14. Hundposttag

[679] Das philosophische Arkadien – Klotildens Brief – Viktors confessions


Ich habe nur vorher zwei Dinge zu erklären, das unbekannte Getön und das Verschließen der Augen. Jenes floß von einer auf die Trauerbirke gelegten Äolsharfe aus; sooft Emanuel zu nachts hieherkam, mischte er in die flüsternden Blätter diese abgehauchten Töne wie Blüten ein, um sich zu erheben, wenn er allein die erhabne Nacht ansah. Die Augen tat er oft vor der Sonne und dem Monde zu, wenn sein innerer, wie ein Cherub geflügelter Mensch gerade die Erlaubnis hatte, sich in weiche Phantasien einzusenken: in die fließenden bunten Licht-Wogen, die durch die[679] Augenlider drangen, tauchte er sich dann wie in einen Zephyr mit süßem Verschwimmen unter, und in diesem Lichtbad sog der höhere Lichtmagnet in ihm Himmellicht aus Erdenlicht. Da es nur wenige Seelen gibt, die wissen, wie weit die Harmonie der äußern Natur mit unserer reicht, und wie sehr das ganze All nur eine Äolsharfe ist, mit längern und kürzern Saiten, mit langsamern und schnellern Bebungen vor einem göttlichen Hauche ruhend: so fodre ich nicht, daß jeder diesem Emanuel vergebe.

Nach dem über ein ganzes Leben hinschimmernden Wiederfinden kamen beide bei dem blinden Jüngling an, und seine Flöte hob das Herz aus dem schlagenden Fieberblut sanft in den beruhigten Äther des Himmels im Traume hinüber.

Da ich so gerne um Emanuel bin: so gönne mir der Leser die Freude, alle Stunden auseinander zu blättern, die wir in seinem Hause verbringen dürfen, und recht Schritt vor Schritt zu gehen.

Der Morgen deckte dem Zöglinge Emanuels wie Kindern erst auf, was die Nacht seinem Herzen für ein Christgeschenk bescheret hatte. Welche Gestalt trat im Morgenglanz vor ihn, da das stille, kindliche, beruhigte Gesicht des Lehrers, über das einmal Stürme gezogen waren, wie auf dem sanften weißen Monde Vulkane gelodert haben, ihn auf eine Weise anlächelte, daß sein Inneres in stummer Wonne zerfloß! Besonders im Profil angeblickt, schien diese hohe Gestalt am Ufer der Erde zu stehen und hinunterzuschauen in die zweite Halbkugel des Himmels, die uns der Stein auf dem Grabe und der fette Trift-Boden dieses Lebens verdeckt. Sein Angesicht verklärte sich, wenn er es zum Himmel aufhob – wenn er Gott nannte oder die Ewigkeit – wenn er vom längsten Tage sprach; in seinem Lichte erblaßte das Glanzgold der Gegenwart zum Mattgold der Vergangenheit, und sein Geist ruhte schwebend auf dem Körper, wie in Arabesken Genien aus Blumen keimen. So leicht stimmte sich Viktor nie aus dem Traum in den neuen Tag als an diesem Morgen durch Emanuels Stimme, die sozusagen die Sphärenmusik zum blauen Himmel seiner Augen war, aus welchem wie aus dem ägyptischen nie ein Tropfe fiel; er konnte aus Unvermögen seiner Tränendrüsen niemals weinen; auch erschütterte dieses Leben seine Seele nicht mehr.[680]

Das reine Morgenzimmer machte gleichsam die Seele rein und still. Er war der größte körperliche Purist, er wusch seinen Körper ebensooft als seine Kleider, und der Schmutz der medizinischen Sprache wurde bis sogar auf Wörter, wie z.B. Zahnstocher etc., von seiner unbefleckten Zunge gemieden. Ebenso blieb sein Herz sogar von den bloßen Bildern großer Sünden unbesudelt; und diese unwissende Unschuld, so wie eine Unbekanntschaft mit unsern listigen Sitten, machte ihn in drei verschiedenen Augen entweder zum Kinde – oder zum Mädchen – oder zum Engel. –

Das Frühstück von Wasser und Früchten – die überhaupt seinen ganzen Küchenzettel besetzten – rückte strafend unserm Viktor den Wein und Kaffeesatz vor, womit er die Blumen seines Geistes, wie irdische, zuweilen düngen mußte. Blumenscherben waren Dahores Dosen und glühten unter dem Lindengrün, das, von zwei zahmen und doch freien Grasmücken durchhüpft, das lebendige wachsende Deckenstück des Zimmers war. Auch seine Seele schien, wie ein Brahmin, von poetischen Blumen zu leben, und seine Sprache war oft, wie seine Sitten, indisch, d.h. poetisch. So war überall, wie bei mehren Menschen-Magnaten, eine auffallende vorherbestimmte Harmonie zwischen der äußern Natur und seinem Herzen – er fand im Körperlichen leicht die Physiognomie des Geistigen und umgekehrt – er sagte: die Materie ist als Gedanke ebenso edel und geistig als irgendein anderer Gedanke, und wir stellen uns in ihr doch nur die göttlichen Vorstellungen von ihr vor; – z.B. unter dem Frühstück vertiefte er sich in den glimmenden Tautropfen in einer Levkoje und spielte durch das Wiegen des Auges das Farbenklavier derselben durch. »Es muß« – sagte er – »irgendeine Harmonie zwischen diesem Wasserstäubchen und meinem Geiste zusammenklingen, wie zwischen der Tugend und mir, weil beide mich sonst nicht entzücken könnten. Und ist denn dieser Einklang, den der Mensch mit der ganzen Schöpfung (nur in verschiedenen Oktaven) macht, nur ein Spiel des Ewigen und kein Nachhall einer nähern, größern Harmonie?« Ebenso blickte er oft eine glimmende Kohle so lange an, bis sie ihm zu einer Flammen-Aue sich ausgebreitet[681] hatte, die er, von sanften Phantasien beleuchtet, auf- und niederwandelte....

Erdulde, Leser, diese blumige Seele; wir wollen beide denken, daß die Menschen leichter eine Religion als eine Philosophie haben können, und daß jedes System sein eignes Gewebe des Herzens voraussetze, und daß das Herz die Knospe des Kopfes sei.

Der einzige Umstand schmerzte den beglückten Viktor an diesem Morgen, daß er den schönen Blinden nicht umfassen und fragen durfte: »Haben wir nicht schon beisammengelebt, und ist dir meine Stimme nicht so bekannt wie mir deine?« Denn er hielt ihn (wie ich auch) aus mehren Gründen für den zurückgebliebnen Sohn des Pfarrers Eymann. Da aber Dahore darüber schwieg – in dessen hellen lichten Himmel man sonst bis zum kleinsten Nebelstern hinabschauen konnte –: so fürchtete er, vor diesen frommen Ohren seinem Eide des Schweigens zu nahe zu reden, wenn er auch nur seine fragenden Vermutungen über den Blinden entdeckte. Dieser Julius schien nur zwei Wurzeläste seines Wesens zu haben, deren einer in die Flöte und der andre in seinen Lehrer ging. Auf seinem weißen Angesicht, worauf die Trunkenheit des musikalischen Genies und die Abgezogenheit des träumenden Blinden sich mit einer fast weiblichen Schönheit verband, stand der Widerschein seines Lehrers, und die Fibern desselben hatten sich wie Lautensaiten nur in harmonischen Bewegungen geregt. Der arme Blinde, der seinen Dahore für seinen Vater ansah, wurde wie eine Flaumfeder bloß von seinem kleinsten Hauch gelenkt. Viktor zog oft den Kopf des lieben Blinden nahe an sein Gesicht, um die zerstörten Augen zu mustern, ob sie wieder herzustellen wären. Aber ob er gleich mit Schmerzen sah, daß der Unglückliche unheilbar in der vollen lichten Erde bleibe: so wiederholt' er doch immer die nahe Erforschung, bloß um die reizende liebe Gestalt näher an seinem Auge und an seiner Seele zu haben.

Emanuel führte am Morgen als Cicerone der Natur seinen Gast durch die Ruinen und Antiken der Erde; denn jeder Baum ist eine ewige Antike. Wie verschieden ist ein Spaziergang mit einem frommen Menschen, und einer mit einer gemeinen Weltseele! Die Erde kam ihm heilig vor, erst aus den Händen des Schöpfers[682] entfallen – ihm war, als ging' er in einem über uns hängenden überblümten Planeten. Emanuel zeigte ihm Gott und die Liebe überall abgespiegelt, aber überall verändert, im Lichte, in den Farben, in der Tonleiter der lebendigen Wesen, in der Blüte und in der Menschenschönheit, in den Freuden der Tiere, in den Gedanken der Menschen und in den Kreisen der Welten – denn entweder ist alles oder nichts sein Schattenbild –; so malt die Sonne ihr Bild auf alle Wesen, groß im Weltmeere, bunt in Tautropfen, klein auf die Menschen-Netzhaut, als Nebensonne in die Wolke, rot auf den Apfel, silbern auf den Strom, siebenfarbig in den fallenden Regen und schimmernd über den ganzen Mond und über ihre Welten.

Viktor fühlte heute zum ersten Male die Vergrößerung und Verklärung seines Ichs vor einem Geiste, der, ihm ähnlich, aber überlegen, gleich einem sphärischen Hohlspiegel alle Züge seines edlern Teils kolossalisch zurückwarf. Der ganze pöbelhafte Teil seiner Natur verkroch sich, als der höhere sich, von Dahore ins Große gemalt, über die liegenden Triebe aufrichtete. Ein Mensch, den die Sonnennähe eines großen Menschen nicht in Flammen und außer sich bringt, ist nichts wert. Er wollte kaum sprechen, um nur immer ihn zu hören, ob er gleich vorhatte, recht viele Tage dazubleiben. Er war wie vor einem höhern Wesen und vor einer Geliebten, vor denen man weder seinen Kopf noch seine Zunge zeigen will, mit Verzicht auf sein Ich in lautere Wahrheit und Liebe versunken. Von den kleinen Verhältnissen des Orts und des bürgerlichen Lebens war aller Firnis so rein abgesprungen, und sie standen ihm alle so vermooset da, daß er nicht einmal die Namen von Göttingen, von Flachsenfingen, oder leere Lebenvorfälle oder fremde Personalien nennen wollte. Viktor hatte überhaupt eine kleine Verachtung für die Menschen, denen die Nachricht an den Buchbinder lieber ist als das Buch, und die Rezension eines Autors lieber als sein System, und für welche die Erde keine Entzifferkanzlei des Buchs der Natur, sondern ein Sprachzimmer, eine Zeitungbude elender Personalien ist, die sie weder benutzen noch behalten noch beurteilen, sondern nur erzählen wollen; und es ekelten ihn die deutschen Gesellschaften,[683] in denen man so wenig philosophiert. – O wie selig war er, einmal einen ganzen Tag mit einem andern denken, und was noch schöner ist, zugleich dichten zu dürfen!

Seine Zweifel über das Größte, was unsern Kopf erdrücken und unser Herz erheben kann, wurden heute zu Fragen – die Fragen zu Hoffnungen – die Hoffnungen zu Ahnungen. Es gibt Wahrheiten, von denen man hofft, große Menschen werden stärker von ihnen überzeugt sein, als man es selber sein kann; und man will daher durch ihre Überzeugung die seinige ergänzen. Dahore hielt die zwei großen Wahrheiten (Gott und Unsterblichkeit), die wie zwei Säulen das Universum tragen, fest an seinem Herzen; aber er fragte wie die seltnern Menschen, denen die Wahrheit nicht bloß das Schaugericht der Eitelkeit und der Nachtisch des Kopfes ist, sondern ein heiliges Abend- und Liebemahl voll Lebengeist für ihr müdes Herz, er fragte wenig darnach, wenn er keine Anhänger machen konnte. Viktor fühlte, daß er den Artillerietrain und die elektrischen Pistolen und Batterien der Disputierkunst besser zu handhaben verstehe als Emanuel; aber er würde seine eigne Zunge verabscheut haben, wenn sie ihre Leichtigkeit gegen diese schöne Seele gerichtet hätte. Er schwieg aus zwei Gründen. »Versuch es,« sagt' er, »von einer großen, dein ganzes Wesen umfassenden leuchtenden Wahrheit auf dem fliegenden Sekundenweiser, worauf man im flüchtigen Gespräche steht, mit den wenigen trocknen Tuschen, womit menschliche Ideen anzufärben sind, und mit der unbehülflichen Menschenzunge, womit du diese Farbenkörner ausbreiten mußt, versuch es, von deiner Wahrheit ein Schmelzbild, ein Altarblatt zu gehen – wahrhaftig ein Schattenriß, ein durchsichtiges Sternbild wird alles sein, was du liefern kannst.« Der lichte Himmel gewisser einfacher tieffühlenden Menschen hüllet, wie der äußere, alle seine Sonnen, die wärmste ausgenommen, mit dem Schein eines öden Blaues zu; aber der unreine Himmel anderer voll Witz und Logik ist mit Nebensonnen, Bögen, Nordscheinen, Wolken und Rot geputzt.

Der zweite, bessere Grund, warum er die Opponenten-Ehre verschmähte, war sein Herz, das mehr in sich schloß, als der Kopf[684] beleuchten konnte. Gewisse Ansichten können nicht so leicht wie Mauergemälde in Italien abgelöset werden und aus einem Kopfe in den andern gebracht – das Licht, das dir der andre gehen kann, zeigt, aber zimmert nicht den Hausrat deines Innern, und das, was das Licht bei einigen wirklich erschafft, ist Lufterscheinung, optischer Betrug, aber kein Körper34. – Daher kommt es nicht auf das Zeigen und Ersehen einer Wahrheit, d.h. eines Gegenstandes an, sondern auf die Wirkungen, die er durch dein ganzes Inneres macht. Warum gibt es denn Menschen, die uns, wie Sokrates den Aristides, heiligen, bloß wenn wir bei ihnen sind? – Wie vermögen es große Schriftsteller, daß ihr unsichtbarer Geist in ihren Werken uns ergreift und festhält, ohne daß wir die Worte und Stellen angeben können, womit sie es tun, wie ein vollbelaubter Wald immer brauset, ohne sich mit einzelnen Ästen zu bewegen? – Warum überwältigte Emanuel seinen geliebten Horion – mehr als durch breite Thesesbilder, rationes decidendi und sententiae magistrales – bloß durch die Verklärung in seinem Angesicht, durch den leisen Echoton seiner Stimme, durch den Glanz in seinem Blick und durch die Andacht in seiner Brust, wenn er Wahrheiten, die der Sprache alt und dem Herzen neu waren, feierlich sagte, wie folgende:

Der Mensch geht wie die Erde von Westen nach Osten, aber es kommt ihm vor, er gehe mit ihr von Osten nach Westen, vom Leben ins Grab.

Das Höchste und Edelste im Menschen verbirgt sich und ist ohne Nutzen für die tätige Welt (wie die höchsten Berge keine Gewächse tragen), und aus der Kette schöner Gedanken können sich nur einige Glieder als Taten ablösen35.

Unsere zwecklose Tätigkeit, unsere Griffe nach Luft müssen[685] höheren Wesen vorkommen wie das Fangen der Sterbenden nach dem Deckbette.

Der Geist erwacht und wird erwachen, wenn das Sinnenlicht auslöscht, wie Schlafende erwachen, wenn das Nachtlicht auslöscht. – –

Warum blieben diese Gedanken als Schauder in der Seele? Weil Horion etwas Höheres fühlte, als je die Sprache, die nur für die Alltag-Empfindungen erfunden ist, wiedergeben kann – weil er schon in seiner Kindheit die Systeme haßte, die alles Unerklärliche verstecken, und weil der Menschengeist sich im Erklärlichen und Endlichen so erdrückt empfindet, als er es in einem Bergwerk oder durch den Gedanken ist, daß sich oben irgendwo der Himmelraum zuspünde.

Wie hätt' er den Mut oder Anlaß haben können, an einem solchen Tage Emanuel um seinen Sterbetag zu befragen, oder um Klotilden? – Viktor hatte jene gesellschaftliche Phantasie, die sich leicht in die Stelle der unähnlichsten Menschen, des Weibes und des Philosophen, versetzt. Abends ging Dahore ins Stift, um Astronomie, seine geliebteste Wissenschaft, zu lehren. Unter der astronomischen Lehrstunde wurde Julius offnes Gesicht ein offner Himmel; er sagte seinem Viktor alles wie einem zweiten Vater. Hier erzählte er ihm treuherzig, daß im vorigen Jahr immer ein Engel zu ihm gekommen, der seine Hand ergriffen, ihm Blumen gegeben, ihn freundlich angeredet und endlich von ihm in den Himmel gewichen, ihm aber einen Brief dagelassen habe, den er nach einem Jahre zu Pfingsten sich von Klotilden dürfe lesen lassen; ja dieser gute Engel sei gestern mit einem Kusse vor ihm vorbeigeflogen. Viktor lächelte froh, aber verschwieg seine Vermutung, daß er den Engel für ein scheues liebendes Mädchen aus dem Fräuleinstift ansehe. – »Gestern aber«, sagte Viktor, »war bloß ich der Engel gewesen, der dich so küßte!«- und wiederholte es. – Julius wußte geliebten Personen nichts Schöneres zu geben als das Bild seines Vaters – die Schilderung von der erhabenen Liebe desselben, die keinen Menschen vergaß, weil sie nicht auf die Vorzüge, sondern auf die Bedürfnisse der Menschen gebauet war – ferner von seiner Nachsicht, seiner Uneigennützigkeit,[686] da ihm eine lange Tugend den Kampf gegen sein Herz ersparte, und er nun nichts tat, als was er wünschte, und da ihm die tief herabhängende zweite Welt eine eigne Unabhängigkeit von Bedürfnissen predigte. 500000 Fixsterne erster Größe leuchten nach Lambert kaum dem nähern Vollmond gleich; und so überglänzt die Gegenwart immer unser Inneres; aber steige näher auf zum Fixstern der zweiten Welt, so wird er eine Sonne, die den Mond der Zeit und der Gegenwart in einen schmalen Nebel verwandelt. – Diesen Emanuel hatten alle Maienthaler lieb (sogar der Pfarrer, obwohl jener ein Nichtkatholik, Nichtlutheraner und Nichtkalvinist war); und er war gern von etwas abhängig, von fremder Liebe36. Unter dieser Schilderung sehnte sich Viktor wieder so bewegt nach ihm, als wären sie ein Jahr auseinander gewesen; daher legt' er sich im Abendrote unter Birkenblätter, dem Stifte gegenüber, um ihn sogleich mit heißen Armen in Verhaft zu nehmen.

Und als Viktor seine Seele hob an hohen weißen Säulen des vom Lord entworfenen Parks, an dem erhabenen Bildwerk, das einen großen Gedanken schrieb, der wie ein Gewitter aussah; und als er gerade eine herabgefallne Biene, deren Flugwerk ihr Honig verpichte, auf das Bienenbrett getragen hatte: so wandelte freundlich Dahore daher. Dieser verfiel selber – denn Viktor hätte das versteckte Herantreiben einer Materie für Sünde genommen – auf Klotilde und sagte, das sei ihre Lieblingstelle und die Ruhebank ihrer stillen Seele gewesen. Der Ort war nicht erhaben, aber, was noch mehr ist, dem Erhabnen gegenüber – (sogar die physische Großheit, z.B. ein Berg, hat die Ferne als ein Fußgestell nötig) – er lag am tiefsten im Tal, von Emanuels Blumenketten umfasset – die er oft unverzäunt anlegte, weil alle Maienthaler seine kleinen Freuden schonten –, von großen Kleefeldern angeweht, vom Monde, der im Frühling erst vom Berg herab diese Tiefe anstrahlte, mit einem schwermütigen Gemisch von Birkenschatten, Wasserglanz und lichten Stellen überdeckt und endlich[687] mit einer Grasbank geziert, deren ich nicht erwähnte, wäre sie nicht an beiden Enden mit großen niederwankenden Blumen besteckt, die zärtlich keiner erdrückte, der sich zwischen ihnen niederließ. Wie wurde Viktor betroffen – oder entzückt, als Emanuel nach dieser Klotilde fragte! Wie Tau-Juwelen, wie Freudentränen fielen alle Worte des Lehrers in sein lechzendes Herz, weil es Lobsprüche auf ihre weiche Seele waren, die ihre Tränen nur in fremde leitet und vor trocknen Herzen verdeckt, auf ihre feine Ehrliebe, die der männliche Tadel zu Kälte und der weibliche zu Stolz verdreht, und auf eine liebende Wärme, die man in ihrem wie eine Knospe festgeschlossenen Herzen nicht gesucht hätte, das jetzt die leblose Natur mit der belebten vermengt, um an jener diese lieben zu lernen. Es rührte Viktor bis zu Tränen, da Emanuel ihm seine aus diesem Eden entrückte Schülerin so warm anlobte; – und als er ihn noch dazu unbefangen bat, der Freund seiner Freundin zu werden und jetzo, weil er sterbe und weil sie nicht mehr komme – denn sie war das letztemal bloß dagewesen, um zu Pfingsten, unbelächelt von ihren Eltern, öffentlich mit den Stiftfräulein das Abendmahl zu empfangen –, jetzo seine Stelle zu besetzen bei diesem gegen die Sterne gehobnen Auge, bei diesem für die Ewigkeit bewegten Herzen: so hätt' er vor Rührung und vor Liebe dem Freund und der Freundin zu Füßen sinken mögen. – – In einem solchen Munde gibt das Lob des Gegenstandes allzeit der Liebe einen außerordentlichen Wachstum, weil diese immer Vorwand sucht und dann auf einmal zeitigt, wenn sie ihn gefunden.

Wenn dir, mein Freund, das Herz für ein fremdes nicht schnell und heftig genug schlägt – ob es gleich meines Erachtens schon fieberhaft pulsiert, nämlich 111 mal in einer Minute –, so gehe, um dein kaltes Fieber in ein warmes umzusetzen, dein viertägiges in ein tägliches, nur zu andern besonders geachteten Leuten hin und lasse dir sie vorloben, die Gute, oder nur oft vornennen: todkrank und mit deinen 140 Pulsschlägen versehen, gehst du weg und hast das verlangte Fieber am Hals.

Der unschuldige Emanuel, der Viktors Wärme nicht erriet, glaubte, er müsse noch mehr tun, um ihm die siebenfache Weihe[688] zum Priester der Freundschaft für Klotilden zu geben, und gab ihm einen – Brief von ihr. Du konntest es tun, Ostindier, da du hier ein im limbus infantum (im Kinder-Himmel) zum Engel gewordnes Kind bist, da du keine Geheimnisse hast, ausgenommen das Geheimnis der drei Kinder (daher dich der Lord nicht zum Vorleser seiner Briefe machte), und da du gar nicht ahnest, die Weggabe des fremden Briefes sei nicht recht. Doch dein Schüler hätte ihn nicht lesen sollen.

Der las ihn aber. Er kann sich mit nichts decken als mit meinem Leser, der hier diesen nämlichen fremden Brief, den dessen Stellerin nie für ihn geschrieben, doch auf seinem Sessel genau durchsieht. Ich meines Orts lese nichts, sondern schreibe nur das ab, was mir der Hund gebracht. – Es ist schön, daß dieser Brief von ihr gerade in der regnenden, melodischen Nacht des Gartenfestes gemacht war, wo er seinen ersten an Emanuel geschrieben hatte.


»St. Lüne den 4. Mai 179*.


Sie verlangen es vielleicht nicht, verehrungwerter Lehrer, daß ich mich entschuldige, da ich kaum aus Maienthal bin und schon mit einem Briefe wiederkomme. Ich wollte gar schon unterweges schreiben, dann am zweiten Tage und endlich gestern. Dieses Maienthal wird mir noch viele Täler verderben; jede Musik wird mir wie ein Alphorn klingen, das mich traurig macht und in mein Herz die Erinnerung an das Alpenleben unter der Trauerbirke bringt.

In dieser Stimmung würd' ich es meinem Herzen nicht verweigern können, sich zu öffnen und sich vor dem Ihrigen in den wärmsten Dank für die schönsten und lehrreichsten Tage meines Lebens zu ergießen: wenn ich nicht den Entschluß hätte, in einigen Tagen wieder in Maienthal zu sein; nach meiner zweiten Zurückkehr soll mein Herz seinen Willen haben.

In unserm Hause fand ich nichts verändert37 – auch in unsers[689] Nachbars seinem nichts; und ich fand in allen Seelen die Liebe wieder, womit wir auseinander geschieden waren, nur ist meine Agathe zwar lustig, aber doch es minder als sonst. Die einzige Veränderung in Herrn Eymanns Hause ist ein Gast, den jeder anders nennt: Viktor – Horion – Sebastian – junger Lord – Doktor. Diesen letzten Namen verdient er in vollem Maße durch seine erste Handlung und erste Freude in St. Lüne, welche die Heilung des blinden Lords Horion war. Welch ein Glück für den Geretteten und für den Retter! – Möge dieser Jüngling doch einmal durch Ihr Eden gehen und Ihren guten Julius antreffen, um an ihm die schöne Kunst zu wiederholen! – O sooft ich daran denke, daß das männliche Geschlecht mit dem Stoffe zu den größten göttlichen Wohltaten beglückt ist, daß es, wie ein Gott, Augen, Leben, Recht, Wissenschaften austeilen kann, indes mein Geschlecht sein Herz, das sich nach Wohltun sehnt, auf kleinere Verdienste, auf eine Träne, die es abtrocknet, auf eine eigne, die es verbirgt, auf eine geheime Geduld mit Glücklichen und Unglücklichen einschränken muß: so wünsch' ich, möchte doch dieses Geschlecht, das die höchsten Wohltaten in Händen hat, uns die größte vergönnen, es – nachzuahmen und Güter in die Hände zu bekommen, die uns beglückten, wenn wir sie verteilten! – Jetzo kann ein Weib mit nichts in ihrer Seele groß sein als nur mit Wünschen.

Ich komme gerade vom freien Himmel herein aus einem kleinen Gartenfeste bei meiner Agathe; und mir ist ordentlich jedes schöne tiefblaue Stück vom Himmel nicht recht, wenn es nicht über Ihrer Trauerbirke steht, wo Ihr Auge alle seine Schätze und Sonnen aufzählt und meinem Herzen alle Winke der unendlichen Macht und Liebe zeigt. Ich dachte heute im Garten mit einer fast zu traurigen Sehnsucht an Ihr Maienthal; Herr Sebastian erinnerte mich noch öfter daran, weil er einen Lehrer gehabt zu haben scheint, der dem meinigen ähnlich war38. Er sprach heute sehr gut und schien aus zwei Hälften zusammengesetzt zu sein, aus einer britischen und einer französischen. Einige seiner schönen Anmerkungen[690] sind mir nicht entfallen – z.B. ›Die Leiden sind wie die Gewitterwolken; in der Ferne sehen sie schwarz aus, über uns kaum grau. – Wie traurige Träume eine angenehme Zukunft bedeuten: so werd' es mit dem so oft quälenden Traume des Lebens sein, wenn er aus sei. – Alle unsere starken Gefühle regieren wie die Gespenster nur bis auf eine gewisse Stunde, und wenn ein Mensch immer zu sich sagte: diese Leidenschaft, dieser Schmerz, diese Entzückung ist in drei Tagen gewiß aus deiner Seele heraus: so würd' er immer ruhiger und stiller werden.‹ Ich berichte Ihnen alles dieses so ausführlich, um mich gleichsam selber zu bestrafen für ein voreiliges Urteil, das ich vor einigen Tagen (wiewohl in mir) über seinen Hang zur Satire fällte. Die Satire scheint auch bloß für das stärkere Geschlecht zu sein; ich habe in dem meinigen noch keine gefunden, die Swifts oder Cervantes' oder Tristrams Werke recht goutiert hätte. – –


Zwei Tage später. Ich und mein Brief sind noch hier; aber heute reiset er auf vier Tage vor mir voraus. Ich denke ordentlich, dieses letzte Mal werde mir jede Blume in Maienthal und jedes Wort, das mir mein bester Lehrer sagt, noch größere und tiefere Freude machen als je, weil ich gerade aus dem Geräusche der Besuche und mit einem so melancholischen Herzen hinkomme. Am Morgen nach jener schönen Nacht des Kirchgangfestes saß ich allein in einer Laube neben dem großen Teiche und machte mich durch alles trauriger, was ich sah und dachte – denn diesen ganzen Morgen stand wegen eines Traumes meine erblichene Freundin39 in meiner Seele – ihr Grab lag durchsichtig auf ihr, und ich blickte hinein und sah diese Himmellilie blaß und still in ihm liegen – ich dachte wohl daran, als der Gärtner Blumen mit den Töpfen in die Erde grub, daß der Körper, in dem wir grünen, auf gleiche Weise in die Erde zum künftigen Blühen komme, aber ich konnte doch meine Tränen nicht mehr stillen. – Vergeblich sah ich den heitern Frühling an, der jeden Tag neue Farben, neue Mücken, neue Blumen aus der Erde zieht – ich wurde nur betrübter, da er alles verjüngt,[691] aber den Menschen nicht. – Und als ich Herrn von Schleunes von weitem mit einem Froschschnepper auf den Teich zugehen sah, mußt' ich mich, weil er von ferne im Vorbeigehen meine Augen sehen konnte, schlafend stellen, um sie nicht zu verraten. – – Aber vor meinem teuersten Lehrer würd' ich sie geöffnet haben, wie jetzt, weil er mir meine Schwächen vergibt.

Klotilde v. L. B.«


*


Viktor hatte den linken Arm, womit er den Brief hielt, zu nahe ans Herz gelegt; und sein Arm und Brief fingen mit dem pochenden Herzen zu zittern an, und er konnte ihn kaum vor Rührung lesen und fassen. »Ein solcher Lehrer! – eine solche Schülerin!« weiter konnten seine Blicke nichts sagen.

Es war in ihm ein Streit, ob er seinem Freund die Liebe für Klotilden sagen sollte. Für das Geständnis war Emanuels Bitte, mit ihr umzugehen – sein gleichsam aus Fixsternen alle Kleinigkeiten der Erde beschauendes Auge – Viktors dankbare Begierde, ein Geheimnis mit dem andern zu vergelten – und am meisten, o! diese Liebe zu seinem Lehrer, diese Liebe seines Lehrers zu ihm....

– Und diese siegte auch, so viel auch sonst dagegen war. Denn wenn Viktors ganze Natur im Feuer der Freundschaft glühte, so stieg sein Herz immer höher und brannte, sich zu öffnen – er kämpfte noch mit ihm, und es schwieg noch – es liebte unendlich – es hob sich wie von einer unsichtbaren Macht empor – es brach endlich entzwei – die Brust ging wie vor Gott auseinander, und nun, Geliebter! schau hinein, aber verzeih ihm alles.

Er kriegte noch in sich, als der hinter ihrem Rücken heraufgehobene Mond ihre beiden Schatten-Kniestücke vor ihnen voraustrieb. – Er wurde durch Emanuels ziehenden Schatten an eine Stelle in seinem Briefe40 erinnert und an sein sieches Leben und frühes Verschwinden... Dieses zerspaltete sein Inneres, er wendete sanft seinen Emanuel gegen den herunterströmenden Mond um und sagte und zeigte ihm alles – aber nicht bloß seine Liebe, sondern seine ganze Geschichte – seine ganze Seele – alle seine[692] Fehler – alle seine Torheiten – alles, er war so beredt in dieser Minute wie ein Engel und ebenso groß – sein Herz wallete zerschmolzen in Liebe, und je mehr er sagte, je mehr wollte er zu sagen haben.

Auf dieser Erde schlägt keine erhabnere und seligere Stunde als die, wo ein Mensch sich aufrichtet, erhoben von der Tugend, erweicht von der Liebe, und alle Gefahren verschmäht und einem Freunde zeigt, wie sein Herz ist. Dieses Beben, dieses Zergehen, dieses Erheben ist köstlicher als der Kitzel der Eitelkeit, sich in unnütze Feinheiten zu verstecken. Aber die vollendete Aufrichtigkeit steht nur der Tugend an: der Mensch, in dem Argwohn und Finsternis ist, leg' immer seinem Busen Nachtschrauben und Nachtriegel an, der Böse verschon' uns mit seiner Leichenöffnung, und wer keine Himmeltür an sich zu öffnen hat, lasse das Höllentor zu!

Emanuel hatte die göttliche oder mütterliche Freude, die ein Freund über die Tugend und Veredlung des Freundes empfindet, und vergaß über der Freude die verschiedenen Anlasse derselben.

Ungern trenn' ich mich auf eine Nacht von diesem tugendhaften Paar. Möge ich noch viele Tage von Maienthal zu malen bekommen und Viktor noch viele da verleben! –

34

Aufklärung in einem leeren Herzen ist bloß Gedächtniswerk, sie strenge übrigens den Scharfsinn noch so sehr an; die meisten Menschen unserer Tage gleichen den neuen Häusern in Potsdam, in die (nach Reichard) Friedrich II. zu nachts Lichter setzen ließ, damit jeder und selber Reichard denken sollte, sie seien – bewohnt.

35

Die meisten Menschen haben vielleicht nur eine gleiche Zahl guter Gedanken und Taten; aber es ist noch nicht bestimmt, wie lange der Tugendhafte die guten Gedanken, die weniger als gute Handlungen der äußern Welt bedürfen, durch gleichgültige unterbrechen darf.

36

Denn der edelste Mensch hängt eben am meisten von liebenden Seelen ab, oder doch von seinen Idealen derselben, mit denen er aber nur insofern ausreicht, als er sie für Pfänder künftiger Urbilder ansieht. Ich nehme den Stoiker (diesen epikurischen Gott) und den Mystiker nicht aus: beide lieben in dem Schöpfer nur den Inbegriff seiner Geschöpfe; wir jenen in diesen.

37

Der Leser dieses Briefes wird leicht voraussetzen, daß Klotilde, da sie nicht weiß, in wessen Hände er fallen werde – ist er doch gar in unsern –, über ihre Verhältnisse und Geheimnisse (z.B. wegen Flamin, Viktor etc.) in einer Dunkelheit hinübereilen müsse, die für ihren rechtmäßigen Leser hell genug war.

38

Der Leser erinnere sich, daß sie so viel von dieser Lebensbeschreibung innen hat wie er, wenn nicht mehr.

39

Sie meint die Giulia, von deren Leichnam sie der Schmerz weggetrieben hatte.

40

»Fliehe mich nicht, weil mich immer ein großer Schatten umgibt, der sich vergrößert, bis er mich einbauet.«

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 679-693.
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