84. Zykel

[464] Schauet nun die blinde Liane näher an!

Von dem Tage an, wo sie zerstöret heimgeführet wurde von der Mutter, fing sich unter ihrer Sonnenfinsternis mit Verweilen ein kühleres, ruhendes Leben für sie an. Die Erde hatte sich verändert, ihre Pflichten gegen diese schienen ihr abgetan – der Silberblick der Jugend wie ein Menschenblick nun erblindet, ihre kurzen Freuden, diese kleinen Maienblümchen, schon unter dem Morgenstern abgepflückt – ihr erster Geliebter leider, wie die Mutter es weissagte, nicht so fromm und zart, als sie gedacht, sondern sehr männlich, rauh und wild wie ihr Vater – die Zeit und Zukunft vertilgt und die künftigen Tage daraus für sie nur eine blind gemalte Jubelpforte, die Menschenhände nicht öffnen, und durch welche sie nicht mehr dringen kann, außer mit der entbundnen Seele, wenn diese den trägen Schlepp-Mantel des Körpers auf die Erde zurückgeworfen.

Ihr Herz klammerte sich jetzt – wie Albano dem männlichen noch mehr dem weiblichen an, das zärter und ohne die Fieber der Leidenschaften schlug; so wie die Kompaßnadel sich als eine gewundne Lilie zeigt, so die Tugend sich ihr als weibliche Schönheit.

Ihre Mutter wich nicht von ihrem Blinden-Stuhl, sie las ihr vor, sogar die französischen Gebete, und hielt sie tröstend aufrecht; und sie wurde leicht getröstet, denn sie sah nicht das bekümmerte Gesicht der Mutter und hörte nur die ruhige Stimme. Julienne warf seit dem Begräbnis der ersten Liebe eine alte Kruste ab, und ein frisches Feuer für die Freundin ging aus dem Herzen auf: »Ich habe nicht redlich an dir gehandelt«, sagte sie einmal; da erklärten sie sich verborgen einander, und dann reiheten sich ihre Seelen wie Blumen-Blätter zu einem süßen Kelche zusammen. Die Fürstin sprach ernst über Wissenschaften und gewann sogar die Mutter, der sie in männlicher Gesellschaft weniger[464] gefallen. Abends vor dem Einschlafen flog noch wie aus dem Freudenhimmel Karoline in ihr Schattenreich herab und wuchs täglich an Glanz und Farbe, sprach aber nicht mehr; und Liane entschlummerte sanft, indem sie einander anblickten.

Zuweilen fuhr der Schmerz an sie herüber, daß sie vielleicht ihre teuern Gestalten, zumal ihre Mutter, nie mehr sehe; dann war ihr, als sei sie selber unsichtbar und wandle schon allein im dunkeln, tiefen Gange zur zweiten Welt und höre die Freundinnen an der Pforte weit hinter sich ihr nachrufen – Da liebte sie zärtlich wie aus dem Tode herüber und freuete sich auf das große Wiedersehen. Spener besuchte seine Schülerin täglich; seine männliche Stimme voll Stärkung und Trost war in ihrem Dunkel die Abendgebetglocke, die den Wanderer aus der düstern Waldung wieder zu froheren Lichtern führt. So wurde ihr heiliges Herz noch heiliger emporgezogen, und die dunkeln Passionsblumen der Schmerzen schlossen sich in der lauen Augen-Nacht schlafend zu. Wie anders sind die Leiden des Sünders als die des Frommen! Jene sind eine Mondsfinsternis, durch welche die schwarze Nacht noch wilder und schwärzer wird; diese sind eine Sonnenfinsternis, die den heißen Tag abkühlt und romantisch beschattet und worin die Nachtigallen zu schlagen anfangen.

Auf diesem Wege bewahrte Liane mitten unter fremden Seufzern um sie und im Gewitter um sie her eine ruhige, genesende Brust; so zieht oft das zarte, weiße Gewölke anfangs zerrissen und gejagt, aber zuletzt geründet und langsam durch den Himmel, wenn unten der Sturm noch über die Erde schweift und alles bewegt und zerreißet. Aber, gute Liane, alle 32 Winde, sie mögen schöne Tage zu- oder wegwehen, halten länger an als die Windstille der Ruhe!

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 464-465.
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