Elftes Kapitel

Die Glaubensmühen

[289] Doch dies alles trug dazu bei, meine Annäherung an Anna zu erschweren; es war mir unmöglich, die Gelegenheit zu benutzen und mit ihr schönzutun; ich begriff, daß sie jetzt eben sich sehr gemessen benehmen mußte, und ich erkannte, daß es[289] eigentlich gar kein Spaß sei, einem Mädchen seine Neigung so bestimmt kundzugeben. Desto besser stand ich mich mit dem Schulmeister, mit welchem ich vielfach disputierte. Sein Bildungskreis umfaßte hauptsächlich das christlich moralische Gebiet in einem halb aufgeklärten und halb mystisch andächtigen Sinne, wo der Grundsatz der Duldung und Liebe, gegründet auf Selbsterkenntnis und auf das Studium des Wesens Gottes und der Welt, zuoberst stand. Daher war er bewandert in den Denkwürdigkeiten und Aufzeichnungen geistreich andächtiger Leute aus verschiedenen Nationen, und er besaß und kannte seltene und berühmte Bücher dieser Art, die ihm die Überlieferung gleicher Bedürfnisse in die Hände gegeben hatte. Es war viel Schönes und Erbauliches zu lesen in diesen Büchern, und ich hörte mit Bescheidenheit und Wohlgefallen seinen Vorträgen zu, da ja das Grübeln nach dem Wahren und Guten mich unerläßlich dünkte. Meine Einsprachen bestanden darin, daß ich gegen das spezifisch Christliche protestierte, welches das alleinige Merkzeichen alles Guten sein sollte. Ich befand mich in dieser Hinsicht in einem peinlichen Zerwürfnisse. Während ich die Person Christi liebte, wenn sie auch, wie ich glaubte, in der Vollendung, wie sie dasteht, eine Sage sein sollte, war ich doch gegen alles, was sich Christlich nannte, feindlich gesinnt geworden, ohne recht zu wissen warum, und ich war sogar froh, diese Abneigung zu empfinden; denn wo sich Christentum geltend machte, war für mich reizlose und graue Nüchternheit. Ich ging deswegen schon seit ein paar Jahren fast nie in die Kirche, und die religiöse Unterweisung besuchte ich sehr selten, obgleich ich dazu verpflichtet war; im Sommer kam ich durch, weil ich größtenteils auf dem Lande lebte; im Winter ging ich zwei- oder dreimal, und man schien dies nicht zu bemerken, wie man mir überhaupt keine Schwierigkeiten machte, aus dem einfachen Grunde, weil ich der grüne Heinrich hieß, d.h. weil ich eine abgesonderte und abgeschiedene Erscheinung war; auch machte ich ein so finsteres Gesicht dazu, daß die Geistlichen mich gern[290] gehen ließen. So genoß ich einer vollständigen Freiheit und, wie ich glaube, nur dadurch, daß ich mir dieselbe, trotz meiner Jugend, entschlossen angemaßt; denn ich verstand durchaus keinen Spaß hierin. Jedoch ein- oder zweimal im Jahre mußte ich genugsam bezahlen, wenn nämlich an mich die Reihe kam, in der Kirche aufzutreten, d.h. in der öffentlichen Kirchenlehre nach vorhergegangener Einübung einige auswendig gelernte Fragen zu beantworten. Dies war vor Jahren schon eine Pein für mich gewesen, nun aber geradezu unerträglich; und doch unterzog ich mich dem Gebrauche oder mußte es vielmehr, da, abgesehen von dem Kummer, den ich meiner Mutter gemacht hätte, das endliche gesetzliche Loskommen daran geknüpft war. Auf die nächste Weihnacht sollte ich nun konfirmiert werden, was mir ungeachtet der gänzlichen Freiheit, welche mir nachher winkte, große Sorgen verursachte. Daher äußerte ich mein Antichristentum jetzt gegen den Schulmeister mehr, als ich sonst getan haben würde, obgleich es in ganz anderer Weise geschah, als wenn ich mit dem Philosophen zusammen war; ich mußte nicht nur den Vater Annas, sondern überhaupt den bejahrten Mann ehren; und besonders seine duldsame und liebevolle Weise schrieb mir von selber vor, mich in meinen Ausdrücken mit Maß und Bescheidenheit zu benehmen und sogar zuzugestehen, daß ich als ein junger Bursche noch was zu lernen möglich fände. Auch war der Schulmeister eher froh über meine abweichenden Meinungen, indem sie ihm Veranlassung zu geistiger Bewegung gaben und er um so mehr Ursache bekam, mich liebzugewinnen, der Mühe wegen, die ich ihm machte. Er sagte, es sei ganz in der Ordnung, ich sei wieder einmal ein Mensch, bei welchem das Christentum das Ergebnis des Lebens und nicht der Kirche sein würde, und werde noch ein rechter Christ werden, wenn ich erst etwas erfahren habe. Der Schulmeister stand sich nicht gut mit der Kirche und behauptete, ihre gegenwärtigen Diener wären unwissende und rohe Menschen. Ich habe ihn aber ein wenig im Verdacht, daß dies nur darin[291] seinen Grund hatte, daß sie Hebräisch und Griechisch verstanden, was ihm verschlossen blieb.

Indessen war die Ernte längst vorüber, und ich mußte an die Rückkehr denken. Mein Oheim wollte mich diesmal nach der Stadt bringen und zugleich seine Töchter mitnehmen, von denen die zwei jüngeren noch gar nie dort gewesen. Er ließ eine alte Kutsche bespannen, und so fuhren wir davon, die Töchter in ihrem besten Staate, zum Erstaunen aller Dorfschaften, durch welche wir kamen. Der Oheim fuhr am gleichen Tage mit Margot zurück, Lisette und Caton blieben eine Woche bei uns, wo die Reihe an ihnen war, die Blöden und Schüchternen zu spielen, denn ich zeigte ihnen mit wichtiger Miene alle Herrlichkeiten der Stadt und tat, als ob ich dies alles erfunden hätte.

Nicht lange nachdem sie fort waren, kam eines Morgens ein leichtes Fuhrwerk vor unser Haus gerollt, und heraus stiegen der Schulmeister und sein Töchterchen, letzteres durch einen fliegenden grünen Schleier gegen die kühle Herbstluft geschützt. Eine lieblichere Überraschung hätte mir gar nicht widerfahren können, und meine Mutter hatte die größte Freude an dem guten Kinde. Der Schulmeister wollte sich umsehen, ob für den Winter eine geeignete Wohnung zu finden wäre, indem er doch allmählich sein Kind mit der Welt mehr in Berührung bringen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten sich entwickeln zu lassen. Es sagte ihm jedoch keine Gelegenheit zu, und er behielt sich vor, lieber im nächsten Jahre ein kleines Haus in der Nähe der Stadt zu kaufen und ganz überzusiedeln. Diese Aussicht erfüllte mich zwar mit plötzlicher Freude; aber ich hätte mir Anna doch lieber für immer als das Kleinod jener grünen entlegenen Täler gedacht, die mir einmal so lieb geworden. Indessen hatte ich das heimliche Vergnügen, zu sehen, wie meine Mutter Freundschaft schloß mit Anna und wie diese ebenso tiefen Respekt als herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu meiner allergrößten Genugtuung gern zu zeigen schien. Wir wetteiferten nun förmlich, ich, dem Schulmeister meine Achtung darzutun,[292] und sie meiner Mutter, und über diesem angenehmen Streite fanden wir keine Zeit, miteinander selbst zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur dadurch miteinander. So schieden sie von uns, ohne daß ich mit ihr einen einzigen besondern Blick gewechselt hätte.

Nun rückte der Winter heran und mit ihm das Weihnachtsfest. Wöchentlich dreimal früh um fünf Uhr mußte ich in das Haus des Pfarrhelfers gehen, wo in einer langen schmalen riemenförmigen Stube an vierzig junge Leute zur Konfirmation vorbereitet wurden. Wir waren Jünglinge, wie man uns nun nannte, aus allen Ständen; am oberen Ende, wo einige trübe Kerzen brannten, die Vornehmen und Studierenden, dann kam der mittlere Bürgerstand, unbefangen und mutwillig, und zuletzt, ganz in der Dunkelheit, arme Schuhmacherlehrlinge, Dienstboten und Fabrikarbeiter, etwas roh und schüchtern, unter denen wohl dann und wann eine plumpe Störung vorfiel, während weiter oben man sich mit Anstand einer ruhigen Unaufmerksamkeit hingab. Diese Ausscheidung war gerade nicht absichtlich angeordnet, sondern sie hatte sich von selbst gemacht. Wir waren nämlich nach unserm Verhalten und nach unserer Ausdauer geordnet; da nun die Vornehmsten von Haus aus zum äußern Frieden mit der Kirche streng erzogen wurden und die meiste Sicherheit im Sprechen besaßen und dies Verhältnis durch alle Grade herunterging, so war dem Scheine nach die Rangordnung ganz natürlich, besonders da die Ausnahmen sich dann von selbst zu ihresgleichen hielten und durchaus nicht sich unter die anderen Stände mischen wollten.

Schon das pünktliche Aufstehen und Hingehen am kalten dunklen Wintermorgen, an regelmäßigen Tagen, und das Hinsitzen an einen bestimmten Platz war mir unerträglich, da ich seit der Schulzeit dergleichen nicht mehr geübt. Nicht daß ich gänzlich unfügsam war für irgendeine Disziplin, wenn ich einen notwendigen und vernünftigen Zweck einsah; denn als ich zwei Jahre später meiner Militärpflicht genügen und als Rekrut mich[293] an bestimmten Tagen auf die Minute am Sammelplatze einfinden mußte, um mich nach dem Willen eines verwitterten Exerziermeisters sechs Stunden lang auf dem Absatze herumzudrehen, da tat ich dies mit dem größten Eifer und war ängstlich bestrebt, mir das Lob des alten Kommißbruders zu erwerben. Allein hier galt es, sich zur Verteidigung des Vaterlandes und seiner Freiheit fähig zu machen; das Land war sichtbar, ich stand darauf und nährte mich von seiner Frucht. Dort aber mußte ich mich gewaltsam aus Schlaf und Traum reißen, um in der düsteren Stabe zwischen langen Reihen einer Schar anderer schlaftrunkener Jünglinge das allerfabelhafteste Traumleben zu führen unter dem eintönigen Befehl eines geistlichen Ministers, mit dem ich sonst auf der Welt nichts zu schaffen hatte.

Was unter fernen östlichen Palmen vor Jahrtausenden teils sich begeben, teils von heiligen Träumern geträumt und niedergeschrieben worden war, ein Buch der Sage, das wurde hier als das höchste und ernsthafteste Lebenserfordernis, als die erste Bedingung, Bürger zu sein, Wort für Wort durchgesprochen und der Glaube daran auf das genaueste reguliert. Die wunderbarsten Ausgeburten menschlicher Phantasie, bald heiter und reizend, bald finster, brennend und blutig, aber immer durch den Duft einer entlegenen Ferne gleichmäßig umschleiert, mußten als das gegenwärtigste und festeste Fundament unseres ganzen Daseins angesehen werden und wurden uns nun zum letzten Male und ohne allen Spaß bestimmt erklärt und erläutert, zu dem Zwecke, im Sinne jener Phantasien ein wenig Wein und ein wenig Brot am richtigsten genießen zu können; und wenn dies nicht geschah, wenn wir uns dieser fremden wunderbaren Disziplin nicht mit oder ohne Überzeugung unterwarfen, so waren wir ungültig im Staate, und es durfte keiner nur eine Frau nehmen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert war dies so geübt, und die verschiedene Auslegung der symbolischen Vorstellung hatte schon ein Meer von Blut gekostet; der jetzige Umfang und Bestand unseres Staates war größtenteils eine[294] Folge jener Kämpfe, so daß für uns die Welt des Traumes auf das engste mit der gegenwärtigen und greifbarsten Wirklichkeit verbunden war. Wenn ich den widerspruchlosen Ernst sah, mit welchem ohne Mienenverzug das Fabelhafte behandelt wurde, so schien es mir, als ob von alten Leuten ein Kinderspiel mit Blumen getrieben würde, bei welchem jeder Fehler und jedes Lächeln Todesstrafe nach sich zieht.

Das erste, was uns der Lehrer als christliches Erfordernis bezeichnete und worauf er eine weitläufige Wissenschaft gründete, war das Erkennen und Bekennen der Sündhaftigkeit. Nun war die Aufrichtigkeit gegen sich selbst, die Kenntnis der eigenen Fehler und Untugenden mir keineswegs fremd, das Andenken an die kindlichen Übeltaten und moralischen Schulabenteuer noch so frisch, daß ich auf dem Grunde meines Bewußtseins sogar deutlich ein angehendes Sünderlein herumgehen sah, welches mir demütige Reue verursachte. Dennoch wollte mir das Wort nicht gefallen; es hatte einen zu handwerksmäßigen Anstrich, einen widerlich technischen Geruch wie von einer Leimsiederei oder von dem säuerlich verdorbenen Schlichtebrei eines Leinewebers. Daß die göttliche Manipulation mit dem Sündenfall in dem muffigen Wesen fortmüffelte, kam mir damals nicht recht zum Verständnis, weil uns die letzten Feinheiten der theologischen Gemütlichkeit noch nicht zugänglich waren. So ließ ich die Sache ohne Hochmut und in dem Gefühle auf sich beruhen, daß es jedenfalls sich um einen schwierigen Punkt handle und es bedenklich wäre, gelegentlich etwa aus dem Kreise der Rechtschaffenen und Braven wegzufallen. Auch dämmerte mir wohl die Ahnung auf, daß selbst der Gerechte manchen Unordentlichkeiten ausgesetzt sei und jede derselben ihr eigenes Maß der Verantwortung in sich habe.

Nach der Lehre von der Sünde kam gleich die Lehre vom Glauben, als der Erlösung von jener, und auf sie wurde eigentlich das Hauptgewicht des ganzen Unterrichtes gelegt; trotz aller Beifügungen, wie daß auch gute Werke vonnöten seien,[295] blieb der Schlußgesang doch immer und allein der Glaube macht selig! und dies uns einleuchtend zu machen als herangewachsenen jungen Leuten, wandte der geistliche Mann die möglichst annehmliche und vernünftig scheinende Beredsamkeit auf. Wenn ich auf den höchsten Berg laufe und den Himmel abzähle, Stern für Stern, als ob sie ein Wochenlohn wären, so kann ich darunter kein Verdienst des Glaubens entdecken, und wenn ich mich auf den Kopf stelle und den Maiblümchen unter den Kelch hinaufgucke, so kann ich nichts Verdienstliches am Glauben ausfindig machen. Wer an eine Sache glaubt, kann ein guter Mann sein, wer nicht, ein ebenso guter. Wenn ich zweifle, ob zwei mal zwei vier seien, so sind es darum nicht minder vier, und wenn ich glaube, daß zwei mal zwei vier seien, so habe ich mir darauf gar nichts einzubilden, und kein Mensch wird mich darum loben. Wenn Gott eine Welt geschaffen und mit denkenden Wesen bevölkert hätte, alsdann sich in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt, das geschaffene Geschlecht aber in Elend und Sünde verkommen lassen, hierauf einzelnen Menschen auf außerordentliche und wunderbare Weise sich offenbart, auch einen Erlöser gesendet unter Umständen, welche nachher mit dem Verstande nicht mehr begriffen werden konnten, von dem Glauben daran aber die Rettung und Glückseligkeit aller Kreatur abhängig gemacht hätte, alles dieses nur, um das Vergnügen zu genießen, daß an Ihn geglaubt würde, Er, der seiner doch ziemlich sicher sein dürfte so würde diese ganze Prozedur eine gemachte Komödie sein, welche für mich dem Dasein Gottes, der Welt und meiner selbst alles Tröstliche und Erfreuliche benähme. Glaube! O wie unsäglich blöde klingt mich dies Wort an! Es ist die allerverzwickteste Erfindung, welche der Menschengeist machen konnte in einer zugespitzten Lammslaune! Wenn ich des Daseins Gottes und seiner Vorsehung bedürftig und gewiß bin, wie entfernt ist dies Gefühl von dem, was man Glauben nennt! Wie sicher weiß ich, daß die Vorsehung über mir geht gleich einem Stern am Himmel, der[296] seinen Gang tut, ob ich nach ihm sehe oder nicht nach ihm sehe. Gott weiß, denn er ist allwissend, jeden Gedanken, der in meinem Inneren aufsteigt, er kennt den vorigen, aus welchem er hervorging, und sieht den folgenden, in welchen er übergeht; er hat allen meinen Gedanken ihre Bahn gegeben, die ebenso unausweichlich ist wie die Bahn der Sterne und der Weg des Blutes; ich kann also wohl sagen ich will dies tun oder jenes lassen, ich will gut sein oder mich darüber hinwegsetzen, und ich kann durch Treue und Übung es vollführen; ich kann aber nie sagen ich will glauben oder nicht glauben; ich will mich einer Wahrheit verschließen, oder ich will mich ihr öffnen! Ich kann nicht einmal bitten um Glauben, weil, was ich nicht einsehe, mir niemals wünschbar sein kann, weil ein klares Unglück, das ich begreife, noch immer eine lebendige Luft zum Atmen für mich ist, während eine Seligkeit, die ich nicht begriffe, Stickluft für meine Seele wäre.

Dennoch liegt in dem Worte Der Glaube macht selig! etwas Tiefes und Wahres, insofern es das Gefühl unschuldiger und naiver Zufriedenheit bezeichnet, welches alle Menschen umfängt, wenn sie gern und leicht an das Gute, Schöne und Merkwürdige glauben, gegenüber denjenigen, welche aus Dünkel und Verbissenheit oder aus Selbstsucht alles in Frage stellen und bemäkeln, was ihnen als gut, schön oder merkwürdig erzählt wird. Wo das religiöse Glauben bei mangelnder Überlegungskraft seinen Grund in jener liebenswürdigen und gutmütigen Leichtgläubigkeit hat, da sagt man mit Recht, es mache selig, und denjenigen Unglauben, welcher aus der anderen Quelle herrührt, kann man billig unselig nennen. Allein mit der eigentlichen dogmatischen Lehre vom Glauben haben beide rein nichts zu tun; denn während es christlich Gläubige gibt, welche in allen anderen Dingen die unangenehmsten Bezweifler und Bemäkler sind, gibt es ebenso viele Ungläubige, sogar Atheisten, welche sonst an alles Hoffnungsvolle und Erfreuliche mit allbereiter Leichtigkeit glauben, und es ist ein beliebtes Argument der[297] kirchlichen Polemiker, daß sie solchen höhnisch vorhalten, wie sie jeden auffallenden Quark als bare Münze annehmen und sich von Illusionen nähren, während sie nur das Große und Eine nicht glauben wollen. So haben wir das komische Schauspiel, wie Menschen sich der abstraktesten Ideologie hingeben, um nachher jeden, der an etwas erreichbar Gutes und Schönes glaubt, einen Ideologen zu nennen. Will man die Bedeutung des Glaubens kennen, so muß man nicht sowohl die orthodoxen Kirchenleute betrachten, bei denen alles über einen Kamm geschoren ist und das Eigentümliche daher zurücktritt, als vielmehr die undisziplinierten Wildlinge des Glaubens, welche außerhalb der Kirchenmauern frei umherschwirren, sei es in entstehenden Sekten, sei es in einzelnen Personen. Hier treten die rechten Beweggründe und das Ursprüngliche in Schicksal und Charakter hervor und werfen Licht in das verwachsene und fest gewordene Gebilde der großen geschichtlichen Masse.

Es lebte in unserer Stadt ein fremder Mann namens Wurmlinger, welcher sich ein Vergnügen daraus machte, den Leuten, welche sich mit ihm abgaben, allerlei Erfindungen und Aufschneidereien vorzutragen, um sie nachher ihrer Leichtgläubigkeit wegen zu verhöhnen, indem er erklärte, die Geschichte sei gar nicht wahr. Jemand anders aber mochte erzählen, was er wollte, so stellte der Mann es in Abrede, und er hatte eine ganz eigene tückische Manier, die Treuherzigkeit, mit welcher ihm etwas gesagt wurde, ins Lächerliche zu ziehen, auf die gleiche Weise, wie er die Treuherzigkeit derer, welche ihm glaubten, spöttisch zu machen wußte. Er aß keine Krume Brotes, die er sich nicht durch eine Lüge verschafft; denn er wäre lieber Hungers gestorben, eh er in ein auf gradem Wege erworbenes Stück Brot gebissen hätte. Aß er aber sein Brot, so sagte er, es sei gut, wenn es schlecht war, und schlecht, wenn es gut war. Überhaupt ging sein ganzes Streben dahin, sich immer für etwas anderes zu geben, als er war, was ihm ein fortgesetztes Studium verursachte, so daß er, der eigentlich nichts tat und nie etwas genützt[298] hatte, doch zu jeder Minute in der verwickeltsten Tätigkeit begriffen war. Hiezu bedurfte er eines fortgesetzten Schleichens und Lauerns, teils um die günstigen Momente zu erhaschen, seine Narrheiten vorzubringen, teils um andere auf schwachen Seiten zu ertappen, da eine Hauptleidenschaft von ihm darin bestand, die ganze Welt der Unwahrheit und Lüge zu überführen; und es war nichts Lustigeres zu sehen, als wenn er, soeben hinter einer Tür, wo er gelauert hatte, auf den Zehen hervorhüpfend, plötzlich strack und steif dastand, mit rollenden Augen um sich stierte und mit bombastischen Worten seine Gradheit, Ehrlichkeit und arglose Derbheit anrühmte. Da er bei alledem wohl fühlte, daß jedermann besser daran war als er, so erfüllte ein unnennbar neidisches Wesen seine Seele, welches ihn verzehrte wie ein glühendes Feuer und sich dadurch zu erkennen gab, daß sein drittes Wort immer das Wort »Neid« war. Er versicherte, sich in einer ewig glückseligen moralischen Überlegenheit zu befinden, und sah daher in jedem Blatte, das nicht nach seiner Weise säuselte, einen neidischen Widersacher, und die ganze Welt war nur ein vor Neid zitternder Wald für ihn. Widersprach ihm jemand, so schrieb er jeden Widerspruch dem Neide zu; schwieg man während seiner Vorträge, so wurde er wütend und konnte kaum das Weggehen des Schweigenden abwarten, um denselben des Neides zu beschuldigen, so daß seine ganze Rede durch das unaufhörlich wiederkehrende Wort Neid recht eigentlich zum tönenden Gesange des Neides selbst wurde. So war er in allem der persönliche Feind der Wahrheit und atmete nur in Abwesenheit derselben, wie die Mäuse auf dem Tische tanzen, wenn die Katze nicht zu Hause ist, und die Wahrheit rächte sich auf die einfachste Weise an ihm. Sein Grundübel war, daß er schon im Mutterleibe hatte gescheiter sein wollen als seine Mutter, und infolgedessen konnte er nur leben, wenn er nichts zu glauben brauchte, was irgend ein Mensch sagte, alle Menschen aber glaubten, was er sagte Nun konnte er sich freilich stellen, als ob dem so wäre, und er tat[299] es auch, was schon eine energische Zusammenfassung der einzelnen Verlogenheiten und seine Hauptlüge war; allein der Beweis vom wahren Sachverhalte machte sich doch zu offenbar im Gelächter seiner Nebenmenschen. Daher fand er kurz und gut seinen besten Stützpunkt in derjenigen Lehre, welche den unbedingten Glauben zum Panier erhebt. Schon daß die allgemeine Richtung der Zeit sich vom Glauben abwandte und die Mehrzahl der denkenden Menschen, wenn sie sich auch nicht dagegen aussprachen, doch denselben gut sein ließen und nur auf das Begreifliche und Erkennbare bauten, war ihm Grund genug, sich dieser Richtung schnurstracks entgegen zustellen und dabei zu behaupten, der Hang und Drang der Zeit ginge unverkennbar auf den erneuten Glauben los; denn er konnte das Lügen nirgends lassen. Diejenigen, welche wirklich glaubten, waren ihm höchst langweilig, und er bekümmerte sich nicht um sie, daher er auch nie in einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft gesehen wurde. Dagegen hatte er es um so mehr mit denen zu tun, welche nicht glaubten. Nicht daß er sich um das Seelenheil derselben viel gekümmert hätte, obgleich er die Sache mit ängstlicher Hast verfolgte; seine Angst war die hatte er einmal gesagt, daß er glaube, so mußten für ihn alle, welche nicht glaubten, Esel sein, und wenn dies auf sein Wort hin nicht angenommen wurde, so glaubte er selbst als etwas derartiges dazustehen. In der Tat könnte man den unseligen Streit die Eselfrage nennen, da gewiß von tausend Fanatikern, welche für ihre religiöse Meinung im Blute wateten, neunhundertneunundneunzig nur aus dem Grunde den Frieden verrieten und Scheiterhaufen anzündeten, weil ihnen aus dem Trotze der Verfolgten das Wort Esel entgegenzutönen schien. Nichts haßte der Mann mehr als die gewissenhafte und redliche Forschung und die Entdeckungen der Wissenschaft; wenn irgendein Ergebnis derselben bekannt wurde, so zappelte er mit Händen und Füßen dagegen und suchte es lächerlich zu machen, und wenn es sich als richtig erwies und seine bedeutenden Folgen auf allen Gassen[300] zu sehen und zu greifen waren, so tobte er erst recht und nannte es ins Angesicht eine Lüge. Das Einmaleins und eine chemische Schale waren ihm unerträglicher als dem Teufel Vaterunser und Weihkessel; aber auch die Natur rächte sich lächelnd an ihm. Denn während er die fünf Sinne nicht gelten ließ, war er stets bemüht, dieselben durch einige erfundene Sinne zu vermehren, durch deren possierliche Ausmalung er die christliche Wunderwelt erklären wollte. Wenn er hiedurch vielfach gegen den christlichen Geist verstieß und man ihm dies durch das Neue Testament bewies, so sagte er, er pfeife auf das Neue Testament, er habe seinen eigenen Kopf, im gleichen Augenblicke, wo er es das Buch des Lebens genannt hatte. Trotz alledem glaubte er aufrichtig, denn nach irgendeiner Seite hin muß jeder Mensch sich ergeben, und er glaubte um so aufrichtiger, als einesteils der Gegenstand des Glaubens unerwiesen, unbegreiflich und überirdisch war, andernteils ihn das innere Gefühl seines verunglückten Witzes hilflos und weinerlich machte.

Eines Tages ging er mit einer lustigen Gesellschaft über eine Felsenhöhe am Seeufer. Er war ursprünglich gut gewachsen; doch die andauernde Verdrehtheit seiner Seele hatte seinen Körper ganz windschief gemacht, daß er aussah wie ein verbogener Wetterhahn. Sein schöner Wuchs war aber ein Lieblingsthema seiner Rede, und jeden Augenblick war er bereit, sich auszukleiden und ihn zu zeigen, während er an allen Sterblichen etwas auszusetzen hatte, ungefragt diesem einen Höcker andichtete, jenem krumme Beine. Als er nun etwas verstimmt vor den übrigen Gesellen herging, die ihn schon verschiedentlich aufgezogen hatten, rief plötzlich einer, welcher ihn zum ersten Mal genauer ins Auge faßte: »Sie! Herr Wurmlinger! Sie sind eigentlich verteufelt krumm!« Erstaunt kehrte er sich um und sagte: »Sie träumen wohl, oder soll das ein Witz sein?« Der andere wandte sich aber zur Gesellschaft und forderte sie auf, ihn ebenfalls näher zu betrachten; man hieß ihn einige Schritte vorwärts gehen; er tat es, und jedermann bestätigte[301] nun: ja, er sei schief! Aufgebracht stellte er sich sogleich neben den Angreifer und wollte ihm beweisen, daß dieser selbst der Mißgewachsene sei. Der war aber schlank wie eine Tanne, und die Gesellschaft fing an zu lachen. Sprachlos und hastig kleidete er sich aus und ging splitternackt vor den übrigen her; die rechte Schulter war vom unaufhörlichen spöttischen Achselzucken höher als die linke, die Ellbogen von seiner eitlen Gespreiztheit nach auswärts gedreht und die Hüften verschoben; dazu wurde er durch das Bestreben, grade zu scheinen, nur noch krummer; er machte in seiner Nacktheit die wunderlichsten Beine, als er so dahinschritt und sich dann und wann ängstlich umsah, ob ihm noch nicht Beifall und Achtung der Gesellschaft nachfolge. Als diese aber in ein maßloses Gelächter ausbrach, geriet er in großen Zorn und begann, um sich Achtung zu erzwingen, ungeheuerliche Sprünge und Kunststücke zu machen, um die Stärke seines Körpers zu zeigen. Das Gelächter wurde immer größer, und die Lachenden mußten sich die Seite halten. Wie nun der nackt Umhertanzende sah, daß die lachenden Menschen sich zur Bequemlichkeit niedersetzten, sprang er plötzlich, in einem Anfall von unsäglicher Wut und irgend etwas Wunderbares erzwingen wollend, mit einem mächtigen Satz über den Rand hinaus, hoch hinunter in den See. Glücklicherweise fiel er in den Bereich eines weitläufigen Fischernetzes, das die in zwei Kähnen arbeitenden Fischer in eben diesem Augenblicke zusammenzogen und den Mann buchstäblich als einen zappelnden Fisch einheimsten und retteten. Schlotternd mußte er in seinem nackten Zustande dann eine Strecke am Ufer hintraben, bis er in ein Haus flüchten und dort seine Kleider erwarten konnte. Gleich darauf verschwand er aus der Gegend.

Die dritte Hauptlehre, welche der Geistliche uns als christlich vortrug, handelte von der Liebe. Hierüber weiß ich nicht viel Worte zu machen; ich habe noch keine Liebe betätigen können, und doch fühle ich, daß solche in mir ist, daß ich aber auf Befehl und theoretisch nicht lieben kann. Schon die unmittelbare[302] Rücksicht auf den lieben Gott ist mir gewissermaßen hinderlich und unbequem, wenn sich die natürliche Liebe in mir geltend machen will. Es ist mir begegnet, daß ich einen armen Mann auf der Straße abwies, weil ich, während ich ihm eben etwas geben wollte, zugleich an das Wohlgefallen Gottes dachte und nicht aus Eigennutz handeln mochte. Dann dauerte mich aber der Arme, ich lief zurück; allein während des Zurücklaufens dünkte mich gerade dieses Bedauern wieder zu geziert, ich kehrte nochmals um, bis ich endlich auf den vernünftigen Gedanken kam möge dem sein, wie ihm wolle, der arme Mensch müsse jedenfalls zu seiner Sache kommen, das sei die erste Frage! Manchmal kommt dieser Gedanke aber zu spät, und die Gabe bleibt ungegeben. Daher freue ich mich immer, wenn es geschieht, daß ich unbedacht meine Pflicht erfüllt habe, und es mir erst nachträglich einfällt, daß das etwas Verdienstliches sein dürfte; ich pflege dann höchst vergnügt ein Schnippchen gegen den Himmel zu schlagen und zu rufen: »Siehst du, alter Papa! nun bin ich dir doch durchgewischt!« Das höchste Vergnügen erreiche ich aber, wenn ich mir in solchen Augenblicken denke, wie ich ihm nun sehr komisch vorkommen müsse; denn da der liebe Gott alles versteht, so muß er auch Spaß verstehen, obgleich man auch wieder mit Recht sagen kann, der liebe Gott verstehe keinen Spaß!

Das Heiterste und Schönste war mir die Lehre vom Geiste, als welcher ewig ist und alles durchdringt. Freilich fürchte ich, daß ich die Lehre ein wenig mißverstand und nicht von dem rechten, geistlichen Geiste ergriffen war. Denn Gott schien mir nicht geistlich, sondern ein weltlicher Geist, weil er die Welt ist und die Welt in ihm; Gott strahlt von Weltlichkeit.

Alles in allem genommen, glaube ich doch, daß ich unter Menschen, welche in einem geistigen Christentum lebten, zu bestehen vermöchte, und wenn ich dies Annas Vater, dem Schulmeister, einräumen mußte, forderte er, das Wunderbare und die Glaubensfragen einstweilig freisinnig beiseite setzend, mich[303] auf, das Christentum wenigstens dieser geistigen Bedeutung nach anzuerkennen und darauf zu hoffen, daß es in seiner wahren Reinheit erst noch erscheinen und seinen Namen behaupten werde; etwas Besseres sei einmal nicht da, noch abzusehen. Hierauf erwiderte ich aber der Geist könne wohl durch einen Menschen leidlich schön geäußert, niemals aber erfunden werden, da er von jeher und unendlich sei; daher die Bezeichnung der Wahrheit mit einem Menschennamen einem Raub am unendlichen Gemeingute gleichkomme, aus welchem der fortgesetzte Raub des Autoritätswesens aller Art entspringe. In einer Republik, sagte ich, fordere man das Größte und Beste von jedem Bürger, ohne ihm durch den Untergang der Republik zu vergelten, indem man seinen Namen an die Spitze pflanze und ihn zum Fürsten erhebe; ebenso betrachte ich die Welt der Geister als eine Republik, die nur Gott als Protektor über sich habe, dessen Majestät in vollkommener Freiheit das Gesetz heilighielte, das er gegeben, und diese Freiheit sei auch unsere Freiheit, und unsere die seinige! Und wenn mir jede Abendwolke eine Fahne der Unsterblichkeit, so sei mir auch jede Morgenwolke die goldene Fahne der Weltrepublik! »In welcher jeder Fähndrich werden kann!« sagte freundlich lachend der Schulmeister; ich aber behauptete die moralische Wichtigkeit dieses Unabhängigkeitssinnes scheine mir sehr groß und größer zu sein, als wir es uns vielleicht denken könnten.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 289-304.
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