II

[111] Einige Tage später fuhr er in seinem leichten Jagdwägelchen die Landstraße hinab. Er kutschierte selbst. Oder vielmehr, die Zügel lagen lässig in seiner Hand, und das Rößlein trabte, wie es ihm gefiel. Es war ein kleiner Südungar voll Rasse und Übermut, manchmal voll drolliger Launen. Alle Leute hatten ihn gern und verzogen ihn. Er rannte jetzt unbekümmert um die Unebenheit des Bodens und die hüpfende Bewegung, in die sein Herr geriet, vorwärts. Es war eine ziemlich trostlose, öde Gegend. Den hier Ansässigen erschien sie freilich weder trostlos, noch öde. Sie liebten diese unendliche Ebene mit ihren verstreuten, ärmlichen Dörfern, aus denen nur spärlich die Gehöfte Begüterter hervortauchten.

Als Tralgoth ungefähr eine Stunde lang hingefahren war, veränderte sich die Landschaft. Der flache Erdboden wurde wellig, niedere Zäune begannen, hinter denen Obstbäume sichtbar wurden, Häuschen tauchten auf, zuerst vereinzelt, dann in[111] Gruppen beisammen, endlich lag ein kleiner Ort da mit seinen Gassen und Plätzen. Tralgoth ließ sein Rößlein rascher traben und wich gewandt den Rinnen und Pfützen aus, von denen die Wege bedeckt waren. Eine Viertelstunde weiter draußen hielt er an. Hier befand sich ein ziemlich vernachlässigtes Anwesen. Hochaufgeschossenes Gras stand im Garten; die fruchtbeladenen Bäume beugten sich unter ihrer Last zur Erde, anstatt durch Stangen gestützt zu sein. Von der Vorderseite des Hauses, das bessere Zeiten gesehen zu haben schien, hatte sich der Bewurf gelöst. Emmerich sprang ab, spannte sein Tier aus und führte es am Maul durch das verwitterte Steinthor.

»Grase, Kincs!«

Er selbst ging ein Stückchen weiter.

Im Garten, der unmittelbar am Hause begann, stand eine Zisterne mit hoch in die Luft ragender Ziehstange. Auf dem Rande dieser Zisterne saß ein Mensch neben einem Haufen aufgeschichteter Holzstangen und schnitzte.

»Bin ich blind, oder seh' ich recht? Hendrik Ösz arbeitet!«

Der Sitzende hob das Gesicht auf, ein wunderschönes Gesicht, dem nur ein Ausdruck des Kummers etwas Düsteres verlieh.

»Fürcht' dich nicht, ich streng' mich nicht zu sehr an.« Er legte Holz und Messer beiseite und trat dem Freunde entgegen.

»Rebstangen, für – wann?«[112]

»Na Gott, fürs nächste Jahr.«

»Und diesen prächtigen Herbst ließest du –«

»Äh, laß mich zufrieden. Komm herein!«

Einige Minuten später saßen sie vor einer Flasche Wein in einem weiten, öden Zimmer.

»Das ist einmal ein vernünftiger Gedanke!«

Hendrik sah den Freund dankbar aus seinen dunklen Augen an. »Sitze hier wie ein Verdammter, tagein, tagaus verlassen. Na, und wie geht's dir?«

»Mir? Bah! Du weißt ja, ein Rackerleben.«

Hendrik Ösz lächelte und strich sich über den kleinen dunklen Schnurrbart. »Wenn die Reichen jammern, was sollen die Armen thun?«

»Die Armen? Hm! Arbeiten.«

»Was?«

»Was? Die Löcher an ihren Häusern verstopfen.«

»Womit, wenn sie nicht Kalk und Sand kaufen können?«

»Sie sollen mähen, umackern, Schnaps aus ihrem verfaulenden Obst brennen.«

»Mit wessen Hilfe, wenn sie sich keine Knechte halten können?«

»Reden wir im allgemeinen, oder im besonderen?«

Hendrik lächelte. »Ich denke im besonderen?«

»Na, dann erlaube mir zu sagen, daß du ein – Esel bist.«[113]

»Ich hab' nichts gegen deine Bezeichnung einzuwenden, nur begründe sie.«

Emmerich zuckte die Schultern.

»Hab' ich dir nicht schon ein Dutzendmal Geld angeboten zur Restaurierung deiner Wirtschaft?«

Hendriks Augen blitzten auf; er griff hastig nach dem Glase und trank es leer.

»Du nimmst nichts geliehen. Das ist deine Eselei. Selbst der König nimmt geliehen, wenn er sich in Geldverlegenheit befindet. Was liegt denn auch daran?«

»Nichts, garnichts, aber ich thu's nicht, basta. Übrigens« – er stand auf und holte zwei Pfeifen, die er stopfte und für sich und den Freund in Brand setzte, »hast du überflüssiges Geld? Gestern war Brak hier.«

Emmerich machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Er – na, es ist ein Elend. Die Frau vor der Niederkunft –«

»Er soll weniger trinken!«

»Wenn's ihm besser geht, wird er das auch. –«

»Der alte Rattenschwanz! Wenn er weniger trinkt, wird's ihm besser gehen.«

Hendrik Ösz schüttelte heftig den Kopf.

»Die Frau vor der Niederkunft, fünf hilflose Kinder, von denen das älteste 10 Jahre zählt –«[114]

»Na, und?«

»Der Graf hat ihm die Pacht gekündigt, er soll aus dem Haus, weiß nicht wo ein, wo aus. Niemand borgt ihm. Wenn du dem –«

»Fällt mir nicht ein, nicht im Traum,« rief Emmerich und stieß mächtige Rauchwolken von sich. »Was braucht so ein Kerl zu heiraten, Kinder in die Welt zu setzen, noch dazu –«

»Damals, als er heiratete, ging's ihm gut. Er hoffte – auf manchem Menschen liegt aber ein Fluch.«

»Ach was!«

»Ein paar Mißernten, betrügerische Abnehmer, Krankheiten in der Familie, da hast du's!«

»Ja, ja, ein braver Kerl hätt' sich doch durchgearbeitet.«

»Ich sag' dir ja, auf manchem Menschen – und Brak ist doch gewissermaßen unser Freund. Schon von der Schulzeit her. Er war damals schon der, der am treuesten zu uns hielt. Ich erinnere mich dunkel, wie er uns mehr als einmal auf der Straße gegen die anderen Jungen verteidigte –«

»Ja, wenn du ruhig zusahst, wie sie mir an den Kragen gingen.« Aus Emmerichs Stimme klang trotz des Scherztons eine gewisse Bitterkeit hervor.

»Das that ich nie,« versetzte Hendrik ruhig. »Ich habe mich bloß oft zurückgehalten, weil ich fürchtete, zu schwer zuzuschlagen. Du kennst mich[115] ja. Ich schlafe bei offenen Thüren und Fenstern und greife ruhig in ein Vipernnest. Bloß vor einem fürcht' ich mich. Der sitzt da vor dir.« Er schlug sich auf die Brust.

Emmerich sah, wie peinlich berührt, auf die Spitzen seiner Stiefel. »Das verstehe ich nicht. Meiner bin ich stets Herr.«

»Ja du! Gute Eltern haben dich erzogen, jeden Stein von deinem Lebenswege entfernt. Du hast deinen Weihnachtsbaum behängt, deinen Tisch gedeckt gefunden. Du hast nur das beste vom Leben kennen gelernt.«

»Meinst du?« sagte Emmerich apathisch. »Und daß meine Jugend ein beständiges Kränkeln war, zählst du für nichts? Daß ich in der Zeit, in der andere Jungen ihre lustigsten Bubenstreiche ausführen, elend im Zimmer hinterm Ofen sitzen mußte, rechnest du für nichts?«

»Hä, hinterm Ofen ist gut warm sein, Freund! Was meinst du wohl, hättest du mit mir tauschen mögen?«

»Na Gott, dein Vater hat dich nicht totgeschlagen, sonst rauchtest du jetzt keine Pfeife.«

»Wahr, der Mann meiner Mutter hatte auch Tage, an denen er vor Trunkenheit selbst nicht mißhandeln konnte.«

»Sag' doch nicht der Mann meiner Mutter, das klingt so – na.«

»Er war aber nicht mehr, Freund.«

»Weißt du es gewiß?«[116]

»Bestimmt.«

»Sie starb ja, als du noch ein kleiner Schuljunge warst. Und dann all die Jahre mit dem Alten allein! Das war freilich eine traurige Zeit für dich. Wenn meine Eltern mich zu dir gelassen hätten, aber sie verboten es mir ja streng. Was that denn der Alte eigentlich immer?«

»Was er that? Was wird er gethan haben? Er ließ die Wirtschaft verkommen und trank.«

»Hast du eigentlich deine Mutter gern gehabt?«

»Als Kind sehr. Jetzt würde ich sie über die Schwelle jagen.«

»Hast du eine Ahnung, wer –«

»Nein,« rief Hendrik, »und ich will's auch nicht wissen.« Er führte das Glas so heftig an die Lippen, daß ein Stück davon abbrach.

Emmerich schwieg und wippte verlegen auf seinem Stuhl hin und her.

Nach einiger Zeit sagte Ösz ruhig: »Na, wie ist's also mit Brak, hilfst du dem armen Teufel aus?«

Emmerich begann auf den Tisch zu trommeln.

»Nein, ich hab's dir doch schon gesagt. Ein Mann, der leichtsinnig sein Weib ins Unglück stürzt –«

»Wieso?«

»Wieso? Na, bitte dich! Wenn ein Kerl ohne Heller ein junges, unerfahrenes Ding mit in sein ungewisses Schicksal reißt –«[117]

»Nicht wahr, das ist eine Unverantwortlichkeit,« fiel Hendrik lebhaft ein.

Der Freund blickte ihn verwundert an.

»Ich brächte es niemals über mich; an andere leg' ich einen andern Maßstab als an mich selbst.«

»So? Das thu' ich nicht,« meinte Emmerich kühl.

»Gesundheit!« Er trank dem Freunde zu. »Reden wir nicht mehr von der Sache. Du kannst jede Stunde zu mir kommen, mein Schrank steht dir offen. Einem andern nicht.«

»Na dann, ich brauch' nichts.«

»Was meinst du?«

»Es nützt doch nichts. Auf manchem Menschen liegt's eben. Punktum.«

Hendrik starrte vor sich hin.

»Du,« sagte Emmerich nach einer Weile leiser, »was hältst du eigentlich von der Kyrilla Szamosch; würdest du sie an meiner Stelle heiraten?«

»Kyrilla Szamosch?! Kyrilla Szamosch?! Ob ich sie heiraten würde, wenn ich du wär'? Hat sie ja gesagt?«

»Sie hat ja gesagt. Aber ich weiß nicht, ich bin so unschlüssig. Deshalb kam ich eigentlich zu dir. Ich wollte deinen Rat hören.«

»Sie hat ja gesagt?«

»Nun natürlich. Das stand doch zu erwarten. Ihr Leben bei der alten taubstummen Base ist[118] gerade kein beneidenswertes. Andere Verwandte besitzt sie nicht. Deshalb fiel auch meine Wahl auf sie. Eine Frau mit Anhang ist mir fürchterlich. Weiß Gott, ich war mei nen Eltern sehr gut, aber ihre Bevormundung durch das ganze Leben hindurch hätte mich zum Selbstmord getrieben. Kyrilla steht allein. Die Taubstumme verläßt ihre alte Baracke nicht. Also was meinst du dazu?«

»Nichts,« entgegnete Hendrik mit schwerer Zunge.

»Gefällt dir das Mädchen nicht?«

»O – sie gefällt mir. Seit – seit wann hast du den Entschluß zu heiraten gefaßt?«

»Seit ganz kurzem. Seit die Alten gegangen sind, ist's kaum auszuhalten vor Einsamkeit. Man glaubt sich tot in dem leeren Haus. Die geschlossenen Thüren sehen einem wie lauter Fragen entgegen, auf die man keine Antwort weiß.«

»Ja, ja, es ist öde in einem Haus allein zu wohnen. Du kannst dir ja den Luxus erlauben, eine Frau hineinzusetzen.«

»Nun ja.«

»Und – und wenn sie ja gesagt hat – sie hat also ja gesagt?«

Emmerich nickte.

»Dann seid ihr ja im reinen.«

»Und du meinst also –«

»Laß mich in Ruhe,« brüllte Hendrik plötzlich auf und erhob sich.[119]

Tralgoth sah ihn verdutzt an. »Ja, was – was hast du denn? Was – ich versteh' nicht.«

»Ich will bloß Wein holen.« Ösz ergriff die geleerte Flasche und verließ die Stube. Emmerich sah ihm kopfschüttelnd nach. »Er scheint betrunken zu sein. Ein verrückter Mensch! Aber Teufel, wie viel ist's denn eigentlich?« Er zog seine Uhr. »Bald halb sechs.« Erschrocken sprang er auf. Ösz kehrte eben mit der frisch gefüllten Flasche zurück.

»Das mußt du nun allein besorgen.« Tralgoth deutete auf die Flasche. »Ich muß schleunig nach Hause. Also du, auf die Hochzeit kommst du doch natürlich?«

»Selbstverständlich.« Hendrik lachte. Dann gingen sie zusammen hinaus.

»Kincs,« rief Tralgoth und sah sich im Garten um.

»Kincs ist hier?«

»Ja, ich hab' ihn dir zu Ehren eingespannt.«

Hendrik flog wie ein Pfeil durch den Garten, das Roß zu suchen. Als er es fand, schlang er den Arm um seinen Hals und vergrub seinen Kopf in die Mähne des Tieres. Das Pferd beschnupperte ihn zärtlich und hielt mäuschenstill.

Als Ösz das Gesicht aufhob, lag ein Ausdruck wilden Leides auf ihm.

»Komm, Kincs, komm zu deinem Herrn.«[120]

Das Tier wurde eingespannt, und Emmerich fuhr ab. Hendrik sah ihm nach.

Auch das Pferd, Hendriks stillen Wunsch, hatte er eines Tages erworben.

Hendrik war damals wie ein Narr um das Haus des Roßhändlers herumgestrichen. Aber mit Gras oder Äpfeln konnte er nicht bezahlen.[121]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 111-122.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon