Letztes Kapitel

[181] Ich bin aus Hukelum und mein Gevatter aus dem Bette, und einer ist so gesund wie der andere. Die Kur war so närrisch wie die Krankheit.

Ich fiel zuerst darauf, ob nicht, wie Boerhaave Konvulsionen[181] durch Konvulsionen heilte, bei ihm Einbildung durch Einbildung zu kurieren wäre, durch die nämlich, er sei noch kein Zweiunddreißiger, sondern etwan ein Sechser, ein Neuner. Phantasien sind Träume, die kein Schlaf umgibt, und alle Träume tragen uns in die Jugend zurück: warum nicht auch Phantasien? – Ich befahl also allen die Entfernung vom Patienten: bloß die Mutter sollte, während die feurigsten Meteoren vor seiner fieberhaften Seele flögen und zischten, allein bei ihm sitzen und ihn anreden, als wenn er ein Kind von acht Jahren wäre. Auch sollte sie den Bettspiegel verhängen. Sie tats – machte ihm weis, er habe das Ausbruchsfieber der Blattern – und als er sagte: »Der Tod steht mit zweiunddreißig spitzigen Zähnen vor mir und will damit mein Herz zerkäuen« so sagte sie: »Kleiner, ich gebe dir deinen Fallhut und dein Schreibbuch und dein Besteck und deinen Husarenpelz wieder und noch mehr, wenn du fromm bist.« Etwas Vernünftiges hätt' er weniger aufgefasset und begriffen als dieses Närrische.

Endlich sagte sie – denn im größten Schmerze werden einer Frau Rollen der Verstellung leicht –: »Ich wills nur noch einmal probieren und dir deine Spielwaren geben; aber komme mir wieder, Schelm, und werfe dich so im Bette herum mit deinen Blattern!« – Und nun schüttete sie aus der gefüllten Schürze alle Spiel und Kleidungswaren, die ich in dem Schränklein des ertrunknen Bruders gefunden, in das Bette hinein. Zuallererst sein Schreibbuch, worauf er selber damals seinen achtjährigen Namen geschrieben, den er für seine Hand rekognoszieren mußte – dann den schwarz-samtnen Fallhut – dann die rot-weißen Laufbänder – sein Kindermesser-Besteck mit einem Heft von Zinnblättchen seinen grünen Husarenpelz, dessen Aufschläge sich härten – und einen ganzen orbis pictus oder fictus der Nürnberger figurierten Marionetten-Welt ...

Der Kranke erkannte den Augenblick diese vorragenden Spitzen einer im Strome der Zeit untergegangnen Frühlingswelt – diesen Halbschatten, diese Dämmerung versunkner Tage diese Brand- und Schädelstätte einer himmlischen Zeit, die wir nie vergessen, die wir ewig lieben und nach der wir noch auf dem[182] Grabe zurücksehen ... Und als er das sah, drehte er langsam den Kopf umher, wie wenn ein langer trüber Traum aufgehöret hätte, und sein ganzes Herz floß in warmen Tränenregen herab, und er sagte, indem sich seine vollen Augen an die Augen der Mutter anschlossen: »Lebet denn aber mein Vater und mein Bruder noch?« – »Sie sind nicht längst gestorben«, sagte die wunde Mutter; aber ihr Herz war überwältigt, und sie kehrte das Auge weg, und bittere Tränen fielen aus dem niedergebückten Haupte ungesehen. Und hier übergoß auf einmal jener Abend, wo er durch den Tod seines Vaters bettlägerig und durch seine Spielwaren genesen war, seine Seele mit Glanz und Lichtern und Vergangenheit.

Nun färbte sich der Wahnsinn Rosenflügel in der Aurora unsers Lebens und fächelte die schwüle Seele – er schüttelte Schmetterlings-Goldstaub von seinem Gefieder auf den Steig, auf das Blumenwerk des Leidenden – in der Ferne gingen schöne Töne, in der Ferne flogen schöne Wolken – o das Herz wollte sich zerlegen, aber bloß in flatternde Staubfäden, in weiche fassende Nerven; das Auge wollte zerfließen, aber bloß in Tautropfen für die Kelche der Freudenblumen, in Blutstropfen für fremde Herzen; die Seele wallete, zuckte, stöhnte, sog und schwamm im heißen, lösenden Rosenduft des schönsten Wahns ...

Die Wonne zügelte sein fieberhaftes Herz, und seine tobenden Pulse stillten sich. Am Morgen darauf wollte die Mutter, als sie sah, es gelinge alles, gar zur Kirche läuten lassen, um ihm weiszumachen, er sei schon beim zweiten Sonntag. Aber die Frau verwarf (vielleicht aus Scham vor mir) das Belügen und sagte, man könne ja, es sei dasselbe, den Datumszeiger an seiner Stutzuhr (aber anders wie Hiskias Sonnenuhr) um acht Tage vorwärtsrücken, um so mehr, da er bisher lieber aufstand und nach der Uhr schauete, »den wievielten er habe«, als hinlangte und im Kalender nachsah. Ich meines Orts ging bloß hinauf zu ihm und befragte ihn: »ob er toll wäre – was er denn mit seiner närrischen Todesfurcht noch haben wolle, da er so lange liege und sehe, daß er den Kantatesonntag schon hinter sich habe, und doch an der bloßen Angst verdorre zu einer Dachschindel.«[183]

Eine herrliche Verstärkung stieß zu mir, der Fleischer oder Quartiermeister. Er brach ängstlich, ohne die Weiber zu salutieren, herein, und ich nahm sofort das laute Wort: »Mein Gevatter geht mir nahe genug, Herr Regimentsquartiermeister; gestern ließ er sich einreden, er sei wenig älter als sein leiblicher Sohn, und hier ist noch der Fallhut, den er aufsetzen wollte.« Der Vormund sakramentierte und sagte: »Mündel! ist Er denn ein Pfarrer oder ein Narr? – Hab' Ihms doch so oft vorgehalten, daß es hierin mit Ihm hapert!« –

Endlich sah er selber, er sei nicht recht gescheut, und wurde gesund; außer den vormundschaftlichen Invektiven trugen viel meine Eide dazu bei, ich würd' ihn für keinen rechtschaffenen Gevatter erkennen und kein Wort von seiner Biographie edieren, wenn er nicht nächstens aufstände und genäse ...

– Kurz, er hatte gegen mich so viel Lebensart und Welt, daß er sich aufsetzte und genas. – Er kränkelte wohl noch am Sonnabend und konnte am Sonntage noch keine Predigt halten (etwas Ähnliches las der Schulmeister ab), aber doch eine Beicht am Sonnabend, und auf dem Altar teilte der Rekonvaleszent das Nachtmahl aus. Nach Endigung des Gottesdienstes wurde das Dankfest seiner Genesung begangen, in das noch mein Valetschmaus fiel, weil ich nachmittags gehen wollte.

Ich will diesen letzten Nachmittag so weitläuftig als möglich entwerfen und nachher den Riß doch noch mit dem Storchschnabel angenehmer Hommelscher Plapperei ins Große auszeichnen.

Unter dem Gedächtnismahle kamen Personensteuern von den Katechumenen ein und Meßpräsente als Freudenfeuer bei seiner Genesung, welche bewiesen, wie sehr ihn die Gemeinde liebte und wie sehr ers verdiente: denn man wird von der Menge öfter ohne Grund gehasset als ohne Grund geliebt. Er war aber auch freundlich gegen jedes Kind, war keiner von den Geistlichen, die ihren Feinden nie anders vergeben als an – Gottes Statt, und lobte zugleich die ganze Welt, seine eigne Frau und sich.

Ich wohnte sodann seiner nachmittägigen Kinderlehre bei und sah – wie er im ersten Zettelkasten – im Chore hinter dem Flügel[184] des hölzernen Cherubims hinunter. Hinter diesem Engel zog ich meine Schreibtafel heraus und stellete mich mehr hinter das schwarze Brett voll weißer Lieder-Ziffern und schrieb auf, was ich jetzt – dachte. Ich wußte, wenn ich heute, am fünfundzwanzigsten Mai, aus dieser salernitanischen Spinn-Schule, wo man den Lebensfaden auf eine schönere Weise ohne das Anfeuchten mit Mixturen länger ziehen lernt, ich wußte (sag' ich), wenn ich fortginge, ich würde mehrere Elementarkenntnisse der Glückseligkeitslehre hinwegbringen, als das ganze Kammerherrn Piquet im Kopfe führet. Ich notierte den ersten Eindruck in folgende Lebensregeln für mich und die Presse auf:

Kleine Freuden laben wie Hausbrot immer ohne Ekel, große wie Zuckerbrot zeitig mit Ekel. – Wir sollten uns von den Kleinigkeiten nicht bloß plagen, sondern auch erfreuen lassen, nicht bloß ihre Gift-, sondern auch ihre Honigblase auffangen; und wenn uns oft die Mücke an der Wand irren kann, so sollten uns auch die Mücken wie den Domitian belustigen, oder wie einen noch lebenden Kurfürsten beköstigen. – Man muß dem bürgerlichen Leben und seinen Mikrologien, wofür der Pfarrer einen angebornen Geschmack hat, einen künstlichen abgewinnen, indem man es liebt, ohne es zu achten, indem man dasselbe, so tief es auch unter dem menschlichen stehe, doch als eine andere Verästung des menschlichen so poetisch genießet, als man bei dessen Darstellungen in Romanen tut. Der erhabenste Mensch liebt und sucht mit dem am tiefsten gestellten Menschen einerlei Dinge, nur aus höhern Gründen, nur auf höhern Wegen. – Jede Minute, Mensch, sei dir ein volles Leben! – Verachte die Angst und den Wunsch, die Zukunft und die Vergangenheit! – Wenn der Sekundenweiser dir kein Wegweiser in ein Eden deiner Seele wird, so wirds der Monatsweiser noch minder, denn du lebst nicht von Monat zu Monat, sondern von Sekunde zu Sekunde! – Genieße dein Sein mehr als deine Art zu sein, und der liebste Gegenstand deines Bewußtseins sei dieses Bewußtsein selber! – Mache deine Gegenwart zu keinem Mittel der Zukunft, denn diese ist ja nichts als eine kommende Gegenwart, und jede verachtete Gegenwart war ja eine begehrte Zukunft! – Setze in keine Lotterien – bleibe[185] zu Hause – gib und besuche keine großen Gastmahle – verreise nicht zu halben Jahren! – Verdecke dir nicht durch lange Plane dein Hauswesen, deine Stube, deine Bekannten! – Verachte das Leben, um es zu genießen! – Besichtige die Nachbarschaft deines Lebens, jedes Stubenbrett, jede Ecke, und quartiere dich, zusammenkriechend, in die letzte und häuslichste Windung deines Schneckenhauses ein! Halte eine Residenzstadt nur für eine Kollekte von Dörfern, und ein Dorf für die Sackgasse aus einer Stadt, den Ruhm für das nachbarliche Gespräch unter der Haustüre, eine Bibliothek für eine gelehrte Unterredung, die Freude für eine Sekunde, den Schmerz für eine Minute, das Leben für einen Tag und drei Dinge für alles: Gott, die Schöpfung, die Tugend! – –

Und wenn ich mir selber und diesen Regeln folgen will: so muß ich auch nicht so viel aus dieser Lebensbeschreibung machen, sondern sie einmal wie ein mäßiger Mensch ausklingen lassen.

Nach der Kinderlehre stieg ich herab zum weit- und schwarzröckigen Gevatter. Wir trabten nach Abfluß der Pfarrgemeinde alle Emporen hinauf – lasen die Bleche der Kirchenstühle – ich blätterte am Altare in der mit dem Sediment der Zeit inkrustierten Agende (ich rede nicht metaphorisch) – ich orgelte, der Gevatter trat den Balg – ich erstieg die Kanzel und war so glücklich, da einen Rosenstock zu treffen, den ich in der Valetminute noch in den Rosengarten meines Fixleins setzen konnte. Ich nahm nämlich droben an einem hölzernen Apostel den Namen Lavater wahr, den der Zürcher eigenhändig als eine Votivtafel am heiligen Torso hatte lassen wollen im Durchmarsch. Fixlein kannte die Hand nicht, aber ich; – denn ich hatte sie öfters in Flachsenfingen nicht nur auf der Wandtapete einer Hofdame, sondern auch auf seiner Handbibliothek40 und in vielen Landeskirchen angetroffen, die gleichsam der Adreßkalender und Vokabelnsaal dieses wandernden Namens waren, weil Lavater in Kanzeln, wie eine Schäferin[186] in Bäume, gern den Namen des Geliebten schreibt. Ich konnte also meinem Gevatter wohl raten, aus dem Apostel den Namen samt dem Hobelspan, worauf er sitzt, vorsichtig herauszuschneiden und die Handschrift gut zu verwahren.

Beim Eintritte ins Pfarrhaus wollt' ich Hut und Stock nehmen, aber das Dessein, gleichsam die Projektion und der Kontur eines Abendessens in der Akazienlaube war schon von Thiennetten entworfen. Ich beteuerte, ich bliebe bis abends, falls nur die Wöchnerin auch mit zum dekretierten Souper hinaufginge... und wahrhaftig der Biograph behielt endlich über das Kindbetterin-Marschreglement die Oberhand.

Ich nötigte darauf den Pfarrer, seine Kräutermütze, die er sich zur Roboration seiner Memorie ausfüttern lassen, aufzusetzen: »Wollte Gott,« sagt' ich, »die Fürsten täten statt der Fürstenhüte, die Doktores und Kardinäle statt der ihrigen, die Heiligen statt der Märtyrerkronen solche Gedächtnis-Mützen auf den Kopf!« Alsdann marschierten wir allein, unter dem Braten und Kochen, auf die Pfarrfelder hinaus und sprachen gelehrt. Wir verfügten uns ins ruinierte Raubschloß hinein, von dem mein Gevatter das bekannte Werk unter der Feder hat. Ich billigte es sehr – zumal da das Kaper-Schloß einmal einem von Aufhammer eigentümlich zugehöret hatte –, daß er die Beschreibung dem Dragonerrittmeister zueignen wollte: dieser lässet lieber, denk' ich, der Schrift als dem Pudel seinen Namen vorsetzen. Ich sprach auch meinem Handwerksgenossen überhaupt literarischen Trost ein und sagte: »Herr Gevatter, keck geschrieben! Sei auch der Subrektor Hans von Füchslein der apokalyptische Drache, der auf die Entbindung des flüchtigen Weibes auflauert, um die Geburt zu verschlucken: so bin ich auch da und habe meinen Freund, den Redakteur der Literaturzeitung, zur Seite, der mir gern verstattet, eine Antikritik gegen Inseratgebühren einzuschicken.« – Besonders munterte ich ihn zu neuen Inseraten und Retourladungen seiner Zettelkästen auf: ich habe es nicht verschworen, in diese biographische Kommode noch nach Jahren einen neuen Kasten einzuschieben. »Und meinem Patchen, Herr Gevatter, wird es eben auch nichts verschlagen, daß man das Kind der Lesewelt[187] schon präsentieret, wenn das liebe nicht mehrere Monate hat, als Horaz Jahre zu einem literarischen fordert, nämlich neun

Unter dem Nachhausegehen pries ich seine Frau. »Wenn die Ehe«, sagt' ich zu ihm, »der Krapp ist, der an Mädchen wie an Kattunen die Farben sichtbar macht: so verfecht' ich, Thiennette war als Mädchen schwerlich so gut wie jetzt als Frau. Beim Himmel! in einer solchen Ehe wollt' ich Bücher schreiben nämlich ganz andere, göttliche – in einer Ehe mein' ich, wo neben dem Schreibetisch (wie neben den großen Votiertafeln des Regensburger Reichstages kleine Konfekttischchen sind) – wenn auch dergleichen, sag' ich, auch eine Ingwermarmelade neben mir stände, nämlich ein abgesüßetes, herrliches, in den Zettelkästenskribenten vernarrtes Gesichtchen, Gevattersmann! Ihre Ehe wird gerade der Akazienlaube gleichen, auf die wir zugehen, an der sich das Laub eben in der Hitze und im Sommer verdichtet, wo andere Gewächse nur dürre poröse Schatten werfen.«

Da wir durch die obere Gartentüre in diese Laube traten, war wahrhaftig schon das Essen und das gute Weib darin. Nichts ist moralischer und zärter als die Achtung, womit eine gute Ehefrau den Wohltäter oder Spießgesellen ihres Mannes behandelt – und glücklicherweise war eben der Biograph dieser Spießgesell und das Objekt dieser Achtung. Unsere Gespräche waren fröhlich, aber mein Inneres beklommen. Die Fesseln, die den bloßen Leser an meine Helden binden, werden dreifach bei mir, indem ich zugleich ihr Gast und ihr Porträtmaler bin. Ich sagte zum Pfarrer, er werde älter als ich, weil sein temperiertes Temperament gleichsam von einem Arzte gleich zwischen Nervenschwäche der Kultur und zwischen dem feurigen dichten Blute des Landmanns abgewogen sei. Fixlein sagte, wenn er nur noch einmal so lange lebe als bisher, nämlich zweiunddreißig Jahre: so betrage es ohne die Schalttage doch 280 320 Stunden, welches etwas Ansehnliches sei; und er überzähle oft mit Vergnügen die vielen Tausend Zweiunddreißiger, die mit ihm gehen müßten.

Endlich mußt' ich doch aufbrechen, da die roten Lichter der fallenden Sonne an der Laube aufstiegen und uns immer tiefer in den Nachtschatten eintauchten: der Abendtau hätte die Wöchnerin[188] erkältet. Ich ersuchte verwirrt den Pfarrer, bald in die Stadt zu kommen, wo ich ihm nicht bloß alle Zimmer des Schlosses zeigen wollte, sondern auch den Fürsten. Frohers gab es heute auf der alten Welt nichts als das Gesicht, dem ichs sagte, und als das andere, das der milde Widerschein von jenem war. Der Biograph hätte zu viel eingebüßet, wenn ihm jetzt in der Minute, wo ihm seine Phantasie wie die Spiegelteleskopen alle Gegenstände nur zitternd vorstellt, hätte davonlaufen müssen, ich will sagen, wenn ihm nicht beigefallen wäre, daß es der Kindbetterin wenig schaden (aber viel nutzen) würde, wenn sie zu einer kleinen Motion käme und noch über den Garten hinaus den Verfasser und Bauherrn gegenwärtiger Zettelkästen begleiten hälfe.

Kurz ich nahm in jede Hand statt unter jedem Arm eine vom Ehepaar und zog mit ihnen zum Garten hinaus auf den Flachsenfinger Steig. Ich drehte oft gewaltsam zwischen ihnen meinen Kopf zurück, als ob ich jemand uns nachschreiten hörte; aber in der Tat wollt' ich nur noch einmal, obwohl wehmütig, ins glückliche Dörfchen zurückschauen, das aus lauter Wohnungen einer stillen satten Sabbatsfreude bestand und das glücklich genug ist, obgleich über seine weit auseinandergelegten Pflastersteine nur alle Wochen ein Raseur, alle Festtage ein Friseur und alle Jahre ein Parasol-Ausrufer zieht. Dann mußt' ich freilich den Kopf wieder umwenden und die zwei Beglückten mit Augen anblicken, die bald übergingen. Mein sonst guter Gevatter konnte sich nicht recht in diese Trauerzeichen schicken; aber in deinem Herzen, du gutes, so oft gequältes Geschlecht, trifft jede Trauerglocke leicht ihren Einklang an, und die mit dem dünnen zitternden Resonanzboden einer nachtönenden Brust veredelte Thiennette gab mir alle Töne mit den Schönheiten eines Echo wieder. – – Endlich standen wir auf dem Grenzhügel, über den man Thiennetten nicht lassen durfte, und ich mußte nun von dem Gevatter, mit dem ich alle Morgen so lustig zusammen gesprochen – jeder aus seinem Bette heraus –, und aus dem stillen Kreise bescheidener Hoffnung weichen, um in den gärenden bellenden Hof-Cercle zurückzutreten, wo man dem Schicksal ein Lebens-Süßholz abtrotzt und abfordert, so armsdick wie das botanische an der[189] Wolga, weniger um die süßen Balken selber auszukäuen als um andere damit totzuschlagen.

Als ich mir dachte, ich würde zu ihnen sagen: lebet wohl! so traten alle künftige Plagen, alle Leichen und alle Wünsche dieses geliebten Gespanns vor mein Herz, und ich dachte daran, daß nichts als einschlummernde Freudenblumen ihren (wie meinen und jeden) Lebenstag abmarken. – Und doch ists schöner, wenn sie ihre Jahre nicht nach der Wasseruhr fallender Tränen, sondern nach der Blumenuhr41einschlafender Blumen ausmessen, deren Kelche, ach! vor uns Armen von Stunde zu Stunde zufallen. –

Ich wollte eben jetzt – weil ich mich noch daran erinnere, wie ich mit einem strömenden Auge über den zwei Geliebten wie über Leichen hing – mich anreden und sagen: viel zu weicher Jean Paul, dessen Kreide immer auf dem Flor der Melancholie die Modelle der Natur nachzeichnet, härte dein Herz ab wie deinen Leib, um nicht dich und andere aufzureiben. Aber warum soll ichs tun, warum soll ichs nicht geradezu bekennen, was ich in der weichsten Rührung zu den zwei Menschen sagte? »Es gehe euch recht wohl, ihr sanften Menschen« – sagt' ich, denn ich dachte an keine Höflichkeit mehr – »die Vorsehung trage wiegend euere zerritzten Herzen – der gute Gott über allen den Sonnen, die zu uns jetzt herunterblicken, lasse euch immer verknüpft und heb' euch nur verbunden an sein Herz und an seinen Mund.« – »Sein Sie nur auch recht glücklich und froh«, sagte Thiennette. »Und Ihnen, Thiennette,« (fuhr ich fort) »ach Ihrer bleichen Wange, Ihrem gedrückten Herzen, o Ihrer langen kalten gemißhandelten Jugend kann ich niemals, niemals genug wünschen. Nein! Aber alles, was eine wunde Seele laben, was einer schönen wohlgefallen, was den verborgenen Seufzer stillen kann, ach alles, was Sie verdienen, das falle Ihnen zu, und wenn Sie mich wieder sehen, so sagen Sie: ich bin jetzt viel glücklicher!«

Wir wurden alle zu sehr bewegt. Wir rissen uns endlich aus wiederholten Umarmungen, und mein Freund entwich mit der Seele, die er liebt – ich blieb allein zurück bei der Nacht.[190] Und ich ging ohne Ziel durch Wälder, durch Täler und über Bäche und durch schlafende Dörfer, um die große Nacht zu genießen wie einen Tag. Ich ging und sah, gleich dem Magnet, immer auf die Mitternachtsgegend hin, um das Herz an der nachglimmenden Abendröte zu stärken, an dieser heraufreichenden Aurora eines Morgens unter unsern Füßen. Weiße Nachtschmetterlinge zogen, weiße Blüten flatterten, weiße Sterne fielen, und das lichte Schneegestöber stäubte silbern in dem hohen Schatten der Erde, der über den Mond steigt und der unsere Nacht ist. Da fing die Äols-Harfe der Schöpfung an zu zittern und zu klingen, von oben herunter angeweht, und meine unsterbliche Seele war eine Saite auf dieser Laute. – Das Herz des verwandten ewigen Menschen schwoll unter dem ewigen Himmel, wie die Meere schwellen unter der Sonne und unter dem Mond. – Die fernen Dorfglocken schlugen um Mitternacht gleichsam in das fortsummende Geläute der alten Ewigkeit. Die Glieder meiner Toten berührten kalt meine Seele und vertrieben ihre Flecken, wie tote Hände Hautausschläge heilen. Ich ging still durch kleine Dörfer hindurch und nahe an ihren äußern Kirchhöfen vorbei, auf denen morsche herausgeworfene Sargbretter glimmten, indes die funkelnden Augen, die in ihnen gewesen waren, als graue Asche stäubten. – Kalter Gedanke! greife nicht wie ein kaltes Gespenst an mein Herz: ich schaue auf zum Sternenhimmel, und eine ewige Reihe zieht sich hinauf und hinüber und hinunter, und alles ist Leben und Glut und Licht, und alles ist göttlich oder Gott...

Gegen Morgen sah' ich deine späten Lichter, kleine Wohnstadt, in die ich gehöre diesseits des Sarges; ich kam auf die Erde zurück, und in deinen Türmen schlug es, hinter der vorüber –

gezogenen großen Mitternacht, halb drei Uhr: da ging um diese Stunde 1794 der Mars in Westen unter und der Mond in Morgen auf; und meine Seele wünschte, beklommen vom Bedauern des edlen kriegerischen Bluts, das noch auf die Frühlingsblumen strömt: »Ach, blutiger Krieg, weiche wie der rötliche Mars, und, stiller Friede, komme wie der milde zerteilte Mond!« –[191]

40

Ein kleines, mit Drucklettern gesetztes Manuskript, womit er wenig andere als Fürsten beschenkt. Diese Druckschrift flößet er vorsichtig als eine Handschrift den Großen ein, weil diese mehr und lieber Geschriebenes als Gedrucktes lesen.

41

Linne legte in Upsal eine Blumenuhr an, deren Blumen durch ihre verschiedenen Zeiten, einzuschlafen, die Stunden sagen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 4, München 1959–1963, S. 181-192.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Leben des Quintus Fixlein
Leben des Quintus Fixlein

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon