§ 65
Fernere Vergleichung des Drama und des Epos

[236] Das Epos schreitet durch äußere Handlung fort, das Drama durch innere, zu welchen jenes Taten, dieses Reden hat. Daher die epische Rede eine Empfindung bloß zu schildern157 braucht, die dramatische aber sie enthalten muß. Wenn also der Heldendichter die ganze Sichtbarkeit – Himmel und Erde – und Kriege und Völker – auf seiner Lippe trägt und bringt: so darf der Schauspieldichter mit dieser Sichtbarkeit die Unsichtbarkeit, das Reich der Empfindungen, nur leicht umkränzen. Wie kurz und unbedeutend[236] wird eine Schlacht, ein großer Prachtzug vor der Einbildung des dramatischen Lesers durch eine Zeitung-Note vorübergeführt, und wie kräftig hingegen schlagen die Worte der Geister! Beides kehrt sich im Epos um; in diesem schafft und hebt die Sichtbarkeit das innere Wort, das Wort des Dichters das des Helden, wie umgekehrt im Drama die Rede die Gestalt. Weit objektiver als das Epos ist – die Person des Dichters ganz hinter die Leinwand seines Gemäldes drängend – daher das Drama, das sich ohne sein Zwischenwort in einer epischen Folge lyrischer Momente ausreden muß. Wäre das Drama so lang als ein epischer Gesang, so würd' es weit mehre Kräfte zu seinen Siegen und Kränzen brauchen als dieser. Daher wurde das Drama bei allen Völkern ohne Ausnahme erst in den Jahren ihrer Bildung geboren, indes das Epos zugleich mit der Sprache entsprang, weil diese anfangs (nach Platner) nur das Vergangne ausdrückte, worin ja das epische Königreich liegt.

Sonderbar, aber organisch ist die Mischung und Durchdringung des Objektiven und Lyrischen im Drama. Denn nicht einmal ein Mitspieler kann mit Wirkung den tragischen Helden schildern; der Dichter erscheint sonst als Seelen-Souffeur; alles Lob, welches dem Wallenstein ein ganzes Lager und darauf eine ganze Familie zuerkennt, verfliegt entkräftet und mehr den Redner als den Gegenstand hebend und als etwas Äußerliches, weil wir alles aus dem Innern wollen steigen sehen; indes in dem Epos, dem Gebiete des Äußerlichen, die Lobsprüche der Neben-Männer gleichsam als eine zweite, aber hörbare Malerei dem Helden glänzen helfen. Das Dasein des Lyrischen zeigen – außer den Charakteren, deren jeder ein objektiver Selbst-Lyriker ist – besonders die alten Chöre, diese Urväter des Drama, welche in Äschylus und Sophokles lyrisch glühen; Schillers und anderer Sentenzen können als kleine Selbst-Chöre gelten, welche nur höhere Sprichwörter des Volks sind; daher Schiller die Chöre, diese Musik der Tragödie, wieder aufführt, um in sie seine lyrischen Ströme abzuleiten. Den Chor selber muß jede Seele, welche der Dichtkunst eine höhere Form als die bretterne der Wirklichkeit vergönnt, mit Freuden auf dem Druckpapier aufbauen; ob auf der rohen Bühne vor[237] rohen Ohren und ohne Musik, das braucht, wenn nicht Untersuchung, doch Zeit.

Man vergebe mir ein Nebenwort. Noch immer impfet man den Schauspieldichter zu sehr auf den Schauspiel-Spieler, anstatt beide zu ablaktieren als Doppelstämme eines Blütengipfels. Alles, was der Dichter uns durch die Phantasie nicht reicht, das gehört nicht seiner Kunst, sondern, sobald man es durch das Auge auf der Bühne bekommt, einer fremden an. Der eitle Dichter unterschiebt gern die Künste einander, um aus dem allgemeinen Effekt sich so viel zuzueignen, als er braucht. Gut angebrachte Musik eine Schar Krieger – eine Kinder-Schar – ein Krönung-Zug irgendein sichtbares oder hörbares Leiden gehört, wenn es ein Lorbeerblatt abwirft, nicht in den Kranz des Dichters, obwohl in den Kranz des Spielers oder Bühnen-Schmückers, – so wenig als sich ein Shakespeare die Verdienste der Shakespeares-Gallery, oder ein Schikaneder die der mozartischen Zauberflöte zueignen darf. – Die einzige Wasser-Probe des dramatischen Dichters ist daher die Leseprobe.158

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Daher durfte Schillers Jungfrau von Orleans nicht die ruhigen langen Beschreibung-Reden der homerischen Helden halten oder hören; so wenig als umgekehrt Odysseus' Reden im Philoktet passen würden in die Odyssee.

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Mehr über den zu wenig ermessenen Unterschied zwischen dichterischer und theatralischer Darstellung sehe man im Jubelsenior S.111–117 nach.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 236-238.
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