Erste bis vierte Viertelstunde

[508] Über dessen praktische Lesarten


Ich beschneide die Stunde, lieber Leser, denn wozu eine besondere Vorlesung für dich, da ja eigentlich jedes Buch und jede Bibliothek für niemand anders auf der ganzen Erde geschrieben wird als für deine Person. Doch in der Zahlwoche und Buchhändlerwoche gedenkt man noch auf eine eigne Weise an dich, was dir deine Ausgaben wohl leicht beweisen. Denn da kein Mensch in der Welt – nicht einmal die Orientfürsten, zu denen man noch weniger ohne Geschenke kommen darf als zu Landrichtern – von so vielen jedes Standes und Geschlechts, sogar von Fürsten und Damen und Dachstubenschreibern, beschenkt wird als du oder das sogenannte Publikum; und dies zwar sooft – jedes Jahr in den beiden Leipziger Messen – und zwar so reichlich wie ich denn allein dir ein Geschenk von 60 bis 64 Bänden gemacht –: so hast du, guter Leser, wahrlich das Deinige zu bezahlen und in deinen Beutel zu greifen, weil wir Autoren dem römischen Rechte zufolge jedem Geschenke den Schein eines Verkaufs geben[508] und folglich von dir etwas nehmen müssen, was der Buchhändler einkassiert unter dem herkömmlichen Titel: Buchpreis.

Aber, mein Leser, diese kostbaren Geschenke ordentlich zu verwenden, fehlt es dir ganz und gar an einer Anweisung und Schule; und wenn du durch Vor- und Nachschulen, durch Philosophen- und Fürstenschulen hindurchgezogen und durch Sing-, Tanz- und Fechtschulen: immer wurde dir keine Leseschule aufgemacht. – Noch schlimmer stehts mit deiner teuern Leserin, und käme sie eben aus Töchter- und Näh- und Spinnschulen her; – es ist aber wahrlich ein starkes Elend, und ein Schreiber sollte weinen. Stehe doch nie ein Dichter dabei und könn' es sehen, wie, wo, wann er gelesen wird, bester Leser – mitten im Warten auf einen Besuch oder auf frische Pferde – unter dem Ankleiden – unter dem Essen oder später da, wo Dr. Semler die Goldmacherei trieb – oder eilfertigst, um keinen neuen Lese-Torgroschen zu zahlen – oder des herausgefallenen Lesezeichens wegen irgendwo, wie es der Teufel will – oder mitten in höchstem Verdruß, oder auch im höchsten Jubel, ohne auf das Buch besonders zu merken – oder mitten in einem ergreifenden Auftritt oder Kapitel, aus dessen Anfange der Leser vor acht Tagen sprang, und zu dessen Ende er nach acht Tagen wiederkommen will, so daß während dieses Zwischenraums die ganze Springflut des Dichters in ihm verlaufen ist – oder endlich kurz vor dem Einschlafen.- –

Letztes jedoch tadl' ich an sich selber gar nicht; die Buchbenutzung, zu lesen, um zu schlafen, wäre an sich gerade die zweckmäßigste und sehr wünschenswert; – und es hat mehr Schein als Grund, wenn man fragt, ob also ein Schriftsteller seine besten Kräfte und feurigsten Augenblicke zusammendränge, um an dem Leser nichts in Feuer zu setzen als dessen Nachtmütze und Bettvorhang und ihn durch alle Glut, statt zu begeistern, bloß einzuschläfern, wie in Südamerika gerade die höchste Sonnenwärme (nach Humboldt) das Krokodil und die großen Schlangen in Winterschlaf und Schlamm einsenkt – denn die beste Antwort auf alles ist die Foderung, daß man den Schlaf nicht verachte, den ja Dichter- und andere Werke als den Wiederhersteller aller Kräfte, als den Eroberer des so poetischen Traumreichs, als den täglichen[509] Magnetiseur für das geistige Hellsehen nicht oft genug vermählen können mit ihren Schönheiten, so wie die Juno mit der schönsten Charitin, mit Pasithea, den Gott des Schlummers verband.

Aber, worauf ich zurückzukommen habe, der große Fehler und Jammer ist, daß der Leser und der Dichter, z.B. Homer, selten zur nämlichen, meistens in verschiedener Zeit einschlafen. Heute rückst du deinen Lesetisch mit der Nachtlampe und dem Sonnenkörper des Phöbus, d.h. mit dem poetischen Buche, ans Bett; doch das Buch wirft immer hellere Strahlen, je länger du hineinsiehst, und der Schlaf wird immer weiter zurückgejagt, je näher er kommen sollte – zu was hilft da Nachtmütze und Kopfkissen? Morgen hingegen schlägst du das Buch gerade bei dem Eintritte der poetischen Sonnenfinsternis auf, und du bist vor Langweile nicht imstande, die Augen so lange offen zu behalten, bis du deine gewöhnliche Lese-Portion vor dem Einschlafen eingenommen. Ebenso schlecht fährst und schläfst du, wenn der Schreiber blitzt im Werke und Wetterleuchten und Nachtwolken gegeneinander springen läßt; wie soll da Schlaf einwurzeln? Aber warum wird nicht Rat geschafft? Warum teilt der Schreiber nicht sein Werk nach Ähnlichkeit der Leiden-Stationen in Schlaf-Stationen ab und bezeichnet genauer die Stellen, wo er als abnehmender Mond aufgeht und durch ein geschickt fortgesetztes Vierteilen und diminuendo sich zu einem Grassichelrücken abstumpft, bis er ganz neu und unsichtbar wird zugleich mit dem Geist des Lesers? Guten Poeten fehlen dergleichen Stellen nie; nur sind sie für den schlaflustigen Leser im Bette nicht genug abgeteilt oder besonders angezeigt.

Was vollends deine Teuerste anlangt, lieber Leser, nämlich die Leserin: so sind ihre Lesarten noch zehn mal ärger, aber noch hundertmal unheilbarer; wir wollen sie also lieber machen lassen, was sie will – das Seidenläppchen oder der Seidenfaden kann aus dem Buche fallen – oder dieses, von ihr aufgeschlagen auf den Bauch hingelegt, werde von andern umgekehrt und zugeklappt, so daß sie in beiden Fällen nicht weiß, wo sie blieb – oder sie mag der Geschichte wegen hinten anfangen von der Offenbarung Johannis an und dann überall fortfahren bis zur Genesis und Schöpfung[510] zurück; – sie bringt doch ihr Buch zu Ende, und dies genüge jedem. Ja sie vollendet es noch eher als selber der Leser, da sie sich durch keine Sätze, geschweige Wörter, die sie nicht versteht, aufhalten läßt, sondern, sich mehr ans Ganze haltend, immer weiter dringt; eine treffliche Gewohnheit, welche sie zum Teil den Sprachzimmern der Männer verdankt, wo vor ihr täglich hundert juristische, medizinische und andere Kunstwörter, die ihr kein Mensch erklärt, vorüberrauschen.

Wahrscheinlich, geneigter Leser, wirst du auch meinem Buche die nächste Stelle an deiner Bettstelle geben und diese Bücherschau zugleich mit deinen Augen zumachen wollen, um im Schlafe statt meiner zu reden. Ich wünsche herzlich, dich so spät in der Nacht nicht zu wecken, sondern zu wiegen. – Und es haben allerdings manche Schreiber Vorzüge – und Philosophen mit ihren Windmühlen, von den Luftarten der Systeme getrieben, bewegen ebensogut Wiegen statt der Herzen als die Dichter mit ihren donnernden Wasserfällen von Redensarten, und keiner von beiden ist zu vergessen und auszulassen, so wie nicht nur die Leinweber in Schmiedeberg in Schlesien284 die Wiegen ihrer Kinder durch kleine Wasserfälle schütteln lassen, sondern auch Bergleute an manchen Orten die ihrigen durch Windmühlen – – Und der Zuckerstoff welchen der Chemiker Braconnot in Nancy, wie nach ihm Dr. Vogel in München, durch konzentrierte Holzsäure aus Druckpapier auszuziehen versteht, bleibt immer nur ein körperlicher gegen den ähnlichen geistigen, den ein Minister aus dem Druckpapier der elendesten politischen Lobredner und Ministerialzeitungschreiber zu extrahieren weiß, ja aus Lumpen selber, aber aus tragenden, wie der Chemiker aus getragenen für Papier – Und die Interpunktionzeichen der deutschen Reich-Geschichte sind die Kaiser und die Könige, und die vielen Kommata sind die kleinen Fürsten, und dabei laufen die herrlichen Päpste als lange Gedanken-Striche und Durchstriche hindurch – Und in den Büchern der Griechen und Römer hingen die Sätze ohne Unterscheidzeichen285: aneinander, bloß durch Geist gesondert – – Und[511] jeder Schluß, wenn denn nun dies alles so und nicht anders ist und sein kann, ergibt und macht sich auf die erhabene und erhebende Stellung unserer Zeit samt ihren Zeiten und Zeitläuften leicht – Und Südamerika samt Nordamerika und Griechenland samt England vergewissern, vervollkommnen, vervollständigen, verwirklichen, berücksichtigen, bewahrheiten, bewerkhaben, bewerkstelligen.....

– Jetzt schnarcht er, der Leser.

284

Ausswahl kleiner Reisebeschreibungen. B. I. S. 8.

285

Bekanntlich hatten die Alten keine Interpunktionzeichen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 508-512.
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