Ein Lied nach dem Herbst

[40] O weh! ihr Rebenhügel!

Wie steht ihr trauernd nun!

Der Sturm schwingt seine Flügel

Und die Gesänge ruhn.[40]

Es zog mit eurem Weine

Aus euch der Jubel aus;

Daß er mit ihm erscheine

Neu in des Trinkers Haus.


Laßt euer Herz erwarmen,

Die ihr nun schlürft den Wein,

Trinkt ihn auch zu dem Armen,

Der ihn geschenket ein!

Dem, den nichts kann entmuten,

Der immer trägt und haut,

Dem, der in Sommersgluten

Den harten Stein bebaut.


Wie in des Berges Tiefen

Rastlos der Bergmann schafft,

Die Schätze, die da schliefen,

Erhebt mit reger Kraft,

An Händen trägt nur Narben,

Der Herr den Edelstein:

Muß auch der oben darben,

Trinkt Wasser, ihr den Wein.


Und wie der unten nimmer,

Stirbt auch die Hoffnung, ruht,

So wächst beim letzten Schimmer

Dem oben noch der Mut.

Schlägt schwerer Hagel nieder,

Was er durchs Jahr erschafft,

Er geht neuhoffend wieder

Ans Werk mit gleicher Kraft.


Und wie in seinem Grabe

Der unten immer weilt,

Als Greis wie einst als Knabe

Zu seinen Steinen eilt,

So bleibt bei seinen Reben

Als Knabe und als Greis

Der oben – treu ergeben

Der Armut und dem Fleiß.


Er schafft vom ersten Scheine

Der Sonne bis zur Nacht,

Trinkt dann im Schlaf vom Weine,

Den ihm sein Berg gebracht –[41]

Und läßt, erwacht zur Wahrheit,

Den lang ersehnten Wein

In seiner Gottesklarheit

Dem reichen Trinker sein.


Er aber, mit der Flasche

Voll Wasser, geht in Ruh',

Ein Brot in seiner Tasche,

Und deckt die Reben zu.

Einst deckt auch ihn, den Armen,

Der lang geschafft, gewacht,

Ein Engel voll Erbarmen

Und flüstert: Gute Nacht!

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 40-42.
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