45stes oder letztes Kapitel

[1217] Knef – die Stadt Hof – Schweißfuchs – Räuber – Schlaf – Schwur – Nachtreise – Gebüsch – Ende....


Ich sage nur so viel voraus: solange man noch Dinte – wie den Johannisbeerwein – aus Federspulen verzapfte; solange noch Kiele geschnitten wurden, um Friedeninstrumente zu machen – oder verkohlet, um Krieginstrumente zu machen (denn die Kohle des Schießpulvers bereitet man aus Federn) – und noch länger vorher: so lange ist der sonderbare Vorfall gar noch nicht vorgefallen, den ich der Welt jetzo zu berichten habe. Wie gesagt, ich sage nur das voraus: der Vorfall ist leidlich.

Weil der Posthund seit dem 44sten Kapitel von diesem gelehrten Werke die Hand oder Pfote abgezogen: so wollt' ichs allein[1217] hinausmachen und nur noch ein letztes Kapitel – aber nicht dieses – als Schlußstein und Schwanengesang gar anstoßen, damit das opus einmal auf die Post und auf die Welt käme. Gute Rezensenten, dacht' ich, lässest du über den Mangel an einer Finalkadenz sich mit dem Posthunde und biographischen Leithammel so lange herumbeißen, als sie wollen Es war schon gegen das Ende des Oktobers und meiner Robinsonade auf der Johannisinsel, als der alte gute Freitag dieses Robinsons, mein Doktor Fenk, von seiner langen botanischen Alpenreise nach Scheerau heimkehrte, aber sogleich wieder in die See stach und auf meinem Johannitermeistertum ausstieg.

Wir setzten uns nieder zu zwei oder drei Gängen mit historischem Eingeschneizel (Ragout) von Reiseanekdoten. Zuletzt macht' ich ihn – wie alle Gelehrte tun – auf das aufmerksam, was ich schriebe, auf mein neuestes Opusculum, das so verdammt hoch vor uns aufgebettet stand wie ein Sternenkegel: »Es ist ganz flüchtig« (sagt' ich) »von mir gefallen, oft in der Nacht, so wie Voltaire oder die Pfauhennen im Schlafe Eier aufs Stroh herunterspringen lassen. Ich habe die Welt mit diesem Vermächtnis von vier Heftlein gern bedacht; aber das Vermächtnis wartet noch aufs letzte Kapitel – sonst wird die Hundarbeit im edeln Sinn eine im schlechten.« Er las das ganze Vermächtnis vor meinen Augen durch – welches für einen Autor eine närrisch schwüle Empfindung ist – und schwepperte oft mit den zwei Armen auf und nieder und wollte den Verfasser rot machen durch übertreibendes Lob; aber es verfing nichts; denn ein Verfasser hat sich jedes schon vorher tausendmal erteilt und ist zugleich seine eigne Fleischwaage, sein eignes Fleischgewicht und sein eignes Fleisch, weil er wie ein Tugendhafter mit seinem eignen Beifall zufrieden ist. –

»Der Held deiner Posttage« – sagt' er – »ist ein wenig nach dir selber gebosselt.« – »Das«, versetzte ich, »entscheide die Welt und der Held, wenn mich beide kennen lernen; es tuns aber alle Autores, ihr Ich steht entweder abgezeichnet vor dem Titelblatte oder darhinter mitten im Werke, wie der Maler Rubens und der Zeichner Ramberg fast in allen ihren Arbeiten einen Hund anbringen.«

Nun aber denke man sich mein staunendes Händezusammenschlagen,[1218] als der Doktor mir das Ländchen nannte, wo die ganze Geschichte vorging: *** heißet wirklich das Ländchen. »Ich solle nur hin,« sagt' er, »so könnt' ich das 45ste Schwanz-Kapitel aus der Quelle schöpfen. Bei seinem Durchmarsch wäre man in Flachsenfingen erst über dem 40sten Hundposttage her gewesen. Wenn ich eigne Pferde nehmen wollte (das will ich, sagt' ich, ich kaufe mir heute noch eigne): so könnt' ich vielleicht einem vornehmen Passagier nachkommen, der, wenn ihn nicht alles tröge, der Lord leibhaftig sei.« Wegen einiger Lot Teufeldreck, die Fenk unterweges nötig hatte, war er sogar bei Zeuseln in der Apotheke gewesen, dem, sagt' er, die Zahl 99 so leserlich wie dem Nummernvogel (Catalanta) die Zahl 98 anerschaffen sei.

Verdenken kann mans wahrlich keinem Autor, der nach seinem 45sten Schwanz- und Schleppen-Kapitel krebset und fischet, daß er wie unsinnig weglief – aufpackte – anschirrte – einsaß – fortjagte und so wütig zufuhr im Vorüberschießen vor Hotels, vor Landhäusern, vor Prozessionen, vor Sternen und Nächten, daß ich nicht etwan in ** Tagen, sondern schon in *** Tagen (mancher wird gar denken, ich mache Wind) in den Gasthof zum goldnen Löwen bestäubt, aber ungepudert hineinsprang. Besagter Gasthof liegt nämlich in der Stadt Hof, die ihrerseits wieder in etwas Größerem liegt, nämlich im Voigtland. Ich nenne mit Fleiß weder die Tage meiner Reise noch das Tor, wodurch ich zu Hof einschoß, damit ichs nicht neugierigen Schelmen und mouchards durch die Marschroute verrate, wie Flachsenfingen heißet. Hof konnt' ich ohne Schaden herausnennen, weil man von da aus-sobald man über die Tore hinaus ist – nach allen Punkten des Kompasses fahren kann; und so kann man da (welches recht gut ist) auch aus allen Orten ankommen, aus Mönchberg, Kotzau, Gattendorf, Sachsen, Bamberg, Böheim und aus Amerika und aus den Spitzbubeninseln und aus dem ganzen Büsching und Fabri.

Nicht weit vom goldnen Löwen (eigentlich im Habergäßchen) stand ein vornehmer Engländer und sah zu, wie seine vier rauchenden Pferde eine Medizin von 2/3 gemeinem Salpeter und 1/3 Roßschwefel gegen das Verschlagen einbekamen. Der Fremde – der ungefähr so viel Jahre haben mochte als dieses Buch Tage – war[1219] schwarz gekleidet, lang, ehrwürdig, reich (nach der Equipage zu urteilen) und männlich gebildet. Sein heller und fixierter Blick lag wie ein Brennpunkt zündend auf den Menschen – sein Gesicht war fein und kalt – auf seiner Stirne stand die lotrechte Sekante als der Taktstrich der Geschäfte, als Ausrufzeichen über die Mühen des Lebens – mit bleichen waagrechten Linien war dieser Taktstrich rastriert, beide Arten von Linien waren gleichsam als Zeichen in die zu hohe Stirne eingeschnitten, wie hoch das Tränenwasser der Trübsal schon an dieser Stirne, an dieser Seele aufgestiegen sei. »Ich wollte den Lord Horion« – dacht' ich – »anders geschildert haben, wenn mir dieses Gesicht eher vorgekommen wäre.« Vielleicht denkt der Leser, das war der Lord selber.

Als der Engländer mein Terzett von Schweißfüchsen erblickt hatte: ging er gerade auf mich zu und leitete ein Tauschprojekt ein und wollte meinen Fuchs gegen einen Rappen einwechseln. Er hatte die Phantasie der vornehmen Russen, mit einem ordentlichen Zento ungleichfärbiger Pferde zu fahren – so wie er die schönere Sitte der Neapolitaner hatte, ein freies lediges Pferd wie einen Hirsch neben dem Wagen hertanzen zu lassen –; daher, des Roß-Quodlibets halber, wollt' er meinen elenden Fuchs erstehen, der, die Wahrheit zu sagen, nirgends sein eignes Haar trug als hinten auf dem Bürzel. Ich sagte es ihm geradezu – um ihm keinen Argwohn eines Eigennutzes und einer Absicht zu lassen –: »meine drei Füchse sähen wie die drei Furien aus und stellten die drei Kavitäten der Anatomie ein wenig vor; bloß der Schweißgaul, den er wolle, sei herrlich gebauet, besonders um den Kopf herum, und ich verlör' ihn ungern gerade jetzt, da mir der Kopf erst recht einschlagen will.« – »So?« sagte der Brite. »Natürlich,« sagt' ich, »denn ein Pferdekopf ist das beste Mittel gegen Wanzen, und der muß nun bald, wie eine reife Pflaume, vom Gaul abfallen – den Kopf kann ich in mein Bettstroh tun.« Der Engländer lächelte nicht einmal; unter dem ganzen Handel regte er keinen Finger, keine Miene, keinen Muskel. Erst als ich selber gesagt hatte: »Wenn nur die drei Parzen so lange auf den Beinen bleiben, bis ich das 45ste Kapitel abgeholt habe auf der Achse«, so fiel es mir auf, daß er mich auf eine entfernte Art mehr[1220] zu studieren und auszufragen getrachtet als den Schweißfuchs – und ich geriet auf die Hypothese, ob er nicht gar den ganzen Roßtausch nur zum Deckmantel seiner verdächtigen Ausforschfragen gemißbraucht habe.

Der Leser lese nur weiter! – Der Engländer fuhr mit meinem Fuchs-Muskelnpräparat davon – und ich später hintennach mit dem Rappen, der so stark, schwarz und gleißend war wie der alte Adam des Menschen.

Aber ich muß erst sagen, was ich in Hof wollte; – zueignen wollt' ich. Anfangs sollte jedes dieser Heftlein einer Freundin zugeeignet werden; aber ich mußte besorgen, es würde mich gereuen, weil ich mich jeden Monat mit einer andern – mit allen auf einmal nie – zu zanken pflege. Ich möchte wissen, unter welcher geographischen Breite der Mann läge, der nicht mit seiner Freundin tausendmal öfter keifte als mit seinem Freund. Der Lebensbeschreiber mußte also aus Not – weil er zu veränderlich ist – mit seinen vier Heftlein quer aus dem goldnen Löwen über die Gasse ziehen und zu dem einzigen ins Haus gehen, gegen den er sich nicht ändert und ders auch nicht tut, und zu ihm sagen: »Hier, mein lieber guter Christian Otto, eigne ich dir wieder etwas – vier Heftlein auf einmal – hübsch wär' es, wenn du jedes wieder an die Deinigen dediziertest, dreie langen gerade zu, und deines bleibt dir auch – ich reite nun dem 45sten Kapitel nach, und du schneide und raupe indes an den 44 andern Rabatten so viel ab, als du willst.«

Und hier, mein Treuer, mußt du das letzte Kapitel auch gar haben, und ich setze nur noch dazu: »Diesen Hesperus, der als Morgenstern über meinem frischen Lebensmorgen steht, kannst du noch anschauen, wenn mein Erdentag vorüber ist; dann ist er ein stiller Abendstern für stille Menschen, bis auch er hinter seinem Hügel untergeht.«

Da alle Briefe an mich, wie bekannt, in der emsigen und etwas grämlichen Stadt Hof abgegeben werden; und da überhaupt viele Reisende sie passieren: so kann man mir schon den kleinen Platz zu zwei Bemerkungen vergönnen, welche die Stadt über die Stadt selber gemacht. Die Höfer bemerken nämlich alle und tadelns, daß sie sich nicht recht zusammengewöhnen können; wir sollten[1221] uns sämtlich, sagen sie' einander recht gut ausstehen können und schon dadurch des großen Montesquieu Bemerkung widerlegen, daß der Handel Völker verknüpfe und Einzelwesen zertrenne. Zweitens werfen es alle einander vor, daß sie von Jahr zu Jahr weite Düten voll Balsaminen-, Rosen-, Klee- und Liliensamen und hohe Schachteln voll herrlicher Apfelkerne (besonders Kerne von Herrenäpfeln, Violenäpfeln, Adams- und Jungfernäpfeln und holländischen Ketterlingen) in Menge antauschten und aufschütteten und in Winterhäusern aufspeicherten – – daß sie aber von diesem Gesäme wenig oder nichts versäeten oder aussteckten: »Im Alter«, sagen sie, »sollen uns gute Früchte und Blumen zupasse kommen, wenn wir aus den jetzigen recht viel Samen ziehen und ihn dann versäen.« – Einem Kandidaten (einem akademischen Stubenkameraden von mir) gaben diese zwei Bemerkungen Anlaß zu zwei recht guten Teilen in einer Nachmittagpredigt: im ersten Teile zeigte er seinen Höfern aus der Epistel, daß sie einander in der flüchtigen Lufterscheinung des Lebens nicht raufen, sondern recht lieben sollten, ohne Rücksicht auf die Nummern der Häuser – und im zweiten Pars tat er dar, sie sollten sich im kurzen abnehmenden Lichte des Lebens von Zeit zu Zeit einen und den andern Spaß machen.....

Als ich kaum einige Stunden – Tage – Wochen gefahren (denn die Wahrheit sag' ich nicht) und gegen Mitternacht in meinem Wagen bergauf in einem dicken Forste eingeschlafen war: so stürzten zwei Hände, die von hinten durch das Rückenfenster sich hereingearbeitet hatten, eine Bienenkappe über meinen Kopf, schnallten sie hurtig um den Hals mit einem Vorlegschloß, verschränkten und verdeckten meine Augen, und mich selber ergriffen, hielten und banden zehn bis zwölf andere Hände. Das Schlimmste bei so etwas ist, daß man denkt, man werde totgeschlagen und von seinen Juwelenkästchen entblößt; nun kann man aber einen Autor, der sein Buch noch nicht hinausgemacht hat, nicht ärgerlicher und verdrießlicher machen, als wenn man ihn erschlägt. Kein Mensch will in einem Plane sterben; und doch trägt jeder zu jeder Stunde des Tages zugleich aufknospende, grüne, halb reife und ganz reife Plane. Ich suchte also mein Leben[1222] mit einer Tapferkeit zu verfechten – weil mir ums 45ste Kapitel und dessen Kunstrichter zu tun war-, daß ich – ich kann es sagen – vier bis fünf Prinzenräuber leicht übermeistert hätte, wär' es nicht ein halbes Dutzend gewesen. Ich streckte das Gewehr, behauptete aber das Schlachtfeld, nämlich das Kutsch-Kissen, und merkte überhaupt, daß man den Berghauptmann nicht sowohl tot machen wollen als blind. Es wurde noch abenteuerlicher – mein eigner Kerl wurde nicht vom Throne seines Bocks gestürzt – mein Wagen blieb auf dem Wege nach Flachsenfingen – zwei Herren setzten sich zu mir hinein, die, nach ihren Mädchenhänden zu urteilen, von Stande waren – und noch sonderbarer, es boll ein Hund, der, dem Bellen nach, als Meßhelfer und Mitmeister an diesem gelehrten Werke gearbeitet hatte.

Wir soupierten und goutierten unter freiem Himmel. Hier wurde mir ein chirurgisches Ordenband auf bloßen Leib umgetan, weil ich unter den Viertelschwenkungen und Hand-Evolutionen meiner Gegenwehr unglücklicherweise mein Schulterblatt in eine Degen-Spitze getrieben hatte. Essen konnt' ich recht gut, weil das blecherne Kanarienbauer-Türchen an meiner Bienen- kappe weit aufgedrehet war. O lieber Himmel! wenn das Publikum den Verfasser der Hundposttage hätte seine Eßwaren in die aufhängenden Torflügel von Blech einschieben sehen: er wäre vergangen vor Scham! – Unter dem Essen lockte ich den Hund mit dem Namen »Hofmann!« zu mir: er kam wirklich; ich fühlte ihn aus, ob an seinem Halse kein 45stes Kapitel hinge – er war leer.

Nach einem langen Wechsel von Fahren – Essen – Schweigen – Schlafen – Tagen – Nächten wurd' ich endlich in eine See gesetzt und so lange herumgefahren (oder kams von einem Schlaftrunk), bis ich schlief wie eine Ratte. Was darauf geschah: mach' ich – so wunderbar es immer ist – erst bekannt, wenn ich die Bemerkung ausgeschrieben habe, daß die große Freude und der große Schmerz die edlern Neigungen in uns beleben und verjüngen, daß aber die Hoffnung und noch weit mehr die Angst den ganzen Wurmstock elender Begierden, den Infusionslaich kleiner Gedanken anbrüten und auseinanderringeln und ins Nagen bringen – so daß also der Teufel und der Engel in uns eine ärgere [1223] Parität ihrer zwei Religionen, als selber in Augsburg bei zwei andern ist, zu erhalten wissen, und daß jede von den zwei Religionparteien im Menschen ebensogut ihren eignen Nachtwächter, Zensor, Wirt, Zeitungschreiber besoldet als, wie gesagt, in Augsburg....

– Ich hatte die Augen noch geschlossen, als ein Lispeln, von tausend Gipfeln weitergewirbelt, mich umschwamm, das getriebene Luftmeer zog durch enge Äolsharfen und schlug daran Wellen, und die Wellen überspülten mich mit Melodien – eine hohe Bergluft, von einer vorüberschießenden Wolke herzuschlagend, fuhr wie ein Wasserstrahl kühl an meine Brust – ich öffnete die Augen und dachte, ich träumte, weil ich ohne die eiserne Maske war – ich war an die fünfte Säule auf der obersten Stufe eines griechischen Tempels gelehnt, dessen weißen Fußboden die Gipfel taumelnder Pappeln umzingelten – und die Gipfel von Eichen und Kastanien liefen nur wie Fruchthecken und Geländerbäume wallend um den hohen Tempel und reichten dem Menschen darin nur bis an das Herz. –

Ich muß ja diese wühlende Gipfelsaat kennen, sagt' ich – dort hängen Trauerbirken die Arme – da draußen knien Stämme vor dem Donner, der sie getroffen – flattern nicht neun Flöre und zerstäubte Springbrunnen in gefleckten Zweigen durcheinander? und die Gewitter haben hier ihre Ableiter als fünf eiserne Zepter in die Erde gepflanzt. – Das ist doch gewiß ein Traum von der Insel der Vereinigung, die so oft bisher den Nebel des Schlafs mit Strahlen durchschnitten und himmlisch und ziehend meine Seele angeschimmert hat. – –

Es war aber kein Traum. Ich stand von der Stufe auf und wollte in den griechischen durchhellten Tempel, der bloß aus einem griechischen Dache und aus fünf Säulen und der ganzen um ihn gelagerten Erde bestand, eintreten, als mich acht Arme umfaßten und vier Stimmen anredeten: »Bruder! – wir sind deine Brüder.« Eh' ich sie anschauete, eh' ich sie anredete: fiel ich gern mit ausgebreiteten Armen zwischen drei Herzen, die ich nicht kannte, und vergoß Tränen an einem vierten, das ich nicht kannte, und hob endlich, nicht fragend, sondern beglückt, die Augen von den unbekannten[1224] Herzen auf in ihr Angesicht, und unter dem Anschauen sagte hinter mir mein geliebter Doktor Fenk: »Du bist der Bruder Flamins, und diese drei Engländer sind deine leiblichen Brüder.«... Die Freude zuckte durch mich wie ein Schmerz – ich drückte mich stumm an die Lippen der vier Umarmten und Umarmenden – aber ich stürzte dann an den ältern Freund und stammelte: »Guter lieber Fenk! sag mir alles! Ich bin zerrüttet und bezaubert von Dingen, die ich doch nicht fasse.«

Fenk ging lächelnd mit mir wieder zu den vier Brüdern und sagte zu ihnen: »Seht, das ist der Monsieur, euer fünfter, auf den sieben Inseln verlorner Bruder und euer Biograph dazu – nun hat er endlich sein 45stes Kapitel erwischt.« – Da wandte er sich an mich: »Du siehst doch,« (sagt' er) »daß das die Insel der Vereinigung ist – daß die Drillinge hier die drei Söhne des Fürsten sind, die unser Lord bringen wollte. – Deinetwegen, weil du schon lange von den sieben Inseln weg bist, ist er durch alle Marktflecken und um alle Inseln von Europa gefahren. Endlich schrieb ich ihm«....

»Du bist gewiß auch« (unterbrach ich ihn) »mein Korrespondent mit dem Hund gewesen.« –

»Fahr nur fort«, sagt' er.

»Und Knef ist der umgekehrte Fenk – und hast dich bei Viktor für einen Italiener, der kein Deutsch kann, ausgegeben – und ihm den ganzen Tag seine eigne Konduitenliste für den Lord abgeschrieben, und für mich im Grunde auch, um sein und mein Spion zu sein.« –

»So ists – und habe also« (sagt' er) »dem Lord auch geschrieben, dein französischer Name Jean Paul mache dich verdächtig, und da du noch dazu selber nicht weißt, wo du her bist, und dazu gerechnet dein närrisches Stück Lebensweg, der wie in einem englischen Garten nicht eine Meile lang geradeaus geht« – –

»Der Biograph«, sagt' ich, »sollte überhaupt sein eigner sein.126« –

»Jetzo wird mirs unbegreiflich, wie ich nur nicht gleich darauf[1225] fallen können; denn deine Ähnlichkeit mit Sebastian, die der fünfte Sohn des Fürsten haben sollte, merktest du längst selber – und dein Stettiner-Dosenstück auf dem Schulterblatt, das die Herren da alle aufhoben, und das der Lord vorgestern selber unter deinem Verbande angesehen.«

»So, so!« (sagt' ich) »Deswegen bekam also euer Biograph die Falkenhaube, die Rückenwunde, den hübschen Rappen, und der Fremde in Hof war der Lord?« –

Kurz bei allem diesen hatte der Lord sich gar völlig überzeugt, daß ich der sei, den er so lange gesucht; denn vorher hatte er schon lange das Schreiben von Fenk durch funfzehn Hände erhalten, indem es von Hamburg oder auch aus dem Lande Hadeln nach Ziegenhain in Niederhessen lief, dann in die Herrschaft Schwabeck, dann in die Grafschaft Holzapfel, nach Schweinfurt, nach Scheer-Scheer und doch wieder zurück nach ** und nach *** und endlich nach Flachsenfingen, wo ers erst erhielt: dort, in der Insel der Vereinigung, war er lange versteckt gewesen, bis ihn das Schreiben, der endigende Oktober, der die Muttermäler gleichsam mit roter Dinte unterstrich, und am meisten die drei aus St. Lüne verwiesenen Briten, die auf der Insel ausstiegen, nach Scheerau oder vielmehr nach Hof im Voigtland abzureisen zwangen. Hier mußt' ich ihm nach einer Verabredung mit dem italienischen Bedienten, d.h. mit dem Doktor Fenk, derenwegen er mich eben aus meiner Insel dem 45sten Kapitel nachschickte und deren Wiederholung in dem vom Blinden aufgefangnen, nun entzifferten Billet vorkam, natürlich begegnen, und mein altes Gesicht, das er sofort mit einem jüngern Nachstich vom fünften Fürstensohne zusammenhielt, warf sogleich im »Habergäßchen« über alles das reichlichste Licht.

Sobald er das wußte, ließ er mich allein hinter meiner Bienen- Blechkappe und Mosis-Decke fahren und eilte voraus zum Fürsten gerade eine Minute früher, eh' es – zu spät war. Denn Matthieu hatte alles verraten; und die Drillinge wollte man eben aus der Insel, worein sie geflohen waren, und unsern Viktor aus seiner Mutter Hause, worin er schon Hof und Adel über Patienten und Wissenschaften und Braut vergessen hatte, abholen zum Verhaft,[1226] als der Lord sich bei dem Fürsten melden ließ. Der Fürst fürchtete von ihm, wie Cäsar von Cicero, überredet zu werden. Der Lord – dessen Seele ohnehin eine petrographische Karte erhabener Ideen war – verwirrte die Maßregeln des Fürsten durch einen kühnern Trotz, als die Maßregeln berechnet hatten. Er fing mit der Nachricht an, daß er nicht bloß einen Sohn dem Fürsten bringe, sondern alle, welches letzte er darum nicht versprochen habe, weil er nicht wissen können, inwiefern ihn das Schicksal vielleicht verlasse oder trage. – Er drang dem Fürsten eine lange kalte Rede auf, worin er ihm den Studienplan der fünf Söhne und ihre Entwicklung, Geschichte und Bestimmung vorlegte. Indem er die Beweise ihrer Abstammung vorauszusetzen schien, webte er sie doch in die Schlüsse aus der Abstammung künstlich ein. So sagt' er z.B., niemand habe um das wichtige Geheimnis gewußt als die Lady und Klotilde und Emanuel, dessen heilige, alles mit dem Tode beschwörenden Dokumente er ihm hier neben andern für die Kinder gebe; bloß ein gewisser Hofjunker habe während der Blindheit von fünf Geheimnissen eines entwendet und gemißbraucht. Der Lord zerfaserte diese Fallstrick-Seele nicht, da sie, wie er sagte, zu unbedeutend zur Genugtuung, zu schwarz gebeizet zur Strafe sei, und da er selber ohnehin bald aus diesen Gegenden auf immer komme. Kurz, er griff so mit seiner Allmacht den Fürsten an und zog so rein der Vergangenheit alle Schleier ab, daß er diesen fast zwang, statt zu verdammen oder loszusprechen, bloß abzubitten und Anklage und Mißtrauen mit Dankbarkeit zu vertauschen. Das einzige Gute, endigte Lord Horion, was der Junker getan, sei, daß er durch seine Säemaschinen des Unkrauts die große schöne Erkennung gerade auf eine Monatzeit gereift und beschleunigt habe, worin die Fruchtschnur der fünf Schultern (die Muttermale) in Blüte stehe. Der Fürst wurde trotz des fremden Eises geschmolzen, denn seine väterliche Liebe war mit neuen Schätzen bereichert. Doch mischt' er in seinen Dank diesen feinen Vorwurf wegen Viktors vorgeblichen Adel: »Ich bin voll Dankbarkeit für Sie, ob Sie mir gleich zu bald die Gelegenheit nehmen, sie zu zeigen. Bisher freuet' ich mich, daß ich wenigstens an dem Sohne beweisen konnte, wie[1227] sehr ich dem Vater, wenn nicht dankbar, doch verbunden wäre. Aber Sie kennen meinen Irrtum.« Der Lord – jetzo biegsamer durch den Sieg – versetzte: »Ich weiß nicht, ob mich gute Absichten und schlimme Verhältnisse entschuldigen; aber ich konnte nur einen Menschen für würdig halten, Ihr Leibarzt zu sein, den ich für würdig erkannte, mein Sohn zu sein.« – Der Fürst umarmte ihn aufrichtig; der Lord erwiderte es ebenso warm und sagte: am 31sten Oktober (der ist heute, und gestern sagte ers) woll' er seine redlichen Gesinnungen gegen den Fürsten auf eine Weise besiegeln, die mehr als alle Worte entscheide – –

Edler Mann! Du verzehrst nichts weiter auf der Erde als dich und bist ein Sturmvogel, durch dessen Fett ein Docht des Leuchtens gefädelt ist und den jetzo sein eignes Licht ausbrennt und verkohlt – mir ahnet, als wenn deine schöne Seele bald auf einer andern, auf einer höhern Insel der Vereinigung sein werde als auf dieser irdischen!

Ich schreibe dieses den 31sten Oktober vormittags um 10 Uhr auf der Insel.


*


Abends um 6 Uhr in Maienthal

Womit wird dieses Buch noch enden? – mit einer Träne oder mit einem Jauchzen?

Der Doktor Fenk warf bis um 2 Uhr (wo der Lord erst kommen wollte) den Koch- oder Lumpen-Zucker der Laune auf unsere Minuten und Schmerzen; sein närrisches rotes Gesicht war das violette Zuckerpapier der Süßigkeit. Mein guter Viktor war mit Klotilden in Maienthal. Fenk lachte mich in einem fort aus als einen Dauphin. Er macht viel Gleichnisse, er sagt: ich bekäme erst am Ende eines Buchs und der ganzen Komödie den rechten Titel' wie man den Journalen den Haupttitel erst im letzten Heft beidruckt – oder ich avanciere, gleich einem Schachbauern, erst auf dem letzten Felde zu einem Offizier. Es ist mir aber aus der Geschichte recht gut bekannt, daß in Frankreich schon unter Ludwig XIV. das jetzige Gleichheitsystem, obwohl erst für Prinzen, da war, die der König gleichmachte, sie mochten als Mestizen oder[1228] Kreolen oder Quarteronen127 oder Quinteronen oder Eingeborne des Throns ans Leben ausgestiegen sein. Da man nun ebensogut in Deutschland neue Gesetze und Novellen der Reichsgesetze hervorzubringen vermag als außer den Grenzen desselben: so könnt' es ja bei meinen Lebzeiten geschehen, daß legitimierte Prinzen für thronfähig erklärt würden – wodurch ich freilich zur Regierung käme. Gut wär's für Flachsenfingen, wenns geschähe, weil ich mir vorher die besten französischen und lateinischen Werke über das Regieren kaufen und es darin so studieren will, daß ich nicht fehlen kann. Ich glaube, ich darf mir vorsetzen, das arme Menschengeschlecht, das ewig im ersten April lebt und das nie vom Gängelwagen steigt – bloß mehre Räder werden dem Wagen angesetzt –, ein wenig auf die Beine zu bringen durch meinen Zepter. Sonst war ein Edelmann und das Pferd eines englischen Bereiters imstande, den Hut abzuziehen, ein Pistol loszuschießen, Tabak zu rauchen, zu wissen, ob eine Jungfer in der Gesellschaft war u.s.w.; jetzt aber haben sich Pferd und Edelmann durch die Kultur so voneinander getrennt, daß es eine wahre Ehre ist, letzter zu sein, und daß es meinem Adel nichts schadet (ob ichs gleich anfangs besorgte), daß ich mehr als gemeine Kenntnisse habe. In unsern Tagen sind die adeligen Vorderpferde nicht mehr so weit wie vor hundert Jahren vor den bürgerlichen Deichselpferden am Staatswagen vorausgespannt; daher ists Pflicht, wenigstens Klugheit (auch für einen neuen Edelmann wie ich), daß er (oder ich) sich herablässet und das Gefühl seines Standes – warum soll mir das nicht so gut gelingen wie andern? – unter die Verzierung einer gefälligen leichten Lebensart versteckt, und sich überhaupt auf keine Ahnen etwas einbildet als auf die künftigen, deren sämtliche Verdienste ich mir nicht groß genug denken kann, weil die Erde noch blutjung und erst im Flügelkleide und, wie Polen, im polnischen Röckchen ist.

Ich komme zurück. Um 2 Uhr kam der Lord mit seinem blinden Sohn, gleichsam die Philosophie mit der Dichtkunst. Schöner, schöner Jüngling! die Unschuld hat deine Wangen gezeichnet,[1229] die Liebe deine Lippen, die Schwärmerei deine Stirne. Der Lord mit der Laudons-Stirne und mit einem heute mehr als in Hof verdunkelten schattigen Gesicht, an das die Flitterwochen der Jugend und die Marterwochen des spätern Alters vermischtes Helldunkel warfen, dieser trat heute fast wärmer zu uns, obwohl mit lauter Zügen des Gefühls, daß das Leben ein Schalttag sei und daß er nur die Menschenliebe, nicht die Menschen liebe. Er sagte, wir sollten ihm und dem Hofmedikus den Gefallen tun, letzten noch heute in Maienthal zu besuchen und herzubringen, weil er hier ohne Augenzeugen noch allerlei Anordnungen für die Ankunft des Fürsten zu vollenden habe; wir sollten aber in der Nacht mit Viktor wiederkommen, weil unser Herr Vater morgen sehr frühe eintreffe. Der Blinde konnte als Blinder dableiben. Es fiel mir nicht auf, daß er dem guten verhüllten Julius verbarg, daß er sein Vater war, denn er sagte zwei- und dreideutig: »Da der Gute schon einmal den Schmerz, einen Vater zu verlieren, überstanden hat, so muß man ihn diesem Schmerze nicht zum zweiten Male aussetzen.« Aber dies fiel mir auf, daß er uns bat, ihn für das, was er bisher für Flachsenfingen tun wollen, dadurch zu belohnen, daß wirs selber täten, und ihm eidlich zu versichern, daß wir in den Staatsämtern, die wir bekommen würden, seine kosmopolitischen Wünsche, die er uns schriftlich übergab, erfüllen würden, wenigstens so lange bis er uns wiedersähe. Der Fürst hatt' ihm dieselbe feierliche Versicherung geben müssen. Wir sahen zu ihm hinauf wie zu einem bewölkten Kometen und schwuren mit Trauer.

Wir traten den Weg nach Maienthal an. Ein Engländer erzählte uns, daß er hinter dem Trauergebüsch – der Schlafkammer der Mutter des Blinden, der Geliebten des Lords, die unter einer schwarzen Marmorplatte ausruht – einen zweiten Marmor habe aufgestellt gesehen, den die anflatternden Flortücher überdecken sollten und doch nicht konnten. O da sah jeder von uns sich beklommen nach der Insel um, wie nach einer unterminierten Stadt, eh' sie zerrissen aufgeschleudert wird. – Aber meine Sehnsucht, Viktor und Maienthal, diesen Irr- und Blumengarten meiner wärmsten Träume, zu erblicken, übertäubte die Angst.

Endlich erstiegen wir den südlichen Berg, und das bunte Eden[1230] wuchs mit seiner Blätter-Fülle und mit dem Gewimmel seiner pulsierenden Zweige rauschend ins Tal hinab – drüben lag in Ästen wie ein Nachtigallennest Emanuels stille Hütte, in der jetzo mein Viktor war – näher an uns brauste die Kastanienallee, und oben draußen ruhte der abgemähte Kirchhof. – Mir, der ich alles dieses bisher nur im Traum der Phantasie gesehen, war jetzo wieder, als zögen Träume heran; und der undurchsichtige Boden wurde ein durchsichtiger voll Duft-Gebilde – und ich sank voll Wehmut auf den Berg.... Ich ging endlich hinab wie in ein gelobtes Land, aber meine ganze Seele wickelte ein weicher Leichenschleier ein.

– Und mein Viktor riß den Schleier weg und drückte seine warme Seele an meine, und wir schmolzen ein zu einem glühenden Punkt. – Aber ich will ihm nachher, wenn er wiederkommt aus der Abtei, noch einmal und noch wärmer an die Brust fallen und ihm dann erst meine Liebe recht sagen.... O Viktor, wie bist du so milde und so harmonisch, so veredelt und so erweicht, wie schön in der Freudenträne, wie groß in der Begeisterung! – Ach Menschenliebe, die du dem innern Menschen das griechische Profil und seinen Bewegungen Schönheitlinien und seinen Reizen Brautschmuck gibst, verdopple deine Wunder- und Heilkräfte in meiner hektischen Brust, wenn ich Toren sehe, oder Sünder, oder unähnliche Menschen, oder Feinde, oder Fremde!

Viktor, der nie die Angst eines Menschen noch größer machte, gab uns einige Beruhigung über den Lord. Er ging zu Klotilden ins Stift, um uns bei ihr und der Äbtissin anzumelden – der späte Besuch wird durch die Notwendigkeit der nächtlichen Zurückkehr entschuldigt. Bis er wiederkömmt, halt' ich mit meiner Geschichte still. Ich sah ihm nach auf seinem Wege zur Braut, und seine Hand, sein Auge und sein Mund waren voll Grüße für jeden, besonders für verschmähte Menschen, für Greise, für alte Witwen. Die Freude meines Helden wird die meinige; die Zeit arbeitet an dem schönen Tage, wo sein Herz auf immer mit dem verlobten verschmilzt, wo er, ohne ein Gelenke der entzweigeschnittenen Floh- und Affenkette des Hofes, frei durch die Natur geht, nichts ist als ein Mensch, nichts macht als Kuren statt der Cour, nichts liebt als die ganze Welt und zu glücklich ist, um beneidet[1231] zu werden. Dann will ich einmal, mein Bastian, abends im Mondschein unter Linden-Dampf und Linden-Gesumse bei dir essen und mich auf den Ballen gerade ausgepackter abgedruckter Hundposttage setzen. Übrigens bin ich – ob ich mir gleich mein eignes Ich sitzen ließ, um seines abzufärben – nur ein elender zerflossener ausgewischter Schieferabdruck von ihm, nur eine sehr freie paraphrasierte Verdolmetschung von dieser Seele; und ich finde, daß ein gebildeter Pfarrsohn im Grunde besser ist als ein ganz ungebildeter Prinz, und daß die Prinzen nicht wie die Poeten geboren werden, sondern gemacht.

Ich hoffe, ich habe so lange Materie zum Schreiben, bis er wiederkömmt. Ich habe überhaupt in dieser Lebensbeschreibung als Supernumerarkopist der Natur allezeit die Wirklichkeit abgeschrieben – z.B. bei Flamins Charakter hatt' ich einen Dragonerrittmeister im Kopf – bei Emanuels seinem dacht' ich an einen großen Toten, einen berühmten Schriftsteller, der gerade am Tage, wo ich Emanuels Traum von der Vernichtung mit süßer schauernder Trunkenheit schrieb, aus der Erde ging und halb unter sie. – Die Göttin Klotilde fügt' ich aus zwei weiblichen Engeln zusammen, und ich werde in wenig Minuten selber sehen, ob ich sie getroffen. Verdrießlich ists, daß ich aus Gewohnheit den Leuten dieses Buchs in Gesprächen die hundposttäglichen Namen gebe, da doch Flamin eigentlich ** heißet und Viktor ** und Klotilde gar **. Es wäre zu wünschen – ich hab' es nicht verschworen – ich machte die wahren Namen nach dem Tode einiger moralischer Maroden und Pestkranken dieser Hefte oder nach meinem eignen der Welt bekannt. Tu' ichs, so wird das gelehrte Europa hinter alle die Gründe kommen, die das politische schon weiß, welche den Berghauptmann abgehalten haben, in einige Partien seiner Historie (zumal über den Hof) so viel Licht einfallen zu lassen, als er wirklich hätte geben können; und ich erwarte, ob nach der Ausstellung dieser Gründe der Zeitungschreiber Y. und der Gesandtschaftsekretär Z. – die zwei größten Feinde des flachsenfingischen Hofes und meiner Person – noch behaupten werden, ich sei dumm. Ja ich bin so kühn, mich hier öffentlich auf den ** Agenten in ** zu berufen, ob ich nicht manche[1232] Personen in der Geschichte ganz ausgelassen habe, die darin mitgehandelt hatten und die in meiner biographischen Zuckermühle als unterschlächtige Räder mit im Gange gewesen waren; noch mehr, ich gebe meinem Widersacher-Paar sogar die Erlaubnis, die weggelassenen Personagen – letzte haben einige Gewalt, zu schaden – der Welt zu nennen, wenn dieser doppelte Geier das Herz dazu hat....

Der gute Spitzius Hofmann wedelt jetzt und springt vor mir in die Höhe. Guter, fleißiger Posthund! biographische Egerie Jean Pauls! ich werde dich zur Aufmunterung, sobald ich Zeit habe, ausschinden und nett ausbälgen und mit einer Heu-Wurstfülle durchschießen, um dich in eine öffentliche Ratbibliothek als dein eignes Brustbild neben andere Gelehrte von Rang einzustellen! – Meusel ist ein billiger Mann, den ich in einem eignen Privatschreiben um einen Sitz im gelehrten Deutschland für den Spitz ansprechen will. Dieser Gelehrte wird, so gut wie ich, nicht einsehen, warum ein so fleißiger Handlanger und Kompilator und Spediteur der Gelehrsamkeit, als mein Hund ist, bloß darum ein elenderes kälteres Schicksal erleiden soll als andere gelehrte Handlanger, bloß darum, sag' ich, weil er einen Schwanz trägt, der sein Steiß-Toupet vorstellt. Bloß der setzt das arme Vieh auf der Rangliste der Gelehrten herunter.

– Ich sehe jetzo Viktor durch die Lauben des Gartens von Lichtern begleitet; ich will nur noch eiligst herwerfen, daß ich in der mit entblättertem Gesträuch vergitterten Sakristei Emanuels sitze. Eile nicht so, Sebastian, der du wegen deiner bisherigen Verwechslungen den drei oder vier Pseudo-Sebastianen in Portugal gleichst, eile nicht, damit ich nur noch zu meiner Schwester sagen kann: du geliebte Ex-Schwester, dein toller Bruder schreibt sich von, aber du hast nur seine Brust, nicht sein Herz verloren. Wenn ich nach Scheerau komme, will ich mich um nichts scheren und an dir unter dem Umarmen weinen und endlich sagen: es hat nichts auf sich. Mein Geist ist dein Bruder, deine Seele ist meine Schwester, und so verändere dich nicht, verschwistertes Herz.

– Der gute Viktor geht hastig. Ach Menschen, die der Schmerz oft erkältet hat, haben weder in den körperlichen noch moralischen[1233] Bewegungen die langsame Symmetrie des Glücks, so wie Leute, die im Wasser waten, große weite Schritte tun. – Armer Viktor! warum weinest du jetzo so und kannst dich gar nicht trocknen? ...


*


Früh um 4 Uhr in der Insel der Vereinigung

Ach es ist lange, daß ich fragte: wird sich dieses Buch mit einer Träne schließen? – Viktor kam heute nachts um 8 Uhr mit zwei großen unbeweglichen Tränen auf dem Augenrand zurück und sagte: »Wir wollen nur ein wenig schnell auf die Insel zurückeilen; Klotilde bittet uns selber darum, sie lieber ein anderesmal zu sehen. Ein Unglück – (habe ihr geträumt) – richte sich jetzo groß und hoch wie eine Meerschlange auf und werfe sich nieder auf Menschenherzen, wie jene auf Schiffe, und drücke sie hinunter.« Sie war mit jeder Minute banger und enger geworden, wie man an einer dumpfen Stelle wird, über der noch der Blitz zielet und zischt. Was setzte dies anders voraus, als daß der Lord seiner treuen Freundin Dinge entdeckt hatte, die wir in dieser Nacht zu erleben besorgten? Und wir konnten uns alle die Sorge nicht mehr verhehlen, daß sein müder Geist vielleicht wie Lykurg das Siegel seiner Leiche auf seine Versicherung drücken wolle, daß wir Jenners Söhne sind, ferner auf unsern Schwur, gut zu sein, und auf den fürstlichen, meinen Brüdern zu folgen, bis er wiederkomme.

»Weine nicht so sehr, Viktor!« (sagt' ich) »es ist doch noch nicht gewiß.« Er trocknete sich still und gern die Augen ab und sagte bloß: »So wollen wir denn auf die Insel jetzo gehen – es wird schon 9 Uhr.«

Wir gingen fern, fern vor der fleckigen Trauerbirke vorüber, die ihr abgerissenes Laub der welken Hülle des großen Menschen nachwarf. Viktor konnte vor Schmerz nicht hinübersehen; aber ich blickte mit einem kalten Zittern nach ihrem Schwanken im heitern Nachthimmel. Erst seit einigen Tagen, wo Viktor glücklicher geworden war, hatte sich der Staub Emanuels gleichsam wieder in eine blasse Gestalt zusammengezogen und sich auf das Totengrün herausgestellt und die Arme weit für seinen alten Liebling[1234] aufgetan – und Viktor jammerte und schmachtete und wollte vergeblich sich sterbend an den weißen Schatten pressen.

Er lächelte schmerzlich, da er uns und sich durch die Worte zerstreuen wollte: »Der närrische Mensch duckt (bückt) sich wie ein Vogel, wenn nur das Unglück von weitem auf ihn zugeht.« Seine Tränen machten ihn zum Blinden, und ich und Flamin waren seine Führer, dennoch grüßte er in seinem Schmerze einen Nachtboten.

Ich habe nichts gesagt (denn ich kann nicht) vom Garten des Endes, von dem verblühenden Boden abgeblühter abgelaubter Freudentage.

Über die Stoppeln und über die Puppen der Nachtschmetterlinge (der Gaukler in künftigen Frühlingnächten) und über den festen unterirdischen Winterschlaf fuhren die einsamen Nachtwinde – ach der Mensch mußte wohl denken: »Lüfte, kommt ihr nicht über Gräber her, über teure, teure Gräber?« –

Ich sagte: »Wie schmal ist der blaßgrüne Zwischenraum von Erde zwischen Menschenleibern und Menschengerippen!« – Viktor sagte: »Ach die Natur ruht soviel, und warum unser Herz so wenig?«

Es war gegen Mitternacht. Der Himmel blinkte näher an der Erde, der Schwan, die Leier, der Herkules128 schimmerten untergesunken durch ein anderes Himmelblau. Großer Himmel – sagte jedes Herz –, gehörest du für den Menschengeist, nimmst du ihn einmal auf, oder gleichst du nur dem Deckengemälde eines Doms, das die gemauerten Schranken verbirgt und mit Farben die Aussicht in einen Himmel auftut, der nicht ist? – Ach jede Gegenwart macht unsere Seele so klein, und nur eine Zukunft macht sie groß.

Viktor war außer sich und sagte wieder: »Ruhe! dich geben weder die Freude noch der Schmerz, sondern nur die Hoffnung. Warum ruht nicht alles in uns wie um uns?«

Da schlug der von allen Wäldern nachgelallte Knall eines Schusses durch die stille Nacht – und die Insel der Vereinigung schwamm im Nachtblau auf, und ihr weißer Tempel hing über ihr – und neben dem Trauergebüsch, das über das Zerfallen eines[1235] jungen Herzens hinüberwuchs, schossen gen Himmel neun schmale Flammen, die an den neun Flören aufliefen, gleichsam Freudenfeuer zu einem Friedenfeste.

Bleich, eilend, seufzend, schweigend berührten wir das erste Ufer der Insel. Das Wasser war vom Boden trocken eingesogen. Das schwarze Morgentor hatte sich weit aufgerissen und seine weiße Farbensonne an Bäume gelehnt und verdeckt. Viele Leichenfackeln auf weißen Gueridons knüpften sich ans Morgentor an, gingen den langen grünen Weg hinein, flimmerten über Ruinen, Sphinxe und Marmortorsos und endigten sich dunkel im Trauergebüsch.

Flatterndes Getöne der Äolsharfen wurde am Eingang von langen Tönen durchzogen. Unter dem Morgentor ruhte still der Blinde und spielte froh auf seiner Flöte – so wie eine Taube in den Donner fliegt.

Er fiel freudig an seinen Viktor und sagte: »Es ist gut, daß du kömmst; ein stiller langer Mann hat sich eine halbe Viertelstunde an mein Herz gelegt und in meine Hand geweint und mir ein Blatt an dich gegeben.«

Viktor riß das Blatt zu sich, es hieß: »Ihr alle habt geschworen, so lange meine Bitten zu erfüllen, bis ihr mich wieder hört; aber decket den schwarzen Marmor nicht auf.« – Der Lord hatt' es dem blinden Sohne gegeben. Viktor rief: »O Vater, o Vater, ich konnte dir also nichts belohnen!« und sank an die Brust des Sohns. Er wollte sich von ihr reißen, aber der Blinde umklammerte ihn und lächelte freudig unwissend in die Nacht. – Wir eilten ins Trauergebüsch – und indem darin die zwei Leichenfackeln ausbrannten, so sahen wir, daß ein zweites Grab darin ausgehöhlt war, dessen frische Erde daneben lag – daß ein schwarzer Marmor die Höhle zudeckte, und daß das schwarze Kleid des Lords ein wenig aus der Höhle vorsah, und daß er sich darin getötet hatte. – Und auf seinem schwarzen Marmor stand, wie auf dem Marmor seiner Geliebten, ein blasses Aschenherz, und unter dem Herzen stand mit weißen Buchstaben:


Es ruht


Ende des Buchs

126

Und ich mache hier mit Vergnügen dem Publikum zu meiner eignen Lebensbeschreibung Hoffnung, womit ich es, wenn ich nur noch einige nötige Kapitel daraus erlebt habe, unter dem Titel beschenken werde: Jean Pauls Apostelgeschichte, oder dessen Taten, Begebenheiten und Meinungen.

127

Quarteronen sind Kinder von Terzeronen, die wieder Kinder von Mulatten und Weißen sind.

128

Der Schwan ist die Giulia, die Leier des Apollo Emanuel, der Herkules erinnerte an den Lord.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963.
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