§ 59
Form der Charaktere

[221] Die Form des Charakters ist die Allgemeinheit im Besondern, allegorische oder symbolische Individualität. Die Dichtkunst, welche ins geistige Reich Notwendigkeit und nur ins körperliche Freiheit einführt, muß die geistigen Zufälligkeiten eines Porträts, d.h. jedes Individuums, verschmähen und dieses zu einer Gattung erheben, in welcher sich die Menschheit widerspiegelt. Das gemalte Einzelwesen fället, sobald es aus dem Ringe der Wirklichkeit gehoben wird, in lauter lose Teile auseinander, z.B. die Porträts in Footes trefflichen Lustspielen, wo sich indes das Zufällige der Charaktere schön in den Zufall der Begebenheiten einspielt.

Je höher die Dichtung steht, desto mehr ist die Charakteristik eine Seelen-Mythologie, desto mehr kann sie nur die Seele der Seele gebrauchen, bis sie sich in wenige Wesen, wie Mann, Weib und Kind, und darauf in den Menschen verliert. So wie sie aus dem heroischen Epos heruntersteigt ins komische, aus dem Äther durch die Luft, aus dieser durch die Wolken auf die Erde, so schießet ihr Körper in jedem Medium dichter und bestimmter an, bis er zuletzt entweder zum Natur-Mechanismus oder in eine Eigenschaft übergeht.

Wie verhält sich die Symbolik der griechischen Charakteristik zur Symbolik der neuern? – Die Griechen lebten in der Jugend und Aurora der Welt. Der Jüngling hat noch wenig scharfe Formen und gleicht also desto mehren Jünglingen; die Morgendämmerung[221] scheidet noch wenig die schlafenden Blumen voneinander. Wie Kinder und Wilde, wie knospende Blüten nur wenige Unterschiede der Farben zeigen: so ging im ähnlichen Griechenland die Menschheit in wenige, aber große Zweige auseinander, von welchen der Dichter wenig abzustreifen brauchte, wenn er sie veredelnd versetzen wollte. Hingegen die spätere Zeit der Bildung, der Völkermischungen, der höhern Besonnenheit verästete die Menschheit in immer mehre und dünnere Zweige, wie ein Nebelfleck durch Gläser in Sonnen und Erden zerfällt. Jetzo stehen so viele Völker einander scharf individueller gegenüber als sich sonst Individuen. Mit der fortgesetzten Verästung, welche jeden Zweig einer Kraft wieder einen voll Zweige zu treiben nötigt, muß die Individuation der Menschheit wachsen, so sehr sie auch die äußere Decke der Verschiedenheiten immer dicker weben lernt. – Folglich wird ein moderner Genius, z.B. Shakespeare, welcher Zweige vom Zweige abbricht, gegen die Alten mit ihren großen Massen und Stämmen im Nachteil zu stehen scheinen, indes er dieselbe Wahrheit, dieselbe Allgemeinheit und Menschheit unter dem Laube der Individuation übergibt, nur daß ein Eroberer wie Shakespeare ein ganzes bevölkertes Land der Seelen auf einmal aufmacht. Es gibt wenige Charaktere bei ihm, welche nicht gelebt hätten und leben werden und müssen; sogar seine komischen, wie Falstaff, sind Wappenbilder der zu Fuße gehenden Menschheit. Sein Hamlet ist der Vater aller Werther und der beiden Linien der lauten Kraft-Menschen und der sentimentalen Scherzmacher.

Shakespeare daher bleibt trotz seiner geistigen Individuation so griechisch-allgemein, als Homer es mit seiner körperlichen bleibt, wenn er die verschiedene Länge zweier Helden im Sitzen und Stehen ansingt. Die Franzosen schaffen nur Porträts, ungeachtet ihrer entfärbten Kupferstiche durch abstrakte Worte; die bessern Briten und Deutschen, welche nicht die Zeichnung, nur die Farbe individualisieren, malen den Menschen sogar durch die Lokalfarbe des Humors.

Gegen die gemeine Meinung möcht' ich die Griechen mehr in Darstellung weiblicher Charaktere über die Neuern setzen; denn[222] Homers Penelope, Sophokles' Töchter des Ödips, Euripides' Iphigenie etc. stehen als die frühesten Madonnen da; – und zwar eben aus dem vorigen Grund. Das Weib wird nie so individuell als der Mann, es behält in seinen Unterschieden wenigstens im Schein mehr die großen allgemeinen Formen der Menschheit und Dichtung bei, nämlich von Gut, Böse, Jungfrau, Gattin u.s.w. Indes sieht man aus prosaischen Charakteristiken der Griechen, z.B. aus der des Alcibiades, Agathon, Sokrates in Platons Symposion, daß die Griechen sich unserer Individuation mehr nähern konnten, wenn sie wollten.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 221-223.
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