[512] Über die Dichtkunst


– Jetzo wachst du wieder, Leser! Ich bekenn' es dir nun, daß ich dich schon in der vorigen Vorlesung mit allen meinen schwachen Kräften einzuschläfern getrachtet, weil ich zu gewiß voraussah, du würdest erst in dieser vierten Buch und Augen zugleich schließen wollen. Um nun dies um eine Vorlesung früher zu bewerkstelligen – letztes Zeitwort war eines von den vorhin gebrauchten Zeitwörtern aus dem Lexikon für Bettfedern, d.h. der für das Bett schreibenden Federn – drehete ich aus meiner bekannten Kunst, selber einzuschlafen286, mit einem leichten Griffe zur Kunst, andere einzuschläfern, um durch langweiliges Luf-Springen ohne Ziel, wie du bei dem Wiederlesen alles selber bemerken kannst.

Jetzo aber hab' ich dich wach vor mir, mein teurer Leser, und ich kann mit mir wohl vor dir an dem schönen Himmelfahrttage von der Dichtkunst reden, dieser menschlichern Himmelfahrt, wo der Himmel selber zu uns herunterfahrt, nicht wir später in ihn hinauf. Es wohnt eine Kraft in uns, deren Allmacht uns ebensowohl Himmel als Höllen bauen kann, es ist die Phantasie. Im Leben kann uns diese Phantasie die heitersten Tage durch zurückgeworfene Schatten der Vergangenheit und nahgerückte[512] Schatten der Zukunft verdunkeln, sie kann die Freuden dünn und durchsichtig machen, und die Schmerzen dick und undurchsichtig – o! so gebt doch dieser gewaltigen Göttin das Reich der Dichtkunst zu verwalten, wo sie gerade die Gegenfüßlerin des Lebens werden kann und soll und nicht nur die Freuden vergrößern und die Schmerzen verkleinern, sondern auch beide verklären. Aber desto verwerflicher ist es, wenn sie auch in diesen Höhen ihre Entzauberkräfte in den Tiefen wiederholen wollte, und wenn sie, da unten der Erdboden knochige, scharfgezähnte Ungeheuer und lange Geiferschlangen genug trägt und entgegenführt, oben die zarten beweglichen Wolken des poetischen Himmels noch zu breiten und hohen Ungestalten und riesenhaften Furienmasken verdreht und formt anstatt zu weißen friedlichen Lämmerwolken und leichten hellen Gebirgketten, über die schweren finstern Bergrücken der Erde hinfliegend. – Warum hast du armer großer Dichter Byron, wie dein Leben, so dein Dichten zugleich im Hohlspiegel deiner Phantasie in- und auseinander gezerrt und das Heer der Sterne, wie auf einem Himmelglobus, durch Linien in Ungeheuer abgeteilt und verwandelt! – Und leider muß ich zu mir selber sagen: auch du hast früher gesündigt und zu oft die Gräber offen gezeigt, nicht bloß den Himmel offen. Aber gerade diesen Fehler nimmt das Alter am leichtesten, und der Mensch ist in seinem Spätleben der ihm überall verwandten Eintagfliege gern auch darin ähnlich, daß er wie sie, jahrelang im Dunkel des Tons und des Wassers verbringend, die letzten paar Abendstunden in dem warmen Glanze der untergehenden Sonne tanzt. Daher der alte Mann, wie sehr ernste Völker, lieber das Lustspiel als das Trauerspiel besucht.

Nur führe diese geöffnete Schulpforte nicht auf einen naheliegenden Irrweg der Goetheschen Nachspieler und Schulleute. Der Dichter erheitere nicht bloß wie Goethe, sondern erhebe auch wie Klopstock; er male nicht bloß das nahe Grün der Erde wie jener, sondern auch das tiefe Blau des Himmels wie dieser, das am Ende doch länger Farbe hält als das erbleichende Grün.

Und so tue denn, sag' ich zu mir selber, alles, was du noch vermagst in deinen abnehmenden Tagen – als wären es zunehmende –,[513] für die herrliche Dichtkunst, welche die armen und verarmenden Menschen tröstet und begeistert; und scheue keinen Aufwand von noch übrig gebliebnen Jahren und Kräften und absterbenden Augen für eine Aussaat, deren Mühe kleiner ist als die Ernte für die Freunde deines Herzens. – Und möge der hohe Geist, mit dessen Andenken ich mein früheres Werk über die Dichtkunst schloß und schmückte, meine letzten Anstrengungen und Entschlüsse billigen, – Herder!

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Katzenbergers Badreise. B. 2.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963.
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