Funfzehntes Kapitel

[437] Rosa von Meyern – Nachklänge und Nachwehen der schönsten Nacht – Briefe Nataliens und Firmians – Tischreden Leibgebers


Wenn man in einer feuchtwarmen, gestirnten Lenznacht den Arbeitern in einem Steinsalzbergwerk ihr breites Wetterdach von Erde über den Kopf abhöbe und sie so plötzlich aus ihrem lichtervollen engen Keller in den dunkeln, weiten Schlafsaal der Natur und aus der unterirdischen Stille in das Wehen und Düften und Rauschen des Frühlings herausstellte: so wären sie gerade in Firmians Fall, dessen bisher verschlossenen, stillen, hellen Geist die vorige Nacht auf einmal mit neuen Schmerzen und Freuden und mit einer neuen Welt gewaltsam auseinandergetrieben und verdunkelt hatte. Heinrich beobachtete über diese Nacht ein sehr redendes Stillschweigen, und Firmian verriet sich umgekehrt durch ein stummes Jagen nach Reden. Er mochte die Flügel, die sich gestern zum erstenmal feucht außer der Puppe ausgedehnet hatten, zusammenlegen wie er wollte, sie blieben immer länger als die Flügeldecken. Es wurd' am Ende Leibgebern lästig und schwül; sie waren schon gestern schweigend nach Baireuth und ins Bette gegangen, und er wurde müde, wenn er die vielen Halbschatten und Halbfarben überzählte, die erst alle aufzutragen waren, bevor man vier tapfere, breite Striche am Gemälde der Nacht tun konnte.

Nichts ist wohl mehr zu beklagen, als daß wir nicht alle zu einerlei Zeit den Keichhusten haben – oder Werthers Leiden oder 21 Jahre oder 61 – oder hypochondrische Anfälle – oder Honigmonate – oder Mokierspiele: – wie würden wir, als Choristen desselben Freuden oder Trauer- oder Husten-Tutti, unsern Zustand in dem fremden finden und ertragen und dem andern alles vergeben, worin er uns gleicht. Jetzt hingegen, wo der eine zwar heute hustet, aber der andere erst morgen – das Simultan[437] und Kompaniehusten nach dem Kanzelliede in den Schweizerkirchen ausgenommen – da der eine die Tanzstunden besucht, wenn der andere den Kniestunden in Konventikeln obliegt – da das Mädchen des einen Vaters über dem Taufhecken hangt, und in derselben Minute der Junge des andern auf Seilen über dem kurzen Grabe; jetzt, da das Schicksal zum Grundton unsers Herzens in den Herzen um uns fremde Tonarten oder doch übermäßige Sexten, große Septimen, kleine Sekunden greift: jetzt, bei diesem allgemeinen Mangel des Unisono und der Harmonie, ist nichts zu erwarten als kreischendes Katzen-Charivari, und nichts zu wünschen als doch einiges Harpeggieren, wenn nicht Melodie.

Leibgeber ergriff als einen Henkel der Rede oder als einen Pumpenschwengel, um drei Tropfen aus dem Herzen zu drücken, Firmians Hand und umarmte sie mit allen Fingern sanft und warm. Er tat gleichgültige Fragen nach den heutigen Lustgängen und Lustreisen; aber er hatte nicht vorausgesehen, daß ihn der Druck der Hand tiefer in die Verlegenheit senken werde; denn er mußte nun (das konnte man fodern) ebensowohl über die Hand als über die Zunge regieren, und er konnte die fremde Hand nicht Knall und Fall fortschicken, sondern mußte sie in einem allmählichen diminuendo des Drucks entlassen. Eine solche Aufmerksamkeit auf Gefühle macht' ihn schamrot und toll; ja er hätte meine Beschreibung davon ins Feuer geworfen; ich habe Nachrichten, daß er nicht einmal bei Weibern, die doch das Herz (das Wort nämlich) immer auf der Zunge haben, wie einen heraufsteigenden globulus hystericus, dieses Wort auszusprechen vermochte: »Es ist«, sagt' er, »der Gießhals und der Kugelzieher ihres Herzens selber; es ist der Ball an ihrem Fächer-Rapier und für mich eine Giftkugel, eine Pechkugel für den Bel zu Babel.«

Auf einmal entsprang seine Hand aus dem süßen Personalarrest; er nahm Hut und Stock und plauderte heraus: »Ich sehe, du bist so einfältig wie ich: instanter, instantius, instantissime, mit drei Worten: hast du es ihr gesagt wegen der Witwenkasse? Nur ja und nein! Ich fahre sogleich zur Tür hinaus.« Siebenkäs[438] warf noch schneller alle Nachrichten auf einmal hervor, um auf immer von jeder frei zu sein: »Sie tritt gewiß hinein. Ich hab' ihr nichts gesagt und kann nicht. Du kannst ihrs leichtlich sagen. Du mußt auch. Ich komme nicht mehr in Fantaisie. Und nachmittags, Heinrich, wollen wir uns recht erlustigen, unser Lebenspiel soll ein klingendes sein – an unsern Pedalharfen stehen ja die Erhöhtritte für Freudentöne noch alle, und wir können darauf treten.« Heinrich kam wieder zu sich und sagte fortgehend: »Am menschlichen Instrument sind die Cremoneser Saiten aus lebendigem Gedärm gedreht, und die Brust ist nur der Resonanzboden und der Kopf vollends der Dämpfer.« –

Die Einsamkeit lag wie eine schöne Gegend um unsern Freund, alle verirrte, verjagte Echos konnten zu ihm herübergelangen, und er konnte sich auf dem aus zwölf Stunden gewebten Flor, der sich vor dem schönsten historischen Gemälde seines Lebens aufspannte, das Gemälde zitternd nachzeichnen mit Kreide und tausendmal nachzeichnen. – Aber den Besuch der schönen, immer weiter aufblühenden Fantaisie mußte er sich verwehren, um nicht mit einem lebendigen Zaun Natalien dieses Blumental zu verriegeln. Er mußte für seine Genüsse Entbehrungen nachzahlen. Die Reize der Stadt und ihrer Nachbarschaft behielten ihre bunte Hülse und verloren ihren süßen Kern; alles glich für ihn einem Dessertaufsatz, über dessen gläsernen Boden man in den vorigen Zeiten buntes Zucker-Pulver streuete, und den in den jetzigen nur farbiger Sand grundiert, mehr zum Stippen als zum Käuen tauglich. Alle seine Hoffnungen, alle Blüten und Früchte seines Lebens wuchsen und reiften nun, gleich unsern höhern, wie die der unterirdischen Platterbse133, – unter der Erde, ich meine in dem Schein-Grabe, in das er gehen wollte. Wie wenig hatt' er: und wie viel! Sein Fuß stand auf verdorrten, stechenden Rosenstöcken, sein Auge sah rund um die elysischen Felder seiner Zukunft bedorntes Strauchwerk, borstiges Gestrippe und einen aus seinem Grab gemachten Wall gezogen; sein[439] ganzes Leipziger Rosental schränkte sich auf das grüne Rosenstöckchen ein, das unaufgeblüht von Nataliens Herzen an seines verpflanzt worden. – Und wie viel hatt' er doch! Von Natalie ein Vergißmeinnicht seines ganzen Lebens – das geschenkte seidne war nur die Rinde des immer blühenden –; einen Seelenfrühling, den er endlich nach so vielen Frühlingen erlebt, den, zum ersten Male von einem weiblichen Wesen so geliebt zu werden, wie ihm hundert Träume und Dichter an andern vorgemalt. – Aus der alten papiernen Rumpelkammer der Akten und Bücher auf einmal den Schritt in die frischgrüne blumenvolle Schäferwelt der Liebe zu tun, zum ersten Male eine solche Liebe nicht nur zu erhalten, sondern auch einen solchen Scheide-Kuß wie eine Sonne in ein ganzes Leben mitzunehmen und mit ihm es durchzuwärmen – dies war Seligkeit für einen Kreuzträger der Vergangenheit! Noch dazu konnt' er ganz hingegeben sich von den schönen Wellen dieses Paradiesesflusses ziehen und treiben lassen, da er Natalien nicht zu besitzen, nicht einmal zu sehen vermochte. In Lenetten hatt' er keine Natalie geliebt, wie in dieser keine Lenette; seine eheliche Liebe war ein prosaischer Sommertag der Ernte und Schwüle, und die jetzige eine poetische Lenznacht mit Blüten und Sternen, und seine neue Welt war dem Namen ihrer Schöpfung-Stätte, der Fantaisie, ähnlich. Er verbarg sich nicht, daß er – da er Natalien vorzusterben sich entschieden – in ihr ja nur eine Abgeschiedene liebe als ein Abgeschiedener; ja als ein noch Lebender eigentlich nur eine für ihn schon verklärte Vergangene – und er tat frei die Frage an sich, ob er nicht diese in die Vergangenheit gerückte Natalie so gut und so feurig lieben dürfe als irgendeine längst in eine noch fernere Vergangenheit geflogene, die Héloise eines Abälards oder eines St. Preux oder eine Dichters-Laura oder Werthers-Lotte, für welche er nicht einmal so im Ernste starb wie Werther.

Seinem Freunde Leibgeber war er mit aller Anstrengung nicht mehr zu sagen imstande als: »Du mußt recht von ihr geliebt worden sein, von dieser seltenen Seele, denn bloß der Ähnlichkeit mit dir darf ich ihre himmlische Güte für mich zuschreiben, ich, der ich sonst so wenig gleich sehe und nirgends Glück bei[440] Weibern gemacht.« Leibgeber und sogleich er selber hinterdrein lächelte über seine fast einfältige Wendung; aber welcher Liebhaber ist nicht während seines Maies ein wahres gutes lebendiges Schaf?

Leibgeber kam bald wieder in den Gasthof mit der Nachricht zurück, daß er die Engländerin auf Fantaisie habe fahren sehen. Firmian war recht – froh darüber: sie machte ihm seinen Vorsatz noch leichter, sich aus dem ganzen Freudenbezirke auszuschließen. Denn sie war die Tochter des Vaduzer Grafen und durfte also den Armenadvokaten, den sie einmal für Leibgebern halten sollte, jetzt nicht erblicken. Heinrich aber botanisierte jede Stunde des Tages draußen im Blüten-Abhang von Fantaisie, um mit seinen botanischen Suchgläsern (mit seinen Augen) weniger Blumen als die Blumengöttin auszuspüren und auszufragen. Aber es war an keine Göttererscheinung zu denken. Ach! die verwundete Natalie hatte so viele Ursachen, sich von den Ruinen ihrer schönsten Stunden entfernt zu halten und die überblühte Brandstätte zu fliehen, wo ihr der begegnen konnte, den sie nie mehr sehen wollte! –

Einige Tage darauf beehrte der Venner Rosa von Meyern die Tischgesellschaft in der Sonne mit der seinigen... Wenn die Zeitrechnungen des Verfassers nicht ganz trügen: so speisete er damals selber mit am Tische; ich erinnere mich aber der zwei Advokaten nur dunkel, und des Venners gar nicht, weil Festhasen seiner Art ein eisernes Vieh und weil ganze Wildbahnen und Tierspitäler davon zu bekommen sind. Ich bin mehr als einmal auf Personen lebendig gestoßen, die ich nachher von der Glatze bis auf die Sohle abgebosselt und in meinem biographischen Wachsfigurenkabinett herumgeführt habe; ich wünschte aber, ich wüßte – es hälfe dem Flor meines biographischen Fabrikwesens in etwas auf – es allezeit voraus, welchen ich gerade unter den anwesenden Leuten, womit ich esse oder reite, abkonterfeien werde. Ich würde tausend winzige Personalien einsammeln und in mein Briefgewölbe niederlegen können; so aber bin ich zuweilen genötigt (ich leugn' es nicht), kleinere Bestimmungen – z.B. ob etwas um 6 oder 7 Uhr vorging – geradezu herzulügen,[441] wenn mich alle Dokumente und Zeugen verlassen. Es ist daher moralisch gewiß, daß, hätten an demselben Morgen noch drei andere Autoren sich mit mir niedergesetzt, um Siebenkäsens Ehestand aus denselben geschichtlichen Hülfquellen der Welt zu geben, daß wir vier, bei aller Wahrheitliebe, ebenso verschiedene Familiengeschichten geliefert hätten, als wir von den vier Evangelisten schon wirklich in Händen haben; so daß unserem Tetrachord nur mit einer Harmonie der Evangelisten wäre nachzuhelfen gewesen, wie mit einer Stimmpfeife.

Meyern aß, wie gesagt, in der Sonne. Er sagte dem Armenadvokaten mit einem Triumph, der etwas von einer Drohung annahm, daß er morgen zurückreise in die Reichsstadt. Er tat eitler als je; wahrscheinlich hatt' er funfzig Baireutherinnen seine eheliche Hand verheißen, als wär' er der Riese Briareus mit funfzig Ringfingern an hundert Händen. Er war auf Mädchen wie Katzen auf Marum verum erpicht, daher jene Blumen und dieses Kraut von den Besitzern mit Drahtgittern überbauet werden. Wenn solche Wildschützen, die überall Jagdfolge und Koppeljagd ausüben, von Geistlichen mit dicken Eheringen lebendig auf ein Wild geschmiedet werden, das mit ihnen durch jedes Dickicht rennt, bis sie verbluten: so schreiben uns menschenfreundliche Wochenblätter, die Strafe sei zu hart; – allerdings ist sie es für das unschuldige – Wild.

Den andern Tag ließ Rosa wirklich beim Advokaten fragen: ob er nichts an seine Frau bestellen solle; er reise zu ihr.

Natalie blieb unsichtbar. – Alles, was Firmian von ihr zu sehen bekam, war ein Brief an sie, den er aus dem Postbeutel schütten sah, als er täglich nach einem von seiner Frau nachfragte. Zu einem Billet brauchte Lenette vielleicht nicht mehr Stunden, als Isokrates Jahre zu seiner Lobrede auf die Athener bedurfte; nicht mehr, sondern gerade zehn. Der Brief an Natalien kam, der Hand und dem Siegel zufolge, vom Landes-(Stief-)Vater v. Blaise. Du gutes Mädchen! (dacht' er ) wie wird er nun mit dem aus dem Eis seines Herzens gegossenen Brennspiegel den stechenden Brennpunkt langsam um alle Wunden deiner Seele führen! Wie viele verdeckte Tränen wirst du vergießen, die niemand[442] zählt; und du hast keine Hand mehr, die sie trocknet und bedeckt, außer deiner!

An einem blauen Nachmittage ging er allein in den einzigen für ihn nicht zugesperrten Lustgarten, in die Eremitage. Überall begegneten ihm Erinnerungen, aber nur schmerzlich-süße, überall hatte er da verloren oder hingegeben, Leben und Herz, und hatte von der Einsiedelei sich ihrem Namen gemäß zum Einsiedler machen lassen. Konnt' er die große dunkle Stelle vergessen, wo er neben dem knieenden Freunde und vor der untergehenden Sonne zu sterben geschworen und sich von seiner Gattin und seiner Bekannten-Welt zu scheiden versprochen?

Er hatte den Lustort verlassen, das Angesicht nach der sinkenden Sonne gerichtet, die mit ihren fast waagrechten Flammen die Aussicht verbauete, und zog nun die Stadt im Bogen weit vorüber, immer mehr nach Abend bis in die Straße nach Fantaisie dahin. Er sah mit einem bewegten Herzen dem sanft auflodernden Gestirne nach, das, gleichsam in die glühenden Kohlen von Wolken zerbröckelnd, in jene Fernen hinabzufallen schien, wo seine verwaisete Lenette mit dem Angesicht voll Abendrot in dem verstummten Zimmer stand. »Ach, gute, gute Lenette«, rief es in ihm, »warum kann ich dich nicht jetzt, in diesem Eden, an diesem vollen weichen Herzen selig zerdrücken – ach, hier würd' ich dir lieber vergeben und dich schöner lieben!« – Du gute Natur voll unendlicher Liebe bist es ja, die in uns die Entfernung der Körper in Annäherung der Seelen verwandelt; du bist es, die vor uns, wenn wir uns an fernen Orten recht innig freuen, die freundlichen Bilder aller derer, die wir verlassen mußten, wie holde Töne und Jahre vorüberführt, und du breitest unsere Arme nach den Wolken aus, welche über die Berge herfliegen, hinter denen unsere Teuersten leben! So öffnet sich das abgetrennte Herz dem fernen, wie sich die Blumen, die sich vor der Sonne auftun, auch an den Tagen, wo das Gewölk zwischen beide tritt, auseinander falten. – Der Glanz losch aus, nur die blutige Spur der gefallnen Sonne stand im Blau, die Erde trat höher mit den Gärten hervor – und Firmian sah auf einmal nahe an sich das grünende Tempetal der Fantaisie, übergossen von roter Wolken- und von weißer[443] Blüten-Schminke, vor sich schwanken und rauschen; aber ein Engel stand aus dem Himmel mit dem Schwerte eines funkelnden Wolkenstreifs davor und sagte: geh hier nicht ein; kennst du das Paradies, aus dem du gegangen bist?

Fimian kehrte um, lehnte sich im Helldunkel des Frühlings an die Kalkwand des ersten baireuthischen Hauses, um die Wundenmale seiner Augen auszuheilen und vor seinem Freunde mit keinen Zeichen zu erscheinen, die vielleicht erst zu erklären waren. Aber Leibgeber war nicht da; jedoch etwas Unerwartetes, ein Blättchen an diesen von Natalie. Ihr, die ihrs empfindet oder betrauert, daß immer und ewig eine Mosisdecke, ein Altargeländer, ein Gefängnisgitter, aus Körper und Erde gemacht, zwischen Seel' und Seele gezogen ist, ihr könnt es nicht verdammen, daß der arme, gerührte, einsame Freund ungesehen das kalte Blatt an den heißen Mund, an das zitternde Herz anpreßte. Wahrlich für die Seele ist jeder Körper, sogar der menschliche, nur die Reliquie eines unsichtbaren Geistes, und nicht etwa der Brief, den du küssest, auch die Hand, die ihn schrieb, ist wie der Mund, dessen Kuß dich mit der Nähe einer Vereinigung täuschet, nur das sichtbare, von einem hohen oder teuern Wesen geheiligte Zeichen, und die Täuschungen unterscheiden sich nur in ihrer Süßigkeit.

Leibgeber kam an, riß es auf, las es vor:

»Morgen um 5 Uhr liegt Ihre schöne Stadt hinter meinem Rücken. Ich gehe nach Schraplau. Ich hätte nicht, o teurer Freund, aus diesem holden Tale weichen können, ohne noch einmal vor Sie mit der Versicherung meiner längsten Freundschaft und mit dem Danke und Wunsche der Ihrigen zu kommen. Ich würde gern von Ihnen auf eine lebendigere Art als auf diese Abschied genommen haben; aber das lange Trennen von meiner britischen Freundin ist noch nicht vorüber, und ich habe jetzt ihre Wünsche, wie vorher meine, zu bekämpfen, um mich in meine bürgerliche Einsamkeit zu begraben oder vielmehr zu flüchten. Mit Freuden und Schmerzen hat mich der schöne Frühling verwundet; doch bleibt mein Herz wie Cramners seines wenn ich so fremd vergleichen darf – in der Asche des Restes auf dem Scheiterhaufen einsam-unversehrt für meine Geliebten. –[444] Aber Ihnen geh' es wohl, wohl! Und besser, als es mir, einem Weibe, je gehen kann. Ihnen kann das Geschick nicht viel nehmen, ja nicht einmal geben; auf allen Wasserfällen liegen Ihnen lachende ewige Regenbogen; aber die Regenwolken des weiblichen Herzens färben sich spät und erst, wenn sie lange getropft, mit dem wehmütigen heitern Bogen, den die Erinnerung an ihnen erleuchtet. – Ihr Freund ist gewiß noch bei Ihnen? – Drücken Sie ihn feurig an Ihr Herz und sagen ihm, alles, was ihm Ihres wünscht und gibt, wünscht meines ihm; und nie wird er und sein Geliebter von mir vergessen.

Ewig

Ihre Natalie«


Firmian hatte sich unter der Vorlesung mit dem gegen den Abendhimmel gekehrten Gesicht voll Tränen auf das Fenster gestützt. Heinrich griff mit freundschaftlicher Feinheit seiner Antwort vor und sagte, ihm ansehend: »Ja, diese Natalie ist wirklich gut und tausendmal besser als tausend andere, aber ich lasse mich rädern von ihrem eignen Wagen, pass' ich ihr nicht morgen um 4 Uhr auf und setze mich dicht neben sie: wahrlich! Ich muß ihre Ohren fassen und füllen, oder meine sind länger als die an einem Elefanten, der seine zu Fliegenwedeln gebraucht.« – »Tu es, lieber Heinrich«, sagte Firmian mit der heitersten Stimme, die aus der zugepreßten Kehle zu ziehen war, »ich will dir drei Zeilen mitgeben, um nur etwas einzubringen, da ich sie nie mehr sehen darf.« – Es gibt eine lyrische Trunkenheit des Herzens, worin man keine Briefe schreiben sollte, weil nach 50 Jahren Leute darüber geraten können, denen das Herz und die Trunkenheit zugleich abgeht. Firmian schrieb denn doch; und siegelte nichts; und Leibgeber las nichts.

»Ich sage zu Ihnen: lebe auch wohl! Aber ich kann nicht sagen: vergiß mich nicht! O vergiß mein! Nur mir laß das Vergißmeinnicht, das ich bekommen. – Der Himmel ist vorüber, aber das Sterben nicht. Meines kommt bald; und für dieses nur tu' ich und noch stärker mein Leibgeber eine Bitte an Sie, aber eine so seltsame – Natalie, schlage sie ihm – nicht ab. Deine Seele hat ihren Stand hoch über weiblichen Seelen, welche jede Sonderbarkeit[445] erschreckt und verwirrt; Du darfst wagen; Du wagst nie dein großes Herz und Glück. – So hab' ich denn an jenem Abende zum letzten Male gesprochen und am heutigen zum letzten Male geschrieben. Aber die Ewigkeit bleibt mir und dir!

F. S.«


Er schlief die ganze Nacht nur träumend, um Leibgebers Wecker zu sein. Aber um 3 Uhr morgens stand dieser schon als Briefträger und Requetenmeister unter einer Riesenlinde, deren Hängebette mit einer schlafenden Welt über die Allee hineinsank, wodurch Natalie kommen mußte. Firmian spielte in seinem Bette Heinrichs Rolle des Wartens nach und sagte immer zu sich: jetzt wird sie von der Britin Abschied nehmen – jetzt einsitzen – jetzt vor dem Baum vorbeifahren, und er wird ihr in die Zügel fallen. Er phantasierte sich in Träume hinein, die ihn mit einem peinlichen Wirrwarr und mit wiederholten Versagungen seiner Bitte wund stießen. Wie viele trübe Tage werden oft, im physischen und im moralischen Wetter, von einer einzigen sternhellen Nacht geboren! – Endlich träumte ihn, sie reich' ihm aus ihrem herrollenden Wagen die Hand, mit weinenden Augen und mit dem grünen Rosenzweige vor der Brust, und sage leise: »Ich sage doch nein! Würd' ich denn lange leben, wenn du gestorben wärest?« – Sie drückte seine Hand so stark, daß er erwachte; aber der Druck währte fort, und vor ihm stand der helle Tag und sein heller Freund und sagte: »Sie hat ja gesagt; aber du hast fest geschlafen.«

Bei einem Haare, erzählte er, hätt' er sie verpasset. Sie war mit ihrem Ankleiden und Abreisen schneller fertig geworden als andere mit ihrem Auskleiden und Ankommen. Ein betaueter Rosenast, dessen Blätter mehr stachen als seine Dornen, lag an ihrem Herzen, und ihre Augen hatte der lange Abschied rot gefärbt. Sie empfing ihn liebreich und freudig, obwohl erschrocken und horchend. Er gab ihr zuerst, als Vollmacht, Firmians offnen Brief. Ihr brennendes Auge glühte noch einmal unter zwei großen Tropfen, und sie fragte: »Und was soll ich denn tun?« »Nichts«, sagte Leibgeber, künstlich zwischen Scherz und Ernst,[446] »Sie sollen bloß leiden, daß Sie von der preußischen Kasse, sobald er gestorben ist, jedes Jahr an seinen Tod erinnert werden, als wären Sie seine Witwe.« – »Nein«, sagte sie gedehnt mit einem Tone, hinter dem aber nur ein Komma auftritt, und kein Punktum. Er wiederholte Bitten und Gründe und setzte dazu: »Nur wenigstens meinetwegen tun Sie es, ich kann es nicht sehen, wenn er eine Hoffnung oder einen Wunsch verliert; er ist ohnehin ein Tanzbär, den der Bärenführer, der Staat, im Winter fortzutanzen zwingt, ohne Winterschlaf; – ich hingegen bringe die Tatzen selten aus dem Maul und sauge beständig. Er hat die ganze Nacht gewacht, um mich aufzuwecken, und zählt nun zu Hause jede Minute.« – Sie überlas den Brief noch einmal von einem Buchstaben zum andern. Er bestand auf keinem Entscheidespruch, sondern zwirnte ein anderes Gespräch aus dem Morgen, aus der Reise und aus Schraplau zusammen. Der Morgen hatte schon hinter Baireuth seine Feuersäulen aufgerichtet, die Stadt trat mit immer mehren Rauchsäulen heran; er mußte in wenigen Minuten vom Wagen herab. »Leben Sie wohl«, sagte er im sanftesten Tone, mit einem Fuß im Wagenfußtritte hängend, »Ihre Zukunft ahme den Tag um uns nach und werde immer heller. – Und nun, welches letzte Wort geben Sie mir an meinen guten, teuern, geliebten Firmian mit?« – (Ich will nachher eine Bemerkung machen.) Sie zog den Reiseflor wie einen Vorhang des ausgespielten Bühnenlebens nieder und sagte eingehüllt und erstickt: »Muß ich, so muß ich. Auch dies sei! Aber Sie geben mir noch einen großen Schmerz mit auf den Weg.« Allein hier sprang er herab, und der Wagen rollte mit der vielfach Verarmten über die Trümmer ihrer Tage dahin.

Hätt' er statt des abgequälten Ja ein Nein erhalten: er wäre ihr hinter der Stadt wieder nachgekommen und wieder als blinder Passagier aufgesessen.

Ich versprach oben, etwas zu bemerken: es ist dieses, daß die Freundschaft oder Liebe, die ein Mädchen für einen Jüngling hat, durch die Freundschaft, die sie zwischen ihm und seinen Freunden wahrnimmt, unter unsern Augen wächst und solche polypenartig in ihre Substanz verwendet. Daher hatte Leibgeber aus Instinkt[447] die seinige wärmer offenbart. Uns Liebhabern hingegen wird dergleichen elektrische Belegung oder magnetische Bewaffnung unserer Liebe durch die Freundschaft, die wir zwischen unserer Geliebten und ihrer Freundin bemerken, nur selten beschert, so sehr auch durch die Bemerkung unsere Flamme wüchse; alles, was uns zufället, ist der Anblick, daß unsere Geliebte unsertwegen gegen alle andere Menschen erstarret und ihnen nur Eistassen und kalte Küche präsentiert, um uns einen desto feurigern Liebetrank zu kochen. Aber die Methode, das Herz, wie den Wein, dadurch geistiger, stärker und feuriger zu machen, daß man es um den Siedpunkt herum eingefrieren lässet, kann wohl einer blinden, eigensüchtigen, aber nie einer hellen, menschenfreundlichen Seele gefallen. Wenigstens bekennt der Verfasser dieses, daß er, wenn er im Spiegel oder im Wasser ersah, daß der Januskopf, der vor ihm auf dem einen Gesicht liebend zerfloß, sich auf dem abgekehrten hassend gegen die ganze Erde verzog er bekennt, daß er auf der Stelle ein oder ein paar solcher feindseliger Gesichter selber nachgeschnitten habe gegen den Januskopf. – Verleumden, schelten, hassen sollte ein Mädchen, des Abstichs halber, wenigstens so lange nicht, als es liebt; ist es Hausmutter, hat es Kinder und Rinder und Mägde, so wird ohnehin kein billiger Mann gegen mäßiges Ergrimmen und gegen ein bescheidenes Schmähen etwas haben. – –

Natalie hatte aus vielen Gründen in den sonderbaren Antrag gewilligt; weil er eben sonderbar war – weil ferner der Name »Witwe« für ihr schwärmendes Herz noch immer ein Trauerband zwischen ihr und Firmian zusammenwebte, das sich reizend und phantastisch um den Auftritt und den Eid jener nächtlichen Trennung schlang – weil sie heute von einer Empfindung zur andern gestiegen war und nun in der Höhe schwindelte – weil sie uneigennützig ohne Grenzen war und mit hin nach dem möglichen Schein des Eigennutzes wenig fragte – und weil sie endlich überhaupt nach dem Scheinen und dem Urteilen darüber weniger fragte, als wohl ein Mädchen darf.

Leibgeber streckte nach dem Erreichen aller seiner Ziele nur einen freudigen langen Zodiakalschein aus; Siebenkäs warf seinen[448] Trauer-Nachtschatten nicht hinein, sondern einen Halbschatten. Nur jetzt aber war er unvermögend, die beiden Lustgegenden Baireuths, Eremitage und Fantaisie, zu besuchen, welche für ihn Herkulaneum und Portici waren. Und über letztes mußt' er ja ohnehin bei seiner Abreise ziehen und da manches Versunkne wieder ausgraben. Dieses wollte er nicht lange hinaussetzen, da nicht nur die Luna untergegangen war, welche von ihrem Himmel auf alle weißen Blumen und Blüten des Frühlings einen neuen Silberschein geworfen, sondern weil auch Leibgeber sein Memento mori-Totenkopf war, der ohne Zunge und Lippe immer deutlich sagte: man erinnere sich, daß man sterben muß in Kuhschnappel – zum Spaß. Leibgebers Herz brannte nach außen in die Weite, und die Flammen seines Waldbrandes wollten auf Alpen, auf Inseln, in Residenzstädten ungebunden umherschießen und spielen; der Aktenwasserschatz in Vaduz, dieses papierne Parade- und Wochenbette der Justiz – lit de justice – wäre für ihn ein schweres, dumpfes Siechbette gewesen, mit welchem die Leute sonst den auf ihm erliegenden Wasserscheuen zuletzt selber erstickten aus Mitleid. Freilich konnte eine kleine Stadt ihn so wenig ausstehen als er sie; denn verstehen konnte sie ihn noch weniger. Saßen ja sogar im größern Baireuth an der Wirts-Tafel in der Sonne mehre Justizkommissarien (ich habe die Sache aus ihrem Munde selber), welche seine Tafelrede (im 12ten Kapitel) über die den Fürsten so schweren Palingenesien von Kronprinzen für eine förmliche Satire auf einen lebenden Markgrafen angesehen, indes er bei allen Satiren auf niemand anders zielte als auf sämtliche Menschen zugleich. Freilich, wie unbesonnen führte er sich nicht in den elenden acht Tagen, die er in unserem Hof im Voigtlande verbrachte, auf öffentlichem Markte auf? Wollen mirs nicht glaubhafte Varisker – wie die alten Voigtländer zu Cäsars Zeiten nach einigen hießen, nach andern aber Narisker – bezeugen, daß er in den besten Kleidern neben dem Rathause Bergamottebirnen und in der Brotbank Gebacknes dazu öffentlich eingekauft? Und haben ihm nicht Nariskerinnen nachgesehen, die beschwören wollen, daß er besagtes Speisopfer – da doch Stallfütterung allgemein empfohlen[449] wird – im Freien verzehrt habe, als wär' er ein Fürst, und im Gehen, als wär' er eine römische Armee? – Man hat Zeugen, die mit ihm gewalzt, daß er Maskenbällen in Schlafrock und Federmütze beigewohnt, und daß er beide schon den ganzen Tag im Ernst getragen, eh' er sie zum Spaße abends anbehalten. Ein nicht unverständiger Narisker voll Memorie, der nicht wußte, daß ich den Mann unter meinen historischen Händen hatte, ging mit folgenden frechen Reden Leibgebers heraus: Jeder Mensch sei ein geborner Pedant. – Wenige hängen nach, fast alle vor dem Tode in verdammten Ketten, ein Freimann bezeichne daher in den meisten Ländern nur einen Profos oder auch einen Scharfrichter. – Torheit als Torheit sei ernsthaft, man verübe daher so lange die kleinste, als man scherze. – Er halte den Geist, der schaffend auf der Dinte der Kollegien schwebe, wie bei Moses auf den Wassern, mit vielen Kirchenvätern für Wind. – In seinen Augen seien die ehrwürdigen Konzilien, Konferenzen, Deputationen, Sessionen, Prozessionen im Grunde nicht ohne alles komische Salz, als ernsthafte Parodien eines steifen leeren Ernstes betrachtet, um so mehr, da nur meistens einer unter der Kompanie (oder gar seine Frau) eigentlich referiere, votiere, dezidiere, regiere, indes das mystische corpus selber mehr nur zum Scherze an dem grünen Sessiontische vexierend angebracht sei; so hänge zwar an Flötenuhren außen ein Flötenspieler angeschraubt, dessen Finger auf der kurzen, aus dem Mund wachsenden Flöte auf und niedertreten, so daß Kinder über die Talente des hölzernen Quanzes außer sich geraten; inzwischen wissen alle Uhrmacher, daß innen eine eingebauete Walze gehe und mit ihren Stiften versteckte Flöten anspiele. – Ich antwortete: »Solche Reden verraten sehr einen frechen und vielleicht spöttischen Menschen.« Es wäre wohl zu wünschen, jeder könnt' es dem Verfasser dieses nachtun, der hier die Narisker aufzufodern imstande ist, ihn, wenn sie können, eines Schrittes oder Wortes zu zeihen, das satirisch oder nicht genau nach dem Hut- und Haubenstock eines pays coutumier geformet gewesen; er verlangt freien Widerspruch, wenn er lügt. – –

Ein Briefchen war die Wurfschaufel, die den Armenadvokaten[450] am andern Tage aus Baireuth fortwarf, nämlich eines vom Grafen zu Vaduz, der Leibgebers kaltes Fieber und Talg-Aussehen freundschaftlich bedauerte und zugleich den schnellern Regierantritt des Inspektorats bestellete. Dieses Blättchen legte sich an Siebenkäs als Flughaut an, womit er seinem scheinbaren Kokons-Grabe zueilte, um daraus als frischer Inspektor aufzufliegen. Im nächsten Kapitel kehrt er um und räumt die schöne Stadt. In diesem nimmt er noch bei Leibgebern, dessen Rolle ihm zustirbt, im Silhouetten-Schneiden Privatstunden. Der Schneider-Meister und Mentor in der Schere tat hiebei nichts, was durch mich auf die Nachwelt zu kommen verdiente, als das, wovon ich in meinen Belegen kein Wort antreffe, was ich aber aus dem Munde des Hrn. Feldmanns, Gasthof-Inhabers, selber habe, der gerade an der Tafel vorschnitt, als es vorfiel. Es war nichts, als daß ein Fremder vor der Wirtstafel stand und unter mehrern Tischgenossen auch den Silhouetten-Improvisatore Leibgeber ausschnitt in Schattenpapier. Dieser ersah es und schnitt unter der Hand und unter dem Tellertuche seinerseits den Supernumerarkopisten des Gesichtes nach – und als dieser den einen Nachschnitt hinreichte, langte jener den andern hin, sagend: »Al pari, mit gleicher Münze bezahlend!« Der Passagier machte übrigens außer den Schatten-Holzschnitten noch Luftarten; worunter ihm keine gelang als die phlogistische, die er leicht mit seiner Lunge verfertigte, und in der er, gleich den Pflanzen, gedieh und sich färbte: sie ist einatembar und bekannter unter dem Namen »Wind«, um sie von den andern, untrinkbaren phlogistischen zu unterscheiden. – Als der phlogistische Windmacher, der von Stadt zu Stadt aus dem tragbaren Katheder seines Leibes gute Vorlesungen über die andern Luftarten hielt, das Macher- und Schneiderlohn und sich fortgetragen hatte, so bemerkte Heinrich nur folgendes: »Reisen und dozieren zugleich sollten Tausende; wer sich auf drei Tage einschränkt, kann sicher darin über alle Materien als außerordentlicher Lehrer lesen, von denen er wenig versteht. So viel seh' ich schon, daß sich jetzt überall leuchtende Wandelsterne um mich und andere drehen, die uns über Elektrizität, über Luftarten, über Magnetismus, kurz, über die Naturlehre ein fliegendes[451] Licht zuwerfen; aber das ist nur etwas: ich will an diesem Entenflügel ersticken, wenn solche Kathederfahrer und Kurrendlehrer (nicht Kurrendschüler) nicht überhaupt über alles Wissenschaftliche lesen können, und mit Nutzen, über die kleinsten Zweige besonders. Könnte nicht der eine auf das erste Jahrhundert nach Christi Geburt – oder aufs erste Jahrtausend vor derselben, weil es nicht länger ist – vorlesend reisen, ich meine nämlich, solches den Damen und Herren in wenigen Vorlesungen beibringen, der zweite aufs zweite, der dritte aufs dritte, der 18te auf unseres? Solche transzendente Reiseapotheken für die Seele kann ich mir gedenken. Ich freilich für meine Person bliebe dabei nicht einmal, ich kündigte mich als peripatetischer Privatdozent in den allerkleinsten Kapiteln an – z.B. ich würde an kurfürstlichen Höfen Unterricht über die Wahlkapitulation erteilen, an altfürstlichen bloß über die Fürstenerianer – exegetisch an allen Orten über den 1. Vers im 1. Buch Mosis – über den Seekraken – über den Satan, der halb dieser sein mag – über Hogarths Schwanzstück, mit Beiziehung einiger Vandykischen Köpfe auf Gold- und Kopfstücken – über den wahren Unterschied zwischen Hippozentauren und Onozentauren, den der zwischen Genies und deutschen Kritikern134 am meisten aufhellet – über den ersten Paragraph von Wolf oder auch von Pütter – über Ludwigs (XIV.) des Vergrößerten Leichenbier und Volkfeste unter seiner Bahre – über die akademischen Freiheiten, die ein akademischer kursorischer Lehrer sich außer dem Ehrensold nehmen kann, und deren größte oft der Torschluß des Hörsaals ist – überhaupt über alles. So und auf diesem Wege (will es mir vorkommen), wenn hohe circulating schools135 so gemein würden wie Dorfschulen, wenn die Gelehrten (wie man doch wenigstens angefangen) als lebendige Weberschiffe zwischen den Städten auf und niederfahren und den Faden der Ariadne, wenigstens der Rede, überall anhängen und zu etwas verweben wollten; auf[452] einem solchen Wege, wenn jede Sonne von einer Professur nach dem ptolomäischen System ihr Licht selber um die finstern, auf Hälse befestigten Weltkugeln herumtrüge – welches wohl offenbar nichts vom kopernikanischen hätte, nach welchem die Sonne auf dem Katheder stille steht, mitten unter den herreisenden und umlaufenden Wandelsternen oder Studenten – auf diesem Wege könnte man sich endlich einige Rechnung machen, daß aus der Welt etwas würde, wenigstens eine gelehrte. – Weisen würde der bloße Stein der Weisen, das Geld, den Toren aber würden die Weisen selber zuteil, und Wissenschaften aller Art und noch mehr die Wiederhersteller der Wissenschaften kämen auf die Beine – es gäbe keinen Boden mehr als klassischen, worauf man mithin ackern und fechten müßte – jeder Rabenstein wäre ein Pindus, jeder Nacht- und jeder Fürstenstuhl eine delphische Höhle – und man sollte mir dann in allen deutschen Kreisen einen Esel zeigen. – – Das folgte, wenn alle Welt auf gelehrte und lehrende Reisen ginge, der Teil der Welt freilich ausgenommen, der durchaus zu Hause sitzen muß, wenn jemand da sein soll, der hört und zahlt – gleich dem point de vue, wozu man bei Heerschauen oft den Adjutanten erlieset.« – –

Auf einmal sprang er auf und sagte: »Wollte Gott, ich ginge einmal nach Brückenau136. Dort auf Badezubern wäre mein Lehrstuhl und Musensitz. Die Kauffrau, die Rätin, die Landedelfrau oder deren Tochter läge als Schaltier im zugemachten Bassin und Reliquienkasten und steckte, wie aus ihrer andern Kleidung, nichts heraus als den Kopf, den ich zu bilden hätte – welche Predigten wollt' ich als Antonius von Padua erobernd der weichen[453] Schleie oder Sirene halten, wiewohl sie mehr eine Festung mit einem Wassergraben ist! Ich säße auf der hölzernen Hulfter ihrer feurigen, wie Phosphor unter Wasser gehaltenen Reize und dozierte! – Was wär' aber das gegen den Nutzen, den ich stiften könnte, wenn ich mich selber in ein solches Besteck und Futteral einschöbe und drinnen im Wasser wie eine Wasserorgel ginge und als Flußgott meine wenigen Amtgaben an der Schulbank auf meiner Wanne versuchte; wenn ich zwar die Lehr-Gestus unter dem warmen Wasser machte, weil nur der Kopf mit dem Magisterhut aus der Scheide, wie ein Degenknopf, herauslangte, indessen aber doch schöne Lehren, üppige unter Wasser stehende Reis-Ähren und Wasserpflanzen, einen philosophischen Wasserbau und dergleichen aus dem Zuber heraustriebe und alle Damen, die ich jetzt ordentlich mein Quäker- und Diogenes-Faß umringen sehe, mit dem herrlichsten Unterricht besprenget entließe? – Beim Himmel! ich sollte nach Brückenau eilen, als Badgast weniger denn als Privatdozent.« –

133

Die Platterbse hat zwar über der Erde einige Blumen und Früchte, aber unter ihr die meisten, obwohl weiße. Linné, Abhandlung von der bewohnten Erde.

134

Die Ähnlichkeit, die sie mit den Onozentauren haben sollen, bezieht sich wahrscheinlich auf den Reiter Bileam, der ungünstig rezensieren sollte und es doch nicht vermachte.

135

Sind von Dorf zu Dorf reisende und lehrende Schulhalter in England.

136

Seite 163 des Taschenbuchs für Brunnen- und Badegäste 1794 steht die Nachricht daß vor Damen, während sie in den Badewannen eingeriegelt liegen, auf den Deckeln der letzten junge Herren sitzen, um sie unter dem Wasser zu unterhalten. Dagegen kann freilich die Vernunft nichts haben – da das Wannenholz so dicht ist wie Seide, und da in jedem Falle jede allemal in einer Hülle stecken muß, in der sie ohne Hülle ist – aber wohl das Gefühl oder die Phantasie, und zwar aus demselben Grunde, warum ein Deckbette, 1/4 Elle dick, keine so anständige und dichte Kleidung ist als ein Florhabit für einen Ball. Sobald nicht die Unschuld der Phantasie geschonet wird so ist keine andere weiter zu schonen; die Sinnen können weder unschuldig noch schuldig sein.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 437-454.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Blumen-, Frucht- und Dornenstücke
Siebenkäs: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (insel taschenbuch)
Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs.
Blumen-, Frucht- und Dornenstücke
Ausgewählte Werke: Blumen-, Frucht-, Und Dornenstücke, Oder Ehestand, Tod Und Hochzeit (German Edition)

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon