V

[140] Als das erste Reis ausschlug, sagte sie zu Emmerich: »Ich glaube, wir waren die längste Zeit allein.« Er sah sie verdutzt an. »Wenn es wahr wäre! Aber du wirst dich täuschen.«

»Ich täusche mich nicht.«

»Glaubst du wirklich? Dann schone dich nur recht. Du brauchst nicht mehr nach der Küche zu sehen. Auch kann der Doktor dich dann und wann besuchen.«

Gott sei Dank, Gott sei Dank! dachte er. Nun hatte die Einsamkeit ein Ende. Mochte die Frau dann ihre geheimnisvollen Freuden weiter haben, er hatte das Kind. Er teilte die Botschaft allen seinen Bekannten mit. Und alle sagten wie er: Gott sei Dank! Das wäre es ja nur gewesen, was ihr gefehlt hätte.

Sie selbst trat in den Schatten vor dem Ereignis, das sie brachte. Und sie war froh, daß sie im Schatten blieb. Wenn sie sich hätte sagen können: dieses Kind wird dein sein, geheimnisvoll[140] verknüpft mit deinem innersten Seelenleben ... du wirst deine Thränen in sein Gesicht weinen, und Gott wird ihm Rosen daraus blühen lassen! Aber sie fühlte sich jetzt schon fast ihres Eigentumsrechts als Mutter beraubt. Wie von neidischen Händen fühlte sie das Kind sich entzogen. Emmerich beobachtete sie mißtrauisch. Die Empfindungen, die sie jetzt dem Kinde einflößte, die brachte es mit auf die Welt. Die blieben sein Erbe. Mit denen würde es vielleicht zu kämpfen haben. Weshalb gab die Natur der Frau so unermeßliche Vorzüge vor dem Mann? Er muß warten, bis sie das Fertige hergiebt. Von ihr hängt das Schicksal des Vaters ab. Säet sie Haß in die Brust des Werdenden, so wird Haß aus ihm treiben. Teilt sie ihm ihre Schwermut mit, so wird es die Sonne mit freudlosem Blick begrüßen.

Seltsamerweise änderte sich das Verhältnis der Gatten zu einander nicht. Sie blieben einander gleich fern und fremd. Jedes von ihnen belauschte gleichsam die Gefühle des andern. Und in jedem von ihnen erwachte jetzt schon eine Art eifersüchtiger Regung auf das kleine Geschöpf, das noch gar nicht da war. Emmerich verließ eltener das Haus, um in ihrer Nähe zu sein.

Im September genas sie eines Knaben. Die Frauen, die um sie waren, betrachteten sie von diesem Tage an mißtrauisch. Eine solche steinerne Ruhe bei einer Geburt zu bewahren,[141] erschien ihnen als etwas Ungeheuerliches, Unheimliches. Kein Mensch hatte einen Ton, einen Laut vernommen, bis das Kind schrie. Sie selbst verhielt sich so, als ob sie die ganze Sache nichts anginge. Nach drei Tagen war sie wieder auf den Füßen. Sie konnte ihr Kind nicht selbst stillen, man nahm eine Amme. Emmerich war froh darüber. Er ließ Amme und Kind nicht aus den Augen. Er führte in allen Angelegenheiten seines Söhnleins das Hauptwort. Kyrilla ließ ihn gewähren. Sich dagegen auflehnen, wäre fruchtlos gewesen, denn er war sehr zäh, wo es seinen Willen durchzusetzen galt. Der Kleine war ein ruhiges Kind. Selten hörte man ihn weinen. Er sah seinem Vater ähnlich und besaß dessen schöne blaue Augen.

Solange die Amme im Hause war, gab es etwas mehr Leben als sonst. Als man sie entlassen hatte, sank der Tralgothhof in die gewohnte Ruhe zurück. Kyrilla war eine sorgsame Wächterin des Kindes, aber seine eigentliche Magd war Emmerich. Er trug es umher, fütterte es, beschäftigte sich den ganzen Tag mit ihm. Es blieb ernsthaft, wenn die Mutter kam; erschien der Vater, so lachte es.

Indessen zeigten Emmerichs Einnahmen einen bedeutenden Rückgang. Da er keinen Verwalter besaß, der ihn im großen betrügen konnte, so suchten ihn die Dienstleute im kleinen zu hintergehen. Für gewöhnlich ging das schwer, weil[142] er persönlich seine eigenen Interessen wahrnahm. Nun aber hatten sie sich alle seine Ablenkungen zu nutze gemacht. Er kam bald dahinter und sah sich vor die Frage gestellt, entweder die Wirtschaft zu schädigen, oder sich weniger dem Jungen zu widmen. Mit schwerem Herzen entschied er sich für das letztere. Er fand sehr viel zu thun vor. Eilte er einmal in einer freien Stunde in die Kinderstube hinauf, so sah er mit leisem Unwillen, wie Mutter und Sohn sich enger aneinanderschlossen, seit er sie mehr sich selbst überließ. Es kam zu peinlichen Scenen. Kyrilla blieb ruhig und stellte alles seinem Willen anheim; das erbitterte ihn noch heftiger, denn er sah ein, daß er sie jetzt weniger denn je entbehren konnte. Die Scheu der Leute vor ihr hatte sich ihm mitgeteilt.

Sie wurde ihm durch alle ihre Charaktereigentümlichkeiten unheimlich und immer unverständlicher. Begegnete er ihr unvermutet auf dem Gange, so schrak er zusammen. Fühlte er beim Essen oder des Abends, wenn er rauchend in der Wohnstube saß, ihre Blicke plötzlich auf sich haften, so durchzuckte es ihn peinlich. Es schien ihm, als ob ihre Augen immer dunkler und größer wurden.


Eines Nachmittags hatte er in der Stadt zu thun. Es dämmerte bereits, als er seine Geschäfte[143] beendet hatte und nach der kleinen Weinstube neben dem Theater ging, um sich zu stärken. An der Ecke zwischen Marktplatz und Theatergasse stieß er mit seiner Frau zusammen. Sie schien blasser als sonst zu sein, und ihre schwarzen Augen richteten sich verwundert auf ihn.

»Was thust du hier?« fragte er nicht sehr freundlich.

»Ich habe die Base besucht.«

»Und das Kind blieb allein?«

»Liska ist bei ihm. Ich bin nur für eine halbe Stunde fortgegangen; die alte Frau ist sehr krank.«

»Das ist sie doch, so lang' sie lebt,« sagte er hämisch.

»So wie jetzt, war sie es noch nie. Der Pfarrer hat ihr die letzte Ölung gegeben.«

»Nun mach' nur, daß du nach Haus kommst, das Kind braucht dich; sterben muß jeder allein.«

Kyrilla senkte die Stirne. »Ja, es ist das Beste für sie, wenn sie stirbt.«

Dann trennten sie sich.

Am andern Tage beim Mittagessen sagte sie ruhig zu ihm: »Weißt du schon, daß die Base gestorben ist?«

»Wann?« rief er.

»Noch gestern Abend.«

Er erblaßte und legte den Löffel aus der Hand. Dann schützte er Kopfschmerzen vor und entfernte sich vom Tisch. Jener finstere Ausdruck[144] in Kyrillas Gesicht, als sie gestern sagte: ›Ja, es ist das Beste für sie, wenn sie stirbt‹, war lebendig vor seine Augen getreten. Wie willig hatte die Alte gehorcht. Oder hatte sie nicht gehorcht? Hatte sie müssen – Unsinn! Er faßte mit beiden Händen an seine klopfenden Schläfen. Was hatte er sich da ins Haus genommen? War das der harmlose ›Singvogel‹, an dem er sich hatte freuen wollen? Er ging nach der Kinderstube. Bela schlief und atmete ruhig. Emmerich schritt wieder hinaus. Er wanderte draußen auf dem Gang auf und nieder, dann ging er hinunter, nahm Mütze und Rock und verließ das Haus. Er schlenderte die Straße entlang. Wenn er doch alles ungeschehen machen könnte! Wenn er wieder allein wäre! Diese Frau brachte ihn noch um den Verstand. Er begriff sie immer weniger. Er begann Grauen vor ihr zu empfinden. Wie, wenn sie ihm eines Tages Gift eingab? Oder ihn durch ihren Willen zu sterben zwang. Sie besaß etwas, das andere nicht besitzen. Eine Überlegenheit, deren Wurzel ihm unbekannt war. Wenn er nur das Kind von ihr fortbrächte! Das Kind und er allein!

Schließlich kehrte er wieder nach Hause zurück und suchte seinen Sohn auf. Kyrilla hatte ihn auf dem Schoß und spielte mit ihm. Als der Knabe die Augen des Vaters mit einem Ausdruck, der ihm fremd war, auf sich gerichtet[145] sah, begann er nach Kinderart das Gesicht zu verziehen und zu weinen.

Dieses an und für sich bedeutungslose Vorkommnis übte den stärksten Eindruck auf Emmerich aus. Sie flößt ihm Widerwillen gegen mich ein, dachte er, das war ja auch längst voraus zu sehen. Auf welche Weise er sich ihrer nur entledigen konnte! In der Nacht erwachte er alle Augenblicke und lauschte. Schlief sie? Sie atmete ruhig, aber nicht wie ein Schlafender. Seine krankhaft überreizte Phantasie ließ ihn ihr Gesicht sehen, aus dem die großen Augen drohend in das Dunkel blickten. Er wollte fragen, weshalb sie nicht schlief, überwand sich aber. Was nützte es auch? Er mußte ja doch neben ihr ausharren. Dem Richter würde die Fülle des Anklagematerials, das er gegen sie in sich aufgespeichert hatte, wenig einleuchten. Vor ihm würde er seinen Wunsch, sich von ihr scheiden zu lassen, nicht begründen können. Überdies war er ja auch katholisch und eine Scheidung erschwert. Er grübelte. Dann kam der blasse Morgen durch die Fenster gehuscht.

Kyrilla stand auf, kleidete sich an und verließ das Schlafzimmer. Er atmete auf. Er streichelte die langen, niederwallenden Vorhänge des mächtigen Betthimmels, unter dem schon seine Eltern geruht. Er begriff nicht, jetzt nicht, wie er sich nicht behaglich in diesem gemütlichen Zimmer fühlen konnte. Die breiten, behäbigen Mahagonimöbel[146] hatten nicht das geringste Geheimnisvolle an sich. Die Mater Dolorosa mit den sieben Schwertern in der Brust, die an der Wand hing, schien Frieden auszuströmen. Ja, wenn er allein war!

Wie hatte ihn nur jemals das Alleinsein verdrießen können! Es war ihm damals so ängstlich, so stickig zu Mute gewesen. Es lag übrigens von jeher etwas Gedrücktes, Banges in ihm. Er wußte nicht, weshalb. Jetzt erschien ihm das Alleinsein als ein beneidenswerter Zustand. Vielleicht ließe es sich doch irgendwie erreichen. Und plötzlich erinnerte er sich eines Rechtsanwalts in Budapest, der oftmals für seine Eltern juristische Geschäfte besorgt hatte. Wie wär's, wenn er den zu Rate zöge? Er würde ihm sein Herz ausschütten, vielleicht wußte der Mann einen Ausweg. Mit der Hast eines Kindes sprang Emmerich aus dem Bette und kleidete sich an.

Beim Frühstück sah er Kyrilla unsicher an. Er müsse nach Budapest reisen. Sofort. Wann er zurückkäme, wisse er nicht. Sie blickte ihn an. So, nach Budapest. Was sie ihm einpacken solle? »Nichts,« rief er ungeduldig. Eine andere Frau hätte doch sicher die Hände zusammengeschlagen. Wie, auf einmal nach Budapest? Ja, warum denn? So plötzlich? Was er dort zu thun hätte, und so weiter. Sie natürlich that so, als wüßte sie bereits, weshalb er ging. Wußte sie es vielleicht?[147] Er sah ihr heimlich mit einem forschenden Blick in die Augen. Noch am selben Tag reiste er.

Sie blieb allein mit dem Kinde. Weil es schon spät im Herbst war, ging sie wenig hinaus. Bela hatte eben seine ersten Gehversuche begonnen und krabbelte vergnügt auf der Diele umher. Manchmal schickte sie die Kindsmagd für eine Weile hinaus. Dann hob sie ihn an ihre Brust und preßte ihr Gesicht an seines. Des Nachts nahm sie ihn zu sich in das große Himmelbett. Hand in Hand schliefen sie ein. Er war garnicht ausgelassen wie andere Kinder. Etwas Sinnendes, Nachdenkliches sprach aus seinem kleinen Gesicht.

Oft saßen sie halbe Stunden lang aneinander gelehnt und blickten sich an. Wenn er dann seinen Kopf an ihre Wange schmiegte, durchlief sie ein Zittern des Glücks. Sie streichelte sein Haar und küßte es. Worte gebrauchte sie wenig. Ihre Augen, die Bewegungen ihrer Hände, ihres ganzen Leibes verrieten den Vorgang in ihrem Innern.[148]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 140-149.
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