[62] Ich bin geboren in einem Wäschekorb,
Aufgewachsen in einem kleinen grünen Garten.
Fünf Meter lang, fünf Meter breit –
Mein Sarg wird wohl noch enger sein.
Kohlrabi, Apfelreis, Radieschen,
Waren meine Lieblingsspeisen.
Das Mädchen, das mich wartete, hieß Berta Jaensch.
In den Johannisbeersträuchern am Gartenrand
Lebten gute Gnomen und böse Eschen.
Fünfzehn Jahre war ich, da ich von Hause wegging.
Hochtrabend trabte ich zu Roß aus dem Glog'schen Tor.
Dreiunddreißig Jahre bin ich, da ich nach Hause zurückkehre
Auf einem knatternden Motorrad.
Die alte hölzerne Zugbrücke ist niedergerissen.
Jetzt bezwingen die Oder Eisen und Beton.
Nur der Fluß darunter, er fließt wie vor tausend Jahren
So auch heute.
Ich gehe durch die Gassen und niemand kennt mich.
Ich trage Knickerbocker und man hält mich
Für einen reisenden Engländer.
An der Schmiede, wo ich als Kind ins lohende Feuer sah,
Bleibe ich stehn und starre in Asche und Ruß.
Oben auf dem Bergfriedhof bin ich nicht allein.
Hier liegen viele, die ich einst gekannt habe.
Der alte Professor,
Bei dem ich lateinischen Nachhilfeunterricht hatte,
Und mein kleiner Bruder.
Jetzt stehe ich am Grabmal eines Generals,
Der unter Friedrich dem Großen focht.
Seinen Namen verwitterte das Gestein.
Was wollte er, was konnte er?
Niemand weiß es.
Er führte in der Schlacht von Kunersdorf
Ein Grenadierregiment – und? –
Schritt mit dem Degen in der Faust voran. – Seine Pflicht. –
Er hatte außer dem preußischen Exerzierreglement
Nie ein Buch gelesen, und war stolz darauf. –
Wir haben alle Bücher gelesen und keine Schlacht geschlagen.
Es ist eines so wenig wert als das andere.
Einmal werden vor meinem Grab die Leute stehn.
Was wollte er, was konnte er?
Niemand weiß es.[62]
Hoppla, Bruder, steh auf,
Du hast schon lange genug geschlafen.
Jetzt bin ich an der Reihe.
Da hast du meinen Stock, Esche, Natur, ungebeizt, Hornspitze.
Geh an meiner Stelle hinunter in die Stadt.
Es dämmert. Ehe die erste Gaslaterne aufflammt,
Wirst du am Marktplatz sein.
Dort steht die Königl. Preußische Adlerapotheke.
Bringe Vater und Mutter einen Gruß von mir.
Sag ihnen, ich hätte mich zur ewigen Ruh begeben
Und mich lebendig begraben.
Drei Hände Erde auf mein Grab,
Drei Seufzer, drei Tränen und damit basta.
Bitte, Vater, laß dich in der sachgemäßen Herstellung
Von Dr. A. Henschkes Restitutionsfluid nicht stören.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Harfenjule
|
Buchempfehlung
Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.
146 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro