40. Summula

[282] Theodas Höhlen-Besuch


Spät kam Theoda mit Mehlhorn, in dessen ehrlichem, warmen Herzen sie sich ordentlich wie zu Hause befand; denn eine schöne Seele kann eine schwache, die bloß zum Widertönen geboren ist, so lange genießen, ja mit sich verwechseln, bis sie ein solches Echo auch den Tierstimmen untertänig findet.

Theoda trat mit dem Gedanken an die mütterliche Schlafhöhle in den kühlen düstern Gang und sah anfangs nur Nacht unten und Licht-Sternchen oben – endlich tat sich ihr das Schattenreich auf, mit einer schimmernden Sternendecke und mit Hügeln, Felsen, Grotten und Höhlen in der Höhle. Alles schien eine Unterwelt zu bedeuten; der Volkstrom, den sie so lange draußen im Taglichte in die Tür einfluten sah, schien hier, wie ein Menschengeschlecht in Gräbern, ganz vertropft zu sein; und bald erschien auf den Hügeln da ein Schatte, bald kam aus den langen Gängen dort einer her. Ihr Herz, das heute so manchen Abschied nahm und dem das Geklüft immer mehr zum Schlafsaale der Toten wurde, schlug zuletzt so ernst und beklommen, daß das gutmütige, heitere Gespräch Mehlhorns sie in ihren Erinnerungen und Phantasien störte; sie wollte allein denken und recht traurig; die[282] ganze Wölbung war nur die größere Eisgrube des Todes; ein Grubenbau der Vergangenheit, so wie ein Gebeinhaus der Höhlenbären, deren unverrückt gelassene Gerippe alle mit den Köpfen an der Wandung lagen, wie zum Ausgange.

Sie brachte, obwohl mühsam, ihren Begleiter dahin, daß er ihr den Genuß der Einsamkeit zuließ und selber den seinigen mit den größern Männerschritten auf dem durchbrochenen Boden suchte.

Jetzt ungestört ging sie unter den andern Lichtschatten herum – sie kam vor eine kleine Bergschloß-Ruine – dann vor ein Schiefer-Häuschen, bloß aus Schiefern voll Schiefer-Abdrücke gemacht – dann tönte auf den entfernten unterirdischen Alpen zuweilen ein Alphorn die Höhlungen hindurch – sie kam an einen Bach, in welchem die unterirdischen Lampen zum zweiten Male unterirdisch widerglänzten – dann an einen kleinen See, worin eine abgespiegelte Gestalt gegen den umgekehrten Himmel hinunterhing; es war die Bildsäule der Fürstin-Mutter, die ihr Sohn dicht neben ihrem Grabe aufgestellt. Theoda eilte zu dem blassen Marmor, wie zu einer stillen Geistergestalt, und setzte sich auf das Grab daneben. Sie durfte jetzt alles vergessen und nur an ihre Mutter denken und sogar weinen; wer konnt' es im Dunkel bemerken?

Theudobach kam aus Felsengängen gegen sie daher, dessen schöne Gestalt ihr durch den Zauber des Helldunkels noch höher aufwuchs. Sie erschrak nicht, sondern sah liebreich zu seiner entblößten Stirn empor, auf der das Licht einer unbefleckten Jugend blühte; »er habe sie heute«, fing er an, »lange gesucht, weil er diesen Abend noch über Pira nach Hause abreise; denn er könne nicht gehen, bevor er noch einmal sein Betragen entschuldigt und ihre Verzeihung mitgenommen.«

»Recht gut!« sagte sie »Morgen hätten Sie mich ohnehin umsonst gesucht; ich geh' ebenfalls ab; und was das Übrige anbetrifft: ich vergebe Ihnen herzlich; Sie vergeben mir; und wir wissen beide nicht recht was: so ist alles vorbei.« Dieses brachte sie in einem Tone vor, der sehr leicht und scherzend sein sollte, eben weil ihre Augen noch in der Wehmut der vorigen Rührung schwammen. Auf einmal tönte von einem blasenden Musikchore[283] auf einem fernen Felsen das Lied herüber: Wie sie so sanft ruhn! Heftig fuhr sie vom Grabe auf und sagte, unbekümmert, daß ihre Tränen nicht mehr zu halten waren, mit angestrengtem Lächeln: »Eine Abschied-Gefälligkeit könnten Sie mir wohl erweisen – einen Freund meines Vaters in Ihrem Wagen mitzunehmen bis Pira.« – »Mit Freuden!« sagt' er. »So hol' ich ihn her«, versetzte sie und wollte davoneilen; er hielt sie an der Hand fest, blickte sie an, wollte etwas sagen, ließ aber die Hand fahren und rief: »Ach Gott, ich kann Sie nur nicht weinen sehen.« Sie eilte in einen Felsen-Talweg hinein, er folgte ihr unwillkürlich nach – da fand er sie mit dem Kopfe an eine Felsenzacke gelehnt; sie winkte ihn weg und sagte leise: »O laßt mich weinen, es fehlt mir nichts, es ist nur die dumme Musik.« – »Ich höre keine« (sagte der Krieger außer sich und riß sie vom Felsen an sein Herz) – »O du himmlisches, gutes Wesen, bleib' an meiner Brust – ich meine es redlich, muß ich von dir lassen, so muß ich zugrunde gehen.« Sie schauerte in seinen Armen, das weinende Angesicht hing wie aufgelöset seitwärts herab, die Töne drangen zu heftig ins gespaltene Herz, und seine Worte noch heftiger. »Theoda, so sagst du nichts zu mir?« – »Ach,« antwortete sie, »was hab' ich denn zu sagen?« und bedeckte das errötende Gesicht mit seiner Brust. – Da war der ewige Bund des Lebens zwischen zwei festen und reinen Herzen geschlossen.

Aber sie faßte sich in ihrer Trunkenheit zuerst und nahm seine Hand, um wieder in die weite Mitte des schimmernden Himmelgewölbes vor die Zuschauer zu gehen. – Als jetzt dem Musikchore ein zweites, in tiefe Ferne gelegt, antwortete als ein Echo: – so hielten beide Glückliche das leisere Tönen noch für das alte laute, weil die Saiten ihres Herzens darein mitklangen. Und als Theoda heraustrat vor den Glanz des brennenden Gewölbes, wie anders erschien es ihr nun! Eine Unterwelt lag vor ihr, aber eine elysische; unter der weiten Beleuchtung flimmerten selber die Wasserfälle in den Grotten und die Wassersprünge in den Seen – überall auf den Hügeln, in den Gängen wandelten selige Schatten, und auf den fernen Widerklängen schienen die fernen Gestalten zu schweben – alle Menschen schienen einander wiederzufinden,[284] und die Töne sprachen das aus, was sie entzückte – das Leben hatte ein weißes Brautkleid angezogen – wie in einem vom Mondschein glimmenden Abendtau und in Lindenduft und Sonnen-Nachröte schienen der seligen Theoda die weißgekleideten Mädchen zu gehen, und sie liebte sie alle von Herzen – und sie hielt alle Zuschauer für so gut und warm, daß sie öffentlich wie vor einem Altare hätte dem Geliebten die Hand geben können. –

In dieser Minute ließ der Fürst eine heimliche, nach dem Abendhimmel gerichtete Eichenpforte des Höhlen-Bergs aufreißen und ließ die Abendsonne wie einen goldnen Blitz durch die ganze Unterwelt schlagen und mit einer Feuersäule durch sie lodern »Ach Gott, ist denn dies wahr, sehen Sie es auch?« sagte Theoda zu ihm, welche glaubte, sie erblicke nur ihr innres Entzücken in das äußere Glänzen ausgebrochen und ihr Gesichte vorspielend, da gleichsam die goldne Achse des Sonnenwagens in der Nachtwelt ruhte und mit dem Glanz-Morgen, den er ewig mit bringt, die Lichter auslöschte und die Höhen und die Wasser übergoldete – da der ferne Mond-Tempel wie ein Sonnen-Tempel glühte – da die bleiche Bildsäule am See sich in lebendigem Rosenlichte badete und auseinanderblühte – da das angezündete Frührot des Lebens an der einsamen Abend-Welt plötzlich einen bevölkerten Lustgarten voll wandelnder Menschen aufdeckte. –

Und doch, Theoda, ist dein Irrtum keiner! Was sind denn Berge und Lichter und Fluren ohne ein liebendes Herz und ein geliebtes? Nur wir beseelen und entseelen den Leib der Welt. Ist ein Garten eine engere Landschaft, so ist die Liebe nur ein verkleinertes All; in jeder Freudenträne wohnt die große Sonne rund und licht und in Farben eingefaßt.

Lange noch immer wars Theodan, als wenn die Strahlen hin einweheten und zitterten. Die Sonne senkte sich höher an der seltsamen Klippendecke hinweg, bis alles mit einem kurzen Nachschimmern entschwand. Während der Finsternis, ehe drinnen die Lichter wieder, wie draußen die Sterne, aufgingen, begleitete Theudobach die Geliebte aus der unvergeßlichen Höhle.[285]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 282-286.
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