§ 22
Sprachautorität

[487] Weder der Sprachforscher, noch der Genius, noch das Volk allein besitzen das Sprachregale und können aus eigner Machtvollkommenheit ein neues Wort oder gar eine Wortfügung einsetzen zur Regierung. Der erste nicht, weil dieser Sprachgesetzgeber beinahe nur andern Gesetzgebern befiehlt, die wieder ihm befehlen, und weil überhaupt ihre grammatischen Pandekten der Menge so verborgen und unzugänglich sind als die florentinischen; – der zweite, der Genius, nicht, weil es nur eine päpstliche und keine geniale Unfehlbarkeit und Wahrheit-Statthalterei gibt; – und das[487] dritte nicht, das Volk, das ebensooft den beiden vorigen gehorcht als befiehlt und mehr pflanzt als säet. Aber worauf ruht denn endlich die Sprachherrschaft der neuen Wörter und Wortfolgen? Auf allen dreien auf einmal, wie jede Regier- und Staatgewalt, d.h. auf dem Dreifuße von Gesetz, Macht und leidendem oder tätigem Gehorsam. Auf diesem legitimen Dreifuße – woran freilich oft ein Bein länger ist als das andere – stehen die Reiche erträglich, wenn nur nicht der Fuß gerade einen gekrönten Zerberus-Dreikopf trägt; ein Teil Macht oder Eroberung, ein Teil Gesetz oder Herkommen, ein Teil Einwilligen oder Mitstimmen der Menge. So kommt denn wie ein Napoleon ein Wort auf den Thron durch die Macht eines erobernden Dichters und die Einstimmung der von ihm regierten Menge und durch den Beitritt der Sprachanalogie. Man muß aber nicht zu genau und in zu ähnliche Teile absondern wollen, weder bei regierenden Wörtern, noch regierenden Häuptern.


Zuweilen vereinigt ein Schriftsteller zwei Gewalten in sich, zugleich den Genius und den Sprachforscher, und nur in diesem Falle ist seine Autorität klassisch. Daher können Lessing, Klopstock, Voß gültiger und rechtkräftiger ein neues Wort mit der Herrschaft belehnen als ein Goethe oder Schiller.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 487-488.
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