[Zweites Manuskript]

[32] Als Eduard Raban durch den Flurgang kommend, in die Öffnung des Tores trat, da konnte er sehn, wie es regnete. Es regnete wenig.

Auf dem Trottoir gleich vor ihm, nicht höher, nicht[32] tiefer, gingen trotz des Regens viele Passanten. Manchmal trat einer vor und durchquerte die Fahrbahn.

Ein kleines Mädchen trug auf den vorgestreckten Armen einen grauen Hund. Zwei Herren machten einander gegenseitig Mitteilungen in irgendeiner Sache, sie wandten sich zuweilen mit der ganzen Vorderseite einander zu und kehrten sich dann langsam wieder ab; es erinnerte an im Wind geöffnete Türen. Der eine hielt die Hände mit der innern Fläche nach oben und bewegte sie gleichmäßig auf und ab, als halte er eine Last in Schwebe, um das Gewicht zu prüfen. Dann erblickte man eine schlanke Dame, deren Gesicht leicht zuckte, wie das Licht der Sterne, und deren flacher Hut mit unkenntlichen Dingen bis zum Rande und hoch beladen war; sie erschien zu allen Vorübergehenden ohne Absicht fremd, wie durch ein Gesetz. Und es eilte ein junger Mensch mit dünnem Stock vorüber, die linke Hand, als wäre sie gelähmt, platt auf der Brust. Viele hatten Geschäftswege; trotzdem sie schnell gingen, sah man sie länger als andere, bald auf dem Trottoir, bald unten, die Röcke paßten ihnen schlecht, an der Haltung lag ihnen nichts, sie ließen sich von den Leuten stoßen und stießen auch. Drei Herren – zwei hielten leichte Überröcke auf dem geknickten Unterarm – gingen von der Häusermauer zum Rande des Trottoirs, um zu sehen, wie es auf der Fahrbahn zuging und auf dem jenseitigen Trottoir. Durch die Lücken zwischen den Vorübergehenden sah man einmal flüchtig, dann bequem, die regelmäßig gefügten Steine der Fahrbahn, auf denen Wagen, schwankend auf den Rädern, von Pferden mit gestreckten Hälsen, rasch gezogen wurden. Die Leute, welche in den gepolsterten Sitzen lehnten, sahen schweigend die Fußgänger[33] an, die Läden, die Balkone und den Himmel. Sollte ein Wagen einem andern vorfahren, dann preßten sich die Pferde aneinander und das Riemenzeug hing baumelnd. Die Tiere rissen an der Deichsel, der Wagen rollte eilig schaukelnd, bis der Bogen um den vordern Wagen vollendet war und die Pferde wieder auseinander traten, noch die schmalen Köpfe einander zugeneigt.

Ein älterer Herr kam rasch auf das Haustor zu, blieb auf dem trockenen Mosaik stehn, wandte sich um. Und schaute dann in den Regen, der eingezwängt in diese enge Gasse verworren fiel.

Raban stellte den mit schwarzem Tuch benähten Handkoffer nieder und beugte dabei ein wenig das rechte Knie. Schon rann das Regenwasser an den Kanten der Fahrbahn in Streifen, die zu den tiefer gelegenen Kanälen sich fast spannten.

Der ältere Herr stand frei nahe bei Raban der sich ein wenig gegen den hölzernen Torflügel stützte, und sah von Zeit zu Zeit gegen Raban hin, wenn er auch hiezu scharf den Hals drehen mußte. Doch tat er dies nur aus dem natürlichen Bedürfnis, da er nun einmal unbeschäftigt war, alles, in seiner Umgebung wenigstens, genau zu beobachten. Die Folge dieses zwecklosen Hin- und Herschauens war, daß er sehr vieles nicht bemerkte. So entging es ihm, daß Rabans Lippen sehr bleich waren und nicht viel dem ganz ausgebleichten Rot seiner Krawatte nachstanden, die ein ehemals auffallendes maurisches Muster zeigte. Hätte er das aber bemerkt, dann hätte er in seinem Innern sicherlich geradezu ein Geschrei hierüber angefangen, was aber wieder nicht das Richtige gewesen wäre, denn Raban war immer bleich, wenn ihn[34] auch allerdings in letzter Zeit einiges besonders müde gemacht haben konnte.

»Das ist ein Wetter«, sagte der Herr leise und schüttelte zwar bewußt und doch ein wenig greisenhaft den Kopf.

»Ja, ja, und wenn man da reisen soll«, sagte Raban und stellte sich schnell aufrecht.

»Und das ist kein Wetter, das sich bessern wird«, sagte der Herr und sah, um alles noch im letzten Augenblick zu überprüfen, sich vorbeugend einmal die Gasse aufwärts, dann abwärts, dann zum Himmel, »das kann Tage, das kann Wochen dauern. Soweit ich mich erinnere, ist auch für Juni und Anfang Juli nichts Besseres vorhergesagt. Nun, das macht keinem Freude, ich zum Beispiel werde auf meine Spaziergänge verzichten müssen, die für meine Gesundheit äußerst wichtig sind.«

Darauf gähnte er und schien erschlafft, da er nun die Stimme Rabans gehört hatte und, mit diesem Gespräch beschäftigt, an nichts mehr Interesse hatte, nicht einmal an dem Gespräch.

Dies machte auf Raban ziemlichen Eindruck, da ihn doch der Herr zuerst angesprochen hatte, und er versuchte daher, sich ein wenig zu rühmen, selbst wenn es nicht einmal bemerkt werden sollte. »Richtig«, sagte er, »in der Stadt kann man sehr gut auf das verzichten, was einem nicht zuträglich ist. Verzichtet man nicht, dann kann man wegen der schlechten Folgen nur sich selbst Vorwürfe machen. Man wird bereuen und dadurch erst recht klar sehn, wie man sich das nächste Mal verhalten soll. Und wenn das schon im einzelnen...« [es fehlen zwei Seiten]... »Nichts meine ich damit. Ich meine gar nichts«, beeilte sich Raban zu sagen, bereit, wie es nur anging, die Zerstreutheit des Herrn zu entschuldigen, da er sich ja[35] noch ein wenig rühmen wollte. »Alles ist nur aus dem vorerwähnten Buche, das ich eben, wie andere auch; am Abend in der letzten Zeit gelesen habe. Ich war meist allein. Da sind so Familienverhältnisse gewesen. Aber abgesehen von allem anderen, ein gutes Buch ist mir nach dem Nachtmahl das Liebste. Schon seit jeher. Letzthin las ich in einem Prospekte als Zitat aus irgendeinem Schriftsteller: ›Ein gutes Buch ist der beste Freund‹, und das ist wirklich wahr, so ist es, ein gutes Buch ist der beste Freund.«

»Ja wenn man jung ist –«, sagte der Herr und meinte nichts Besonderes damit, sondern wollte damit nur ausdrücken, wie es regne, daß der Regen wieder stärker sei und daß es nun gar nicht aufhören wolle, aber es klang für Raban so, als halte sich der Herr noch mit sechzig Jahren für frisch und jung und schätze dagegen die dreißig Jahre Rabans für nichts, und wolle damit außerdem, soweit es erlaubt sei, sagen, mit dreißig Jahren sei er allerdings vernünftiger gewesen als Raban. Und er glaube, selbst wenn man sonst nichts zu tun habe, wie zum Beispiel er, ein alter Mann, so heiße es doch seine Zeit verschwenden, wenn man hier im Flur so vor dem Regen stehe, verbringe man die Zeit aber außerdem mit Geschwätz, so verschwende man sie doppelt.

Nun glaubte Raban, seit einiger Zeit könne ihn nichts berühren, was andere über seine Fähigkeiten oder Meinungen sagten, vielmehr habe er förmlich jene Stelle verlassen, wo er ganz hingegeben auf alles gehorcht hatte, so daß Leute jetzt doch nur ins Leere redeten, ob sie nun gegen oder für ihn waren. Darum sagte er: »Wir reden von verschiedenen Dingen, da Sie nicht darauf gewartet haben, was ich sagen will.«[36]

»Bitte, bitte«, sagte der Herr. »Nun, es ist nicht so wichtig«, sagte Raban, »ich meinte nur, Bücher sind nützlich in jedem Sinn und ganz besonders, wo man es nicht erwarten sollte. Denn wenn man eine Unternehmung vorhat, so sind gerade die Bücher, deren Inhalt mit der Unternehmung gar nichts Gemeinschaftliches hat, die nützlichsten. Denn der Leser, der doch jene Unternehmung beabsichtigt, also irgend wie (und wenn förmlich auch nur die Wirkung des Buches bis zu jener Hitze dringen kann) erhitzt ist, wird durch das Buch zu lauter Gedanken gereizt, die seine Unternehmung betreffen. Da nun aber der Inhalt des Buches ein gerade ganz gleichgültiger ist, wird der Leser in jenen Gedanken gar nicht gehindert und er zieht mit ihnen mitten durch das Buch, wie einmal die Juden durch das Rote Meer, möchte ich sagen.« Die ganze Person des alten Herrn bekam jetzt für Raban einen unangenehmen Ausdruck. Es schien ihm, als sei er ihm besonders nähergekommen, – es war aber nur unbedeutend... [zwei Seiten fehlen]... »Auch die Zeitung. – Aber ich wollte noch sagen, ich fahre ja nur auf das Land, für vierzehn Tage nur, ich habe mir Urlaub genommen, seit längerer Zeit zum erstenmal, es ist ja auch sonst nötig, und trotzdem hat mich zum Beispiel ein Buch, das ich, wie erwähnt, letzthin gelesen habe, über meine kleine Reise mehr belehrt, als Sie sich vorstellen könnten.« »Ich höre«, sagte der Herr. Raban war still und steckte, wie er so aufrecht stand, die Hände in die etwas zu hohen Taschen seines Überziehers. Erst nach einer Weile sagte der alte Herr: »Diese Reise scheint für Sie eine besondere Wichtigkeit zu haben.«[37]

»Nun sehn Sie«, sagte Raban und stützte sich wieder gegen das Tor. Jetzt erst sah er, wie sich der Gang mit Menschen gefüllt hatte. Sogar vor der Haustreppe standen sie, und ein Beamter, der auch bei derselben Frau wie Raban ein Zimmer gemietet hatte, mußte, als er die Treppe herunterkam, die Leute bitten, ihm Platz zu machen. Er rief Raban, der nur mit der Hand auf den Regen zeigte, über einige Köpfe, die sich jetzt alle zu Raban wandten, »Glückliche Reise« zu und erneuerte ein offenbar früher gegebenes Versprechen, nächsten Sonntag bestimmt Raban zu besuchen.

[Zwei Seiten fehlen]... angenehmen Posten hat, mit dem er auch zufrieden ist und der ihn seit jeher erwartete. Er ist so ausdauernd und innerlich lustig, daß er zu seiner Unterhaltung keinen Menschen braucht, aber alle ihn. Immer war er gesund. Ach, reden Sie nicht.

»Ich werde nicht streiten«, sagte der Herr.

»Sie werden nicht streiten, aber auch Ihren Irrtum nicht zugeben, warum bestehn Sie denn so darauf Und wenn Sie sich jetzt noch so scharf daran erinnern, Sie würden, ich wette, alles vergessen, wenn Sie mit ihm reden würden. Sie würden mir Vorwürfe machen, daß ich Sie jetzt nicht besser widerlegt habe. Wenn er nur über ein Buch spricht. Für alles Schöne ist er gleich begeistert.«...[38]

Quelle:
Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 8, Frankfurt a.M. 1950 ff..
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