§ 56
Ihre Anschauung außerhalb der Poesie

[207] Nichts ist in der Dichtkunst seltner und schwerer als wahre Charaktere, ausgenommen starke oder gar große. – Goethe ist der reichste an jenen; Homer und Shakespeare an diesen beiden.

Eh' wir untersuchen, wie der Dichter Charaktere bildet, wollen wir fragen, wie wir überhaupt zum Begriffe derselben kommen.[207]

Der Charakter ist bloß die Brechung und Farbe, welche der Strahl des Willens annimmt; alle andere geistige Zusätze, Verstand, Witz etc., können jene Farbe nur erhöhen oder vertiefen, nicht erschaffen. Der Charakter wird nicht von einer Eigenschaft, nicht von vielen Eigenschaften, sondern von deren Grad und ihrem Misch-Verhältnis zueinander bestimmt; aber diesem allen ist der geheime organische Seelen-Punkt vorausgesetzt, um welchen sich alles erzeugt und der seiner gemäß anzieht und abscheidet; freilich geheim genug, aber nicht geheimer im Geistigen, als es im Körperlichen die winzigen Psychen und Elementargeisterchen sind, welche aus der Tierhaut oder aus dem Gartenbeete die verschiedenen Farben für die Pfauenfeder oder das Vergißmeinnicht und die Rose reiben – daher hat ein Autor, der einen Charakter zum witzigen oder poetischen macht, noch nicht im geringsten ihn bestimmt oder zu erschaffen angefangen. So mischt z.B. der humoristische sich ja ebensogut mit Stärke als Schwäche, mit Liebe als Haß.146 Wie offenbart sich nun uns im Leben der fremde Wille, dieses unsichtbare Licht, so bestimmt, daß wir ihn zu einem Charakter einschränken dürfen? Ja wie entblößet oft die sichtbare Löwentatze einer einzigen Handlung den ganzen Löwen, welcher der König oder das Raubtier eines ganzen Lebens ist? Wie sagt der Stern eines einzigen heiligen Opfers und Blicks uns das ganze aufgehende Sternbild eines himmlischen Charakters an, um so mehr, da alle einzelne Taten nur weit auseinanderstehende Zeichen-Punkte des Sternbilds geben?

Zwar spricht das Gesicht oder das Äußere, diese Charakter-Maske des verborgnen Ich, eine ganze Vergangenheit aus und damit Zukunft genug; aber dies reicht nicht zu; denn auch ohne körperliche Erscheinung bezeichnen schon die fünf Punkte bloß erzählter Reden oder Taten ein ganzes inneres Angesicht, wie fünf andere das äußere. Sondern zwei Dinge erklären und entscheiden. In jedem Menschen wohnen alle Formen der Menschheit, alle ihre Charaktere, und der eigne ist nur die unbegreifliche Schöpfung-Wahl einer Welt unter der Unendlichkeit von Welten, der Übergang der unendlichen Freiheit in die endliche Erscheinung.[208] Wäre das nicht: so könnten wir keinen andern Charakter verstehen oder gar erraten als unsern von andern wiederholten. Man verwundert sich, daß z.B. in der Kunst der Dichter die Himmel- und Erdenkarten menschlicher Charaktere ausbreitet, welche ihm nie im Leben können begegnet sein, von Kalibanen an bis zu hohen Idealen. Allein hier ist noch ein zweites Wunder vorhanden, nämlich daß der Leser sie getroffen findet, ebenfalls ohne auf ihre Urbilder in der Wirklichkeit gestoßen zu sein. Das Urteil über die Ähnlichkeit setzt die Kenntnis des Urbilds voraus; und dieses ist auch wirklich da, aber im Leser, so wie im Dichter. Nur unterscheidet sich der Genius dadurch, daß in ihm das Universum menschlicher Kräfte und Bildungen als ein mehr erhabenes Bildwerk in einem hellen Tage daliegt, indes dasselbe in andern unbeleuchtet ruht und dem seinigen als ein vertieftes entspricht. Im Dichter kommt die ganze Menschheit zur Besinnung und zur Sprache; darum weckt er sie wieder leicht in andern auf Ebenso werden im wirklichen Leben die plastischen Formen der Charaktere in uns durch einen einzigen Zug erschaffend, den wir sehen; ein ganzer zweiter innerer Mensch richtet sich neben unserem lebendig auf, weil ein Glied sich belebte und folglich nach der Konsequenz im moralischen Reiche, wie im organischen, der Teil sein Ganzes bestimmt, wie umgekehrt. Z.B. ein Mensch sage eine freche Lüge: seine Seelengestalt ist aufgedeckt. Noch niemand hat eine Einteilung und Zählung dieser Rassen des innern Menschen, der Albinos, Mulatten, Terzeronen u.s.w., versucht, so kurz sie auch durch die Geschichte werden müßte. Es ist sonderbar, wie dürftig diese an neuen Charakteren ist, wie oft gewisse, z.B. Alcibiades, Cäsar, Attikus, Cicero, Nero, als Seelen- und Nachtwandler der Geisterwelt wiederkehren. Diese Révenants oder Wiederkömmlinge in der Geschichte stehen nun wieder in der Poesie – dieser Wiederbringung aller Dinge – mit verklärten (parastatischen) Leibern auf. Ja man könnte, wie die Wilden von jedem Dinge auf der Erde eine Doublette im Himmel annehmen, so den meisten historischen Charakteren poetische Dioskuren nachweisen; z.B. so steht die französische Geschichte vor Wielands goldnem Spiegel und[209] entkleidet, putzt und sieht sich; freilich war die Geschichte früher als ihr Spiegel.

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Z.B. der starke Leibgeber und der sanfte Viktor.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 207-210.
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