§ 66
Epische und dramatische Einheit der Zeit und des Orts

[238] Große Unterschiede durch Wegmesser ergeben sich hier für den Gang beider Dichtungarten. Das Epos ist lang und lange zu gleich, breit und schleichend; das Drama läuft durch eine kurze Laufbahn noch mit Flügeln. Wenn das Epos nur eine Vergangenheit malt und eine äußere Welt, das Drama aber Gegenwart und innere Zustände: so darf nur jene langsam, diese darf nur kurz sein. Die Vergangenheit ist eine versteinerte Stadt; – die Außen-Welt, die Sonne, die Erde, das Tier- und Lebenreich stehen auf ewigem Boden. Aber die Gegenwart, gleichsam das durchsichtige Eisfeld zwischen zwei Zeiten, zerfließt und gefrieret in gleichem Maße, und nichts dauert an ihr als ihr ewiges Fliehen – Und die innere Welt, welche die Zeiten schafft und vormißt, verdoppelt und beschleunigt sie daher; in ihr ist nur das Werden, wie in der[238] äußern das Sein nur wird; Sterben, Leiden und Fühlen tragen in sich den Pulsschlag der Schnelligkeit und des Ablaufs.

Aber noch mehr! Zur dramatischen lyrischen Wechsel-Schnelle des Innern und des Jetzos tritt noch die zweite äußere der Darstellung. Eine Empfindung – einen Schmerz – eine Entzückung zu versteinern oder ins Wachs des Schauspielers zum Erkalten abzudrücken: gäb' es etwas Widrigeres? Sondern, wie die Worte fliehen und fliegen, so müssens die Zustände. Im Drama ist eine herrschende Leidenschaft; diese muß steigen, fallen, fliehen, kommen, nur nicht halten.

Ins Epos können alle hineinspielen, und diese schlüpfrigen Schlangen können sich alle zu einer festen Gruppe verstricken. Im Drama kann die Zahl der Menschen nicht zu klein159, wie im Epos nicht zu groß sein. Denn da sich dort nicht, wie hier, jeder Geist entwickeln kann, weil jeder für die innern Bewegungen zu viel Spielraum und Breite bedürfte: so wird entweder durch allseitige Entwicklung die Zeit verloren, oder durch einseitige die Spiel-Menge. Man hat noch zu wenig aus der Erlaubnis der Vielheit epischer Mitspieler auf die Natur des Epos geschlossen.

Das erste rechte Heldengedicht ließ auf einmal zwei Völker spielen; wie das erste rechte Trauerspiel zwei Menschen (die Odyssee, gleichsam der epische Ur-Roman, ersetzt bei der Einschränkung auf einen Helden die Menge der Spieler durch die Menge der Länder). Je mehr nun Mitarbeiter an einem Ereignis, desto weniger abhängig ist dieses von einem Charakter, und desto vielseitigere Wege bleiben dem Einspielen fremder mechanischer Weltkräfte aufgetan. Der Maschinengott selber ist uns auf einmal viele Menschen zugleich geworden.

Mit der notwendigen Minderzahl der Spieler im Drama ist für die Einheit der dramatischen Zeit gerade so viel bewiesen, als gegen die Einheit des dramatischen Orts geleugnet. Denn ist einmal Gegenwart der zeitliche Charakter dieser Dichtart: so steht es nicht in der Macht der Phantasie, über eine gegenwärtige Zeit, welche ja eben durch uns allein erschaffen wird, in eine künftige[239] zu flattern und unsere eigenen Schöpfungen zu entzweien. Hingegen über Örter, Länder, die zu gleicher Zeit existieren, fliegen wir leicht. Da auf einmal mit dem Helden Asia, Amerika, Afrika und Europa existieren: so kann es, weil die Dekoration doch die Orte verändert, uns einerlei sein, in welchen von den gleichzeitigen Räumen der Held verfliege. Hingegen andere Zeiten sind andere Seelen-Zustände – und hier fühlen wir stets den Schmerz des Sprungs und Falls.

Daher dauert bei Sophokles das wichtigste Zeitspiel oft vier Stunden. Aristoteles fodert einen Tag oder eine Nacht als die dramatische Spiel-Grenze. Allerdings fällt er hier in den ab- und wegschneidenden Philosophen. Denn wird nur die innere Zeit der Wechsel der Zustände – rein durchlebt, nicht nachgeholt: so ist jede äußere so sehr unnütz, daß ohne die innere ja sogar der kleine Sprung von einem aristotelischen Morgenstern bis zum Abendstern eine gebrochne Zeit-Einheit geben würde. – Überhaupt bedenke sogar der dramatische Dichter in seinem Ringen nach Ort- und Zeit-Einheit, daß Zeit und Ort bloß vom Geiste, nicht vom Auge – das im äußern Schauspiele nur die Abschattung des innern erblickt – gemessen werden; und er darf, hat er nur einmal Interesse und Erwartung für eine Ferne von Zeit und Ort hoch genug entzündet und diese durch Ursach-Verkettung mit dem Nächsten gewaltsam herangezogen, die weitesten Sprünge über die Gegenwart wagen; – denn geflügelt springt man leicht.

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Daher geht durch die Menge bei Shakespeare oft das epische Drama in ein dramatisches Epos über.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 238-240.
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