Die Stiftung des Klosters Hirsau

[98] Helicena eine Witwe war,

Reich, fromm vor andern Frauen,

Sie strebte brünstig, ganz und gar

Sich Jesum anzutrauen.

Drum warf sie oft sich auf die Knie,

Er möcht' ihr offenbaren:

Wie ihre Erdengüter sie

Ihm treulich könnt' bewahren.


Da lag sie in der Nacht einmal,

Gewiegt in fromme Träume,

Und sah ein seltsam fremdes Tal,

Darin drei Fichtenbäume.

Die Bäume waren wundersam

Aus einem Stamm gesprossen;

Aus ihren duft'gen Wurzeln kam

Ein klarer Born geflossen.


Und ob der fremden Wunderau

Sah sie am Himmel wallen

Hoch einen Dom auf Wolken blau,

Hört eine Stimme schallen:

»Dies Gotteshaus, du fromme Braut,

Sei, wo die Bäume stehen,

In festen Grund von dir gebaut,

Nimm's aus geweihten Höhen!«


Sieh, da erwacht die fromme Frau

Aus ihren süßen Träumen,

Noch steht vor ihr die fremde Au,[98]

Der Born mit den drei Bäumen.

Sie ist in hoher Freudigkeit

Bereit zu Gottes Ruhme,

Zieht an ein prächtig Feierkleid,

Schmückt sich mit duft'ger Blume.


In tiefer Demut geht sie aus

Mit ihrer Magd, der treuen,

Als ging' sie in das Gotteshaus

Oder zur Lust im Maien.

Doch weiter wandte sich ihr Fuß,

Die Wolken zogen schnelle,

Die Vögel sangen Morgengruß,

Der Fraue ward gar helle.


Ein Düften füllte rings die Au,

Als sie darüber gangen!

Zu gehen mit der hohen Frau,

Fühlt jede Blum' Verlangen.

Sie ging wohl in ein fremdes Tal,

Stieg auf des Berges Rücken,

Und alles tät im Sonnenstrahl

Ihr klar entgegenblicken.


Da stehn drei Bäum' auf grüner Au

Aus einem Stamm gesprossen,

Da ist ein Born von Himmelstau

Über Blumen hell geflossen.

Die Fraue kann nicht länger stehn,

Zu den Bäumen muß sie eilen,

Ein heil'ger Hauch tät sie umwehn,

Da möcht' sie ewig weilen.


Sie leget ab ihr Feierkleid,

Blumen und Edelsteine,

Den heiligen drei Bäumen weiht

Ihr zeitlich Gut die Reine.

In stiller Demut ging sie aus,

So stille kehrt sie wieder,

Und setzet hier das Gotteshaus

Aus Himmelshöhen nieder.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 98-99.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon