§ 69

[248] Über dessen poetischen Wert


Der Roman verliert an reiner Bildung unendlich durch die Weite seiner Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können. Ursprünglich ist er episch; aber zuweilen erzählt statt des Autors der Held, zuweilen alle Mitspieler. Der Roman in[248] Briefen, welche nur entweder längere Monologen oder längere Dialogen sind, grenzet in die dramatische Form hinein, ja wie in Werthers Leiden, in die lyrische. Bald geht die Handlung, wie z.B. im Geisterseher, in den geschlossenen Gliedern des Drama; bald spielet und tanzet sie, wie das Märchen, auf der ganzen Weltfläche umher. – Auch die Freiheit der Prose fließet schädlich ein, weil ihre Leichtigkeit dem Künstler die erste Anspannung erlässet und den Leser vor einem scharfen Studium abneigt. – Sogar seine Ausdehnung – denn der Roman übertrifft alle Kunstwerke an Papier-Größe – hilft ihn verschlimmern; der Kenner studiert und mißt wohl ein Drama von einem halben Alphabet, aber welcher ein Werk von zehn ganzen? Eine Epopöe, befiehlt Aristoteles, muß in einem Tage durchzulesen sein; Richardson und der uns wohl bekannte Autor erfüllen auch in Romanen dieses Gebot und schränken auf einen Lesetag ein, nur aber, da sie nördlicher liegen als Aristoteles, auf einen solchen, wie er am Pole gewöhnlicher ist, der aus 90 1/4 Nächten besteht. – Aber wie schwer durch zehn Bände ein Feuer, ein Geist, eine Haltung des Ganzen und eines Helden reiche und gehe, und wie hier ein gutes Werk mit der umfassenden Glut und Luft eines ganzen Klimas hervorgetrieben sein will, nicht mit den engen Kräften eines Treibscherbens, die wohl eine Ode geben können160, das ermessen die Kunstrichter zu wenig, weil es die Künstler selber nicht genug ermessen, sondern gut anfangen, dann überhaupt fortfahren, endlich elend endigen. Man will nur studieren, was selber weniger studieret werden mußte, das Kleinste.

Auf der andern Seite kann unter einer rechten Hand der Roman, diese einzige erlaubte poetische Prose, so sehr wuchern als verarmen. Warum soll es nicht eine poetische Enzyklopädie, eine poetische Freiheit aller poetischen Freiheiten geben? Die Poesie komme zu uns, wie und wo sie will, sie kleide sich wie der Teufel der Eremiten oder wie der Jupiter der Heiden in welchen prosaischen engen dürftigen Leib; sobald sie nur wirklich darin[249] wohnt: so sei uns dieser Maskenball willkommen. Sobald ein Geist da ist, soll er auf der Welt, gleich dem Weltgeiste, jede Form annehmen, die er allein gebrauchen und tragen kann. Als Dantens Geist die Erde betreten wollte, waren ihm die epischen, die lyrischen und die dramatischen Eierschalen und Hirnschalen zu enge: da kleidete er sich in weite Nacht und in Flamme und in Himmels-Äther zugleich und schwebte so nur halb verkörpert umher unter den stärksten, stämmigsten Kritikern.

Das Unentbehrlichste am Roman ist das Romantische, in welche Form er auch sonst geschlagen oder gegossen werde. Die Stilistiker forderten aber bisher vom Romane statt des romantischen Geistes vielmehr den Exorzismus desselben; der Roman sollte dem wenigen Romantischen, das etwa noch in der Wirklichkeit glimmt, steuern und wehren. Ihr Roman als ein unversifiziertes Lehrgedicht wurde ein dickeres Taschenbuch für Theologen, für Philosophen, für Hausmütter. Der Geist wurde eine angenehme Einkleidung des Leibes. Wie die Schüler sonst in den Schuldramen der Jesuiten sich in Verba und deren Flexionen, in Vokative, Dative u.s.w. verkappten und sie darstellten: so stellten Menschen-Charaktere Paragraphen und Nutzanwendungen und exegetische Winke, Worte zu ihrer Zeit, heterodoxe Nebenstunden vor; der Poet gab den Lesern wie Basedow den Kindern, gebackene Buchstaben zu essen.

Allerdings lehrt und lehre die Poesie und also der Roman, aber nur wie die Blume durch ihr blühendes Schließen und Öffnen und selber durch ihr Duften das Wetter und die Zeiten des Tags wahrsagt; hingegen nie werde ihr zartes Gewächs zum hölzernen Kanzel- und Lehrstuhl gefället, gezimmert und verschränkt; die Holz-Fassung, und wer darin steht, ersetzen nicht den lebendigen Frühlings-Duft. – Und überhaupt was heißet denn Lehren geben? Bloße Zeichen geben; aber voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen, indes der bloße Lehrer mehr unter die Ziffern als Entzifferungs-Kanzlisten gehört.

Ein Mensch, der ein Urteil über die Welt ausspricht, gibt uns[250] seine Welt, die verkleinerte, abgerissene Welt, statt der lebendigen ausgedehnten, oder auch ein Fazit ohne die Rechnung. Darum ist eben die Poesie so unentbehrlich, weil sie dem Geiste nur die geistig wiedergeborne Welt übergibt und keinen zufälligen Schluß aufdringt. Im Dichter spricht bloß die Menschheit, nur die Menschheit an, aber nicht dieser Mensch jenen Menschen.

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Sie kann in einem Tage, aber die Klarisse kann – trotz ihren Fehlern nicht einmal in einem Jahre entstehen. Die Ode spiegelt eine Welt- und Geist Seite, der rechte Roman jede.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 248-251.
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