ein vorzüglicher Mensch. Anna ist die Aufopferung selbst. Denken Sie, einmal als ich schwer krank war, hat sie mich acht Wochen lang allein gepflegt. Sie ist kolossal ehrlich. Das bischen Häßlichkeit, na, das vergißt man in Anbetracht ihrer sonstigen Eigenschaften. Früher schlief sie nicht hier. Aber seit ich so elend war, bin ich froh, daß sie selbst gewünscht hat, hier nachts[28] über zu bleiben. Sie erspart sich Schlafgeld, und ich weiß, daß Jemand da ist, wenn ich nach Hause komme.«

Sie plauderten noch eine Weile, dann trennten sie sich mit einem freundlichen Gutenacht.

Hildegard kroch in das große Bett hinter dem dunklen Vorhang. Das Fenster stand weit offen. »Lassen Sie's geöffnet, damit Luft hereinkommt« hatte Fräulein Schulze gesagt.

Hildegard horchte anfangs auf jedes Geräusch; sie hatte sich hier ebenso wenig wie im Vorderzimmer einschließen können; beide Thürschlösser waren schadhaft. Aber endlich versank sie in Schlummer. Hier rückwärts wars wirklich ruhig, drückend ruhig. Das Geräusch der Stadt drang wie fernes Wogenrauschen herein, einschläfernd, müdemachend. – – – – –

Hildegard wußte nicht, was vorgegangen war. Ihre Lider hatten sich plötzlich geöffnet, und ein Schauern rann ihren Leib hinab. Sie starrte mühsam vor sich hin ins Dunkel, ohne jedoch die schwarze Finsternis durchdringen zu können. Es war etwas da, unfehlbar war etwas da, hier innen im Zimmer, ein Körper, etwas Fremdes, etwas Athmendes .... Die junge Frau blickte angestrengt auf den Vorhang; da teilte er sich, eine Hand glitt herein, strich über das Nachtkästchen neben dem Bett und zog sich zögernd zurück.[29]

Hildegard vermochte sich nicht zu regen; die Sinne vergingen ihr.

Als sie erwachte, war heller Tag.

Sie blieb eine Zeitlang liegen und ließ das Ereignis der Nacht an ihrem Geiste vorüberziehen. Wie, wenn sie nur geträumt hätte! Wenn nur der Genuß des starken Thees an dieser Hallucination schuld war. Oder ihr dummes Grauen vor dem dunklen Bettvorhang! Wenn, wenn aber nicht? Wenn es keine Wahnvorstellung, kein Traum war? An allen Gliedern zerschlagen, erhob sie sich und kleidete sich an. Sie wußte noch nicht, was sie thun sollte. Ob sie sich Fräulein Schulze mitteilen sollte oder nicht? Sie verließ das Zimmer, um zum Frühstück zu gehen.

»Juten Morjen, Frau Wallner. Jut jeschlafen im neuen Bett? Heut is zeitijer als jestern. Na is et da hinten ruhijer?« Das Dienstmädchen näherte sich ihr freundlich.

Hildegard wollte zuerst nicht antworten, dann bezwang sie sich. »Ja, ich habe besser geschlafen.«

»Na sehn Se woll. Nu wern Se immer so schlafen.«

Die graugrünen, von hellen Wimpern beschatteten Augen folgten der jungen Frau zum Ausgang.[30]

Quelle:
Maria Janitschek: Die Amazonenschlacht, Leipzig 1897, S. 17-31.
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