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[126] Und wieder schlägt's – ein Viertel erst und zwölfe!

Ein Viertelstündchen erst, daß Gott mir helfe,

Verging, seit ich mich wieder regen kann!

Ich träumte, daß schon mancher Tag verrann!


Doch bin ich frei, das Weh hat sich gewendet.

Der seine Strahlen durch das Weltall sendet,

Er löst auch Zeit und Raum in diesem Schrein –

Ich bin allein und dennoch nicht allein!


Getrennt bin ich von meinem herben Leiden,

Und wie ein Meer, von dem ich mich will scheiden,

Laß brausen ich mein siedendheißes Blut

Und steh am Ufer als ein Mann von Mut.


So toset nur, ihr ungetreuen Wogen,

Lange genug bin ich mit euch gezogen!

Ich übersing euch, wie ein Ferg am Strand,

Und tausch euch an ein gutes Heimatland!
[126]

Schon seh ich schimmernd fließen Zeit in Zeiten,

Verlieren sich in unbegrenzte Weiten

Gefilde, Bergeshöhen, Wolkenflug:

Die Ewigkeit in einem Atemzug!


Der letzte Hauch ein wallend Meer von Leben,

Wo fliehend die Gedanken mir entschweben!

Fahr hin, o Selbst! vergängliches Idol,

Wer du auch bist, leb wohl du, fahre wohl!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 126-127.
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