1802. 1803

MICH wundert gar nicht, daß der Mensch so ist, wie er ist. Der, welcher ihn gemacht hat, tat vielleicht zuviel, vielleicht nur ein Geringes zu wenig für ihn. Aber das Geringe oder Versagte scheint dem Menschen so entscheidend – an die Notwendigkeit denkt er dann nicht –, daß er des vielen Verliehenen vergißt und seine Dankbarkeit nur nach dem Versagten abwägt.

556
[88]

DER Maler, der es wirklich versteht, eine Madonna, einen Johannes, einen Christus oder irgendeinen Gegenstand der edlen, erhabenen Art dem Geiste darzustellen, läßt ihm keine Flämmchen aus dem Schädel emporsteigen, um dadurch dem Anschauenden zu sagen, was er habe malen wollen. Er haucht einen zarten, kaum merklichen Schimmer über das Haupt auf dunkeln Grund – und dieser sanfte Schimmer ist es, womit er den reinen, göttlichen, geläuterten Enthusiasmus bezeichnet. So gleicht diesem Bilde der edle Mann, der seine Tugend und das reine Gefühl dafür durch die Welt und das tätige Leben gerettet hat; auch um seine Stirne, in seinen Augen schimmert der göttliche Enthusiasmus noch, geläutert durch Erfahrung und Weisheit, aber nicht verkältet.

557
[52]

DIE feinste Künstlerin in der Heuchelei ist die des Egoisten; da er wirklich in sich verliebt ist und eine immer dauernde, nie ruhende Leidenschaft fühlt, so gelingt es ihm sogar, in der Begeisterung von seinem Selbst, den Freund, dessen er bedarf, die Gattin oder Geliebte, die ihm recht zu gefallen lebt, und die Diener, die alles nach seinem Sinne ausrichten und ihm folglich alle zusammen durch ihren Dienst unentbehrlich werden, glauben zu machen, er liebe sie. Der Enthusiasmus für das geliebte Selbst drückt sich in seinem Betragen und in seinem Tone, wenn alles zu dessen Zufriedenheit geht, so schonend gefällig, zart und fein aus, daß ein solcher Mann im Kreise gutgesinnter Menschen unerkannt, gar geliebt, verehrt sterben kann, wenn ihn nicht eine plötzliche Beleidigung dieses geliebten Selbsts zu einem unvorsichtigen Ausdruck und Verfahren reizt oder er sich endlich in seinem geheimgehaltnen Testamente verrät.

558
[66]

MAN sage und schreibe, was man will, über die moralische Schwäche oder die Charakterlosigkeit überhaupt. Ohne sie gäbe es wahrscheinlich weder Güte, Nachsicht noch Liebe genug in der Welt; des Friedens und der Ruhe wäre gar zu wenig. Der Oberherr der Geister wußte, was er machte, was aus seinem Geschöpfe werden sollte; und damit jeder mehr oder weniger zu der Gattung gehöre und durch ebendies Mehr oder Weniger das beabsichtigte Spiel in der Gesellschaft befördere, so sagte er: »Laßt uns Menschen machen!« und nicht: »Laßt uns Männer machen.« So kann sich nun zwar der Mann moralisch selbst machen; aber das allgemeine Zeichen sollte jedem zu seinem und andrer Glück eingedrückt bleiben; und läge auch die Spur davon in dem Herzen des Stärksten noch so tief verborgen, sie wird ihm und andern gewiß nicht ganz unbekannt bleiben.

559
[41]

IST es möglich, mit einem wahren, freien, ganz natürlichen, oft auch kühnen Charakter, ohne irgend jemandem absichtlich die Cour gemacht zu haben, ohne alle Intrige, Furcht vor ihr und Streben gegen sie, selbst im Kampfe mit schlechten Menschen für das Gute, Wahre, Nützliche durch die Welt zu kommen, darin emporzukommen, sich aufrechtzuerhalten – und das wohl auch am Hofe? Die Frage scheint von einem Träumenden aufgeworfen zu sein; und in der Tat der, welcher die Miene des Wachenden dabei annehmen will, muß sie durch sein praktisches Leben schon aufgelöst haben. Hätte sich wirklich jemand vorgesetzt, diese Frage im praktischen Leben zu lösen, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß diesem – als Kunstwerk – viel schwerer gelingen würde, was einem an dern – als Werk der Natur, von[426] ihr angefangen und von einem reinen, edlen, mutigen Sinn, ohne tiefes Nachsinnen über das, was er tut, festgehalten – wohl noch gelingen möchte. Die Tugend, die sich allzuviel auf Gründe der Vernunft stützt, ist freilich weniger Gefahren ausgesetzt als die angedeutete, die so nah an das Empirische grenzt; aber da die letzte gewöhnlich die tätige ist, so halte ich mich hier an diese, indem ich die erste ehre, wie sie es verdient. Was muß indessen ein Mann tun, um den oben angedeuteten Zweck zu erreichen? Freilich manches ganz Ungewöhnliche. Erstlich und vorzüglich muß er an das, was die Menschen Glückmachen nennen, gar nicht denken, streng und kräftig, auf geradem, offnem Wege, ohne Furcht und Rücksicht auf sich seine Pflicht erfüllen, also so rein von Sinn und Geist sein, daß auch keine seiner Handlungen mit den schmutzigen Flecken des Eigennutzes bezeichnet sei. Ist von Recht und Gerechtigkeit die Rede, so muß ihm der Große, Bedeutende ebendas sein, was ihm der Kleine, Unbedeutende ist. Er muß zweitens zu seiner Erhaltung und reinen Verhaltung frei von der Sucht, zu glänzen, der schalen Eitelkeit, der unruhigen Ruhm- und Herrschsucht sein, durch deren rastloses Antreiben die Menschen auf dem Theater der Welt die meisten ihrer Torheiten begehen und diejenigen, auf und durch welche sie wirken wollen, empfindlicher und tiefer beleidigen als durch die kräftigste, reinste, ja die kühnste Tugend selbst. Drittens muß ein Mann von solchem Gefühle nur auf dem Theater der Welt erscheinen, wenn und wo es seine Pflicht erfordert, übrigens als ein Eremit, in seiner Familie, mit wenigen Freunden, unter seinen Büchern, im Reiche der Geister leben. So nur vermeidet er das Zusammenstoßen mit den Menschen über Kleinigkeiten, um die sich das Wesen und Tun derselben im ganzen dreht, und nur so mag er Verzeihung für seine Sonderbarkeit finden, da er wirklich keinen Platz einnimmt, die Gesellschaft durch seinen Wert nicht drückt und nichts von ihr fordert, als nach getaner Pflicht ruhig leben zu dürfen. Reizt er dann den Neid, flößt er dann noch Haß ein, so gründen sich beide auf das, was der Ankläger selbst nicht gern ausspricht, worüber er wenigstens nicht wagt,[427] dem von ihm Angeklagten mit Vorwürfen vor die Stirn zu treten. Die Schwätzer und Verleumder um ihn her arbeiten ohnedem an einem Werke, dessen sie sich nicht bewußt sind, an seiner Apologie, auf deren richtige Deutung er bei den Besserdenkenden rechnen kann. Wer es nun dahin gebracht hat, dem gelingt gar vieles in der Welt, dem gelingt sogar, woran er nicht denkt, was er nicht als Zweck beabsichtigt, das endlich zu erhalten, was die Menschen im groben Sinne Glück nennen. Ich könnte das Kapitel verlängern, aber ich setze nur noch das hinzu: Er muß sich vor allem Reformationsgeist und seinen Zeichen hüten; muß nie mit Leuten, die nur Meinungen haben, über Meinungen streiten; von sich selbst, über sich selbst nur im stillen reden und denken, das heißt: in seinem tiefsten Innern – allein in seinem Kabinett. In der Welt, ja selbst in seinem Hause müssen nun seine Handlungen, sein Betragen von ihm sprechen.

Sind dieses nun Bedingungen, die ein Träumender macht, so können sie doch wenigstens denen zur Antwort dienen, die immer klagen: ein Biedermann komme nicht durch die Welt, mache nie Glück und wie dergleichen Klagen lauten. Wer aber diese Klagen wirklich zu seiner Entschuldigung oder zur Beschuldigung der Welt führt, dem liegt es wenigstens ob, genau zu untersuchen, ob er auch den Biedermann wahrhaft dargestellt und gezeigt habe. Ein Zug, eine Handlung, eine Seite sind dazu noch nicht genug, es muß ein ganzer, gehaltener Charakter sein. Zu einer einzigen auffallenden Tat können Empfindungen die Veranlassung sein, deren sich ein so klagender Biedermann vielleicht selbst nicht bewußt ist oder die er sich selbst nicht eingestehen will.

560


DER rechtschaffene Mann, dem der Haß, der Neid und die Verleumdung wirklich Dornen auf das Lager streuen können, ist noch weit vom Ziele, denn er ist noch in der Menschen Gewalt. Wer nah daran ist, der hört seine Apologie in ihrem Geschrei; wer es erreicht hat, vernimmt es gar nicht mehr.

561
[428]

»DIE Menschen sind böse!« – Und was ist denn die Herde von Millionen, die mit sich machen, aus sich machen läßt, was einem ihresgleichen gelüstet? Ein solcher, der dieses recht versteht, nennt wohl diejenigen, welche ihm nahen, durch welche er wirken läßt, Schelme und Betrüger, weil sie noch mehr an sich selbst als an ihn denken, aber böse nennt er die Menschen wahrlich nicht! Dazu müßt' er sie fürchten oder für etwas achten.

562


WER ohne die äußerste Not, ohne Gefahr für die Tugend selbst, laut von seiner eignen Tugend spricht, hat sie wenigstens noch zum Teil im Kopfe; sie kann wohl gar Politik und Kalkül sein. Der wahrhaft Tugendhafte schweigt und handelt; schweigt schon als junger Mann, weil er fühlt, er habe die Probe noch nicht bestanden, als erfahrner, vollendeter Mann, weil er sie nun bestanden hat. Er kennt den Wert seines schon errungenen Schatzes, weiß, was er ist, was er andern scheinen kann oder ist, wenn er ihn aufdeckt. Tat bereichert den Schatz, während Worte ihn verringern. »Aber die Griechen und Römer rühmten sich laut ihrer Tugenden!« Sie taten es, wie wir in Griechen und Römern lesen, und auch sie hatten eitle Männer, denen die Tugend mehr im Kopfe als im Herzen saß. Tat es der rechte Mann, so hatte er seine Tugend schon durch Taten erwiesen und sprach nur davon, weil er dazu gezwungen oder das Gute selbst in Gefahr war. Und waren die Griechen und Römer nicht zu ihrer blühenden Zeit, durch ihre Regierungsverfassung Völker, die von sich laut reden durften? Gleichwohl fand gewöhnlich bei ihnen die zu laute Tugend ebenden Lohn, welche die heutige findet, wenn sie lärmend wird. Hier steht das Wort Lohn vorsätzlich um derer willen, die sich die Tugend so als Verdienst anrechnen, daß sie kontraktmäßig Lohn dafür erwarten.

563
[429]

WENN rechtschaffene Leute, nicht zufrieden mit der innern, ihnen zugesicherten Achtung des Fürsten, noch verlangen, daß er ihnen ebendiese Achtung immer öffentlich auch jederzeit vor seinem Hofe bezeigen soll, wohl darüber klagen, wenn er an ihnen vorübergeht und sich mit andern, die ihnen nicht gleichen, unterhält, gar murren, wenn er auch etwas für diese tut, das sie nicht zu verdienen scheinen, so möcht' ich ihnen zurufen:


»Ihr vergeßt, daß ihr die kleine Zahl seid, die dem Fürsten zwar durchaus notwendig ist, daß er aber ohne die große Zahl, die euch nicht gleicht, aufhören würde, ein Fürst zu sein, daß ihr euch ebendadurch, weil er es ist, in eurem ganzen Werte zeigen könnt und der großen Zahl, die euch nicht gleicht, dann am meisten nutzt, wenn ihr recht bescheiden seid. Muß er nicht ebendiese Leute, die euch mit Recht mißfallen, bei guter Laune zu erhalten suchen? Würden die Zweideutigen und die entschieden Schlechten nicht euch und dem Ganzen noch gefährlicher werden, wenn er euch vor ihren[234] Augen gar zu sehr erhöbe, ihre verderblichen Leidenschaften durch die Verachtung, die sie verdienen, gar zu offen und schonungslos rügte? Der Rechtschaffenen ist er gewiß; dieser Gedanke muß euch vieles, wenn auch nicht alles wert sein. Und wer ist mehr zu beklagen: Er, der wider sein Gefühl schlechte Menschen politisch schonend behandeln muß, oder der, welcher diesem Spiele zusieht und die Ursache davon weiß? Das Ganze besteht durch das Widersprechendste, vereinigt sich wohl gar dadurch zu diesem Ganzen, das uns die Notwendigkeit so zu bearbeiten zugeworfen hat, so scheußlich dieses auch nach der Reinheit der Moral klingen mag. Ernährt nicht das Brot, und wenn auch der heimliche Verbrecher oder der verstockteste Sünder den Acker gepflügt hat? Steigt nun die Leiter hinauf und herunter!

Und wie, wenn es nun recht nach eurem Wunsche ginge? wenn der Fürst euch immer nur allein auszeichnete? recht laut und auffallend verherrlichte? Würde er nicht durch diese Auszeichnung selbst den andern das Zeichen zu einer verbundenen Jagd auf euch geben? Vergeßt ihr, daß ihr das Wild in der bürgerlichen Gesellschaft seid, in welcher die Jäger nie rasten, in der sie am glücklichsten und sichersten Jagen, weil sie es ohne Hundegebell und ohne Hifthorn tun? Fängt man nicht die gefährlichsten Tiere des Waldes durch Fußangeln, Gruben und Netze, um eigene Gefahr zu vermeiden?«

564
[235]

DIE Verleumdung gehört wohl auch – wie so manche artige, bisweilen wirklich befremdende Neigung – zu der Mitgift oder zu der Aussteuer, die das Menschengeschlecht nach und nach in der politisch-moralisch-bürgerlichen Gesellschaft verarbeiten und gebrauchen sollte oder mußte. Wenigstens ist sie so alt wie die Welt oder gar älter als die Welt. Nachdem Satan die erhabnen Geister des Himmels durch Verleumdung zum Aufruhr gegen den Oberherrn gereizt hatte, so bediente er sich derselben mit gleich glücklichem Erfolg zur Verführung des ersten unschuldigen Menschenpaars. So hat sich die Verleumdung – wie vieles ihr Verwandte – natürlich fortgepflanzt. Freilich ist sie ein gar häßliches Gebrechen; aber um nicht da zu sein, müßte der Mensch entweder so vollkommen, wohlzufrieden und glücklich sein oder sich so denken können, daß er im hohen Gefühl seines eigenen Selbsts es unter seiner Würde fände, sich mit einem andern Wesen um ihn her zu vergleichen; kurz, es müßte ihm von dem nichts abgehen, was seinesgleichen besitzen, wenigstens müßte er dieses glauben und sich nur mit sich selbst vergleichen. Auch hätte die unschuldige Beschränktheit der Auster diesem Übel abhelfen können, die sich wahrscheinlich mit nichts vergleicht und ihre Nachbarin, da sie wohl schwerlich etwas von ihr weiß, ebenso wahrscheinlich nicht verleumdet. Regenten, Staatsund Weltleute, welche dergleichen menschliche Gebrechen anders anzusehen gezwungen sind als die Moralisten, und zwar oft zu unserm und selbst der Moralisten Vorteil, sagen vielleicht:»Laßt sie nur immer verleumden, es ist ein Zeitvertreib mehr für sie. Wenn uns die Menschen um unserer guten und vernünftigen Handlungen, im Genuß der Verleumdung, recht schwarz malen, so nehmen sie um so leichter unsre bösen und törichten als natürlich an, finden dann Trost und Zufriedenheit, daß wir dem Gemälde gleichen, welches sie, zum Vergnügen der Zuhörer und im eitlen Gefühl des Selbstgenusses, von uns entworfen haben.«

565
[26]

DIE Sprüche Salomos sagen sehr viel von dem Lohne des Gerechten, Weisen und Tugendhaften auf dieser Erde. Hat sie nun Salomo wirklich geschrieben oder abgeschrieben, so muß er noch sehr jung gewesen sein, als er es tat. Überhaupt muß er etwas schwärmerisch gedacht und gefühlt haben; denn an dem Hofe seines königlichen Vaters hätte er ganz artige Erfahrungen von dem Gegenteil machen können. Hat er diese Sprüche aber als gekrönter König geschrieben, so tat er es vielleicht, um seine Untertanen zu den von ihm gepriesenen Tugenden zu ermuntern, weil sie auch zuzeiten einem Könige nutzen können, wenn er sie für nötig hält. Und so könnt' es gar ein politisches Stückchen, eine Art von Antimachiavell, sein. Schrieb er sie aber als Greis, welches man nach der darin gezeigten Weltkenntnis glauben sollte, so hat er sich und den Menschen, für einen König seiner Art und seiner Erfahrungen an sich und andern, als Autor zum Zeitvertreib, im obigen Punkte wenigstens, schönlautende Komplimente gemacht.

566
[242]

ERZÄHLT jemand in einer Gesellschaft höhern Tons eine gute, edle Handlung von einem bekannten Manne, so hört man ihn gewöhnlich kalt an, es sei denn, daß einer der Gegenwärtigen, vielleicht um seines eigenen Interesse[s] willen, ein besonderes Interesse an dem Manne hätte, von dem das Schöne erzählt wird. Der Erzähler, wenn er sonst ein gutmütiger Mann ist, mag noch zufrieden sein, wenn man die von ihm erzählte gute, edle Tat nicht ganz bezweifelt, sie nur durch Grundsätze, aus der gewöhnlichen Welterfahrung geschöpft, durch witzige Deutelei ins Lächerliche oder durch Unterschiebung eitler, anmaßender, schwärmerischer, unvernünftiger Bewegungsgründe zu verzerren und so um allen moralischen Wert zu bringen sucht. Die Weisen und Erfahrungsvollen schweigen zu diesen Bemühungen, weil sie das Bekehrungswesen versucht haben; so hört man nun selten einen Widerspruch, es müßten denn feurige junge Leute oder ein Schwärmer in der Gesellschaft sein, denen man es noch zu gut hält, indem man über sie lächelt. Aber tritt einer in ebendiesem Kreise auf, der von einem Manne etwas Boshaftes, Schurkisches, Niedriges, Schlechtes zu erzählen hat, der findet eine so gläubige Versammlung, wie sie nie der beredteste Prediger oder erhabenste Moralist gefunden hat. Hier scheint nun bei jedem solchen Ereignis die Gesellschaft sich und dem Menschengeschlecht ein Urteil zu sprechen, das nur den Neuling empört. Aber beweist dies auch für die überwiegende Bosheit des Menschengeschlechts? Kann man auf diese daraus vorzüglich schließen, weil die Menschen so lau im Glauben an das Gute und so warm, schnell und stark im Glauben an das Böse sind? Wirkt hier inneres Bewußtsein an sich gemachter Erfahrung, daß sie, gleichsam von ihren geheimen Trieben überrascht, ein offenes Bekenntnis ihrer Schlechtigkeit ablegen? So scheint es in der Tat auf den ersten Blick. Einiges ließe sich indessen doch gegen diesen harten Schluß anführen. Das Gute, Schöne, Edle wirkt auf das Herz und setzt zur richtigen Anerkennung einen hellen, aufgeklärten Verstand voraus. Herz und Verstand verbunden bilden das edle Gemüt, das darum seltener ist, weil[27] letzterer dem erstern öfters fehlt. Das Böse wirkt auf die Einbildungskraft, erweckt Furcht, Besorgnis, da es an die unzähligen Fäden des Eigennutzes anschlägt und den innern für sein Interesse immer besorgten Menschen aufregt. Bei dem Edlen fühlen wir stilles Gefallen, und der, welchem der Sinn dafür fehlt, empfindet hier, daß er dem Manne, von dem die Rede ist, nicht gleiche, daß dieser durch seine Tat über ihn hervorrage, und so steht er wider Willen gedemütigt vor dessen Bilde. Aber eine schlechte, niedrige Tat bringt den Mann, von dem die Rede ist, unter ihn, er steigt über ihn hinaus, und mancher glaubt vielleicht wohl noch, durch Übertreibung der schlechten Tat der Gesellschaft seinen Abscheu vor dem Laster recht zu zeigen und ihr eine bessere Meinung von sich beizubringen. Sind dieses Entschuldigungen? Nur Beweise, daß es nicht umsonst, nicht aus bloßem Gefallen an dem Bösen geschieht. Und dann der Genuß der Schwatzhaftigkeit, welcher von der aufgeregten Einbildungskraft mehr befördert wird als von der stillen Bewunderung. Doch weiß ich Fälle, wo sogar solche Menschen, die mehr in der Einbildungskraft und in dem Genuß dieser Schwatzhaftigkeit leben, recht feurige Lobredner guter, edler Taten werden – wenn nämlich diese guten, edler Taten ihnen selbst – und das vorzüglich – nützlich sind. Bezeichnet nun ein solcher Fall eben nichts Außerordentliches, so ist er doch so menschlich als natürlich.

567
[28]

DIE sonderbarste unter den vielen sonderbaren Klagen des Menschengeschlechts wäre die eines Despoten, der sich im orientalisch-tückischen Despotismus gefiele, über die moralische Schlechtigkeit seines Volks, über die Untreue, die Hab- und Raubsucht der Staatsbeamten, seiner Hofleute und Favoriten, über die Bestechlichkeit aller, von dem, der in der Hütte wohnt, bis zu dem, der vertraut mit ihm lebt, und der dann über diese Menschen samt und sonders das Verdammungsurteil ausspräche. So sonderbar nun diese Klage wäre, so wenig wäre sie konsequent. Würde er wohl Despot sein und bleiben können, wenn ebendiese Staatsbeamten und ebendieses Volk die Tugenden besäßen, die er an ihnen vermißt? Ein solcher Despotismus findet eben in der Schlechtigkeit der Beamten, in der Feigheit des Volks, die durch den ungestraften Mißbrauch der Gewalt über diese Schlechten unterhalten wird, seine Stütze und verschwindet, sobald Tugenden durch Zufälle aufgeweckt werden, die weder ein solcher Despot noch solche Diener voraussehen. Das noch Sonderbarere wäre, daß sich diese Despoten und ihre Diener über die Schlechtigkeit der Menschen nur dann beklagten, wenn[225] die Untreue oder der Betrug, welcher Art sie seien, an ihnen selbst begangen würden. Das Allersonderbarste aber würde sich ereignen: wenn ein hochgesinnter, edler Mann den Thron eines solchen Despoten bestiege und den Willen zeigte, durch weise Milderung den Despotismus nach und nach aufzulösen, sein Volk durch eine gesetzmäßigere Verfassung einer höhern Moralität zuzuführen, daß alsdann gewiß ebendiese Staatsbedienten diesem edlen Regenten aus allen Kräften entgegenarbeiteten, sein Streben als politische Ketzerei, die den Staat erschüttern könnte, verschreien würden. Wenn ich »Staat« sage, so läge eben in diesem Worte der Grund ihres Schreckens; denn die Herren müßten dann fühlen, daß, wo so etwas anfinge wirklich zu existieren, ihr eignes Dasein samt ihrem Wirken auch nun anfinge, dem Gesetze unterworfen zu sein. Ein Versuch des Sultans Selim würde dieses alles beweisen.

568
[226]

MAN spricht immer mit Lob, Wärme, auch wohl Enthusiasmus von dem Altertum, um nur die neuere Zeit verachten und herabsetzen zu können. So klagen ohne Unterlaß selbst die besten Köpfe und sogar billige Männer, welches die ersteren nicht immer sind, daß es der neuern Geschichte ganz an dem Reiz fehle, welcher die Geschichte der Römer und Griechen vor allen auszeichnet. Man geht gar so weit, zu behaupten, sie ründe sich durchaus zu keinem Ganzen, leite zu keinem bestimmten Zwecke, habe keinen Charakter, gewähre keinen Genuß, weil sie weder ästhetischen, philosophischen noch wahrhaft politischen Gehalt hätte, kurz, daß es ihr ganz an der moralischen und politischen Tendenz mangle, die sich eigentlich durch ein die Menschheit ehrendes Wirken, in Handlungen und Verhandlungen zeigen müßte. Was nun den bestimmten Zweck, den wahrhaft politischen Gehalt und die berühmte Tendenz betrifft, so gestehe ich, daß man auch bei Lesung der Geschichte der Griechen und Römer den Glauben im recht hohen Sinn dazu mitbringen und sorgfältig unterhalten muß und dies hauptsächlich wegen der moralischen Tendenz, die, wenn ich es recht begreife, die innere steigende Veredlung des Menschengeschlechts bedeuten soll. Der Gedanke ist schön, dem Menschen rühmlich, wie so viele andere schöne Gedanken, die, wenn sie auch nicht immer Großes und Gutes hervorbringen, doch über das diesem Widersprechende trösten und mit Hoffnung stärken. Was würde aus dem armen Menschengeschlecht ohne die Fähigkeit zu diesen schönen Gedanken geworden sein, mit denen das Tun und Wirken in dieser politischen Gesellschaft im einzelnen selbst so selten übereinstimmt? Von dem Ganzen, welches das Geheimnis des[251] unumfaßlichen Weltstaats in sich zu schließen scheint, rede ich nicht, da ich die Geheimnisse und ihre Ursachen in unsern politischen Staaten, die doch nur Punkte in diesem unendlichen sind, noch nicht begreife und wohl nie begreifen werde. Aber die Vorwürfe, die man unsrer neuern Geschichte macht, will ich, wenn ich es vermag, durch einige lebende Beispiele zu schwächen suchen. Nehmt die französische Geschichte von Clodowich, dem ersten Christen, bis auf den heutigen Tag und seht zu, ob sie sich nicht zu einem Ganzen rundet! Den Zweck werdet ihr auch finden, ob die gleich nicht wußten, was sie taten, die seit Jahrhunderten aus allen Kräften auf ihn arbeiteten. An ästhetischem, philosophischem und politischem Genusse wird es ebensowenig fehlen, wenn ihr die Mittel bemerkt, welche Verstorbene und Lebende angewandt haben, um diesen Zweck oder dieses Ziel vorzubereiten und endlich wie ein über Europa hervorragendes Gebirg aufzustellen. Die berühmte Tendenz überlaß ich eurem Glauben. Wer nicht mit diesem Beispiele zufrieden ist, der nehme unsre deutsche vaterländische Reichsgeschichte bis zu dem letzten Reichstage 1802, und er muß von nichts zu überzeugen sein, wenn er hier keinen Zweck oder kein Ziel findet, ob es gleich nur wie ein Maulwurfshaufen auf der flachen Erde aufgescharrt liegt, der sich schwerlich zum Berg aufschwellen wird, wenn ihn nicht sonst ein politisches Erdbeben dazu aufbläht. Wem dieses noch nicht genug ist, der lese die Geschichte Englands von dem Zeitpunkte der ersten Magna Charta bis zu dem jetzigen Handels- und Kreditsystem, dessen Zweck und Ziel über alle Teile der Erde hervorragt, obgleich nur ein Schatten, der an dem dünnsten Faden schwebt, welcher je durch die Finger der Staatsparzen, seitdem diese Dirnen an dem politischen Schicksalsrade unablässig wirrend und spinnend, spinnend und wirrend sitzen, gelaufen ist. Und ihr sollte es an Charakter fehlen? Wahrhaftig, die neuere Geschichte hat aufs originellste entwickelt, was die Geschichte der Erde so klar beweist. Dieses würdet ihr gewiß erkennen, wenn ihr sie nur ohne poetischen, politischidealischen Sinn betrachten wolltet.

569
[252]

NACH der blühenden Jugend, dem kräftigen, männlichen Alter sinken auch wohl sehr gescheite, tiefdenkende Leute, ja gar schöpferische Genies zu wiederholenden, lehrreichen Schwätzern herab. Ihr Geist schafft keine neuen Ideen, um durch sie seine Existenz zu erweitern, der Witz setzt nicht mehr kühn über die unendlichen Räume, die zwischen den Verhältnissen liegen, das Gefühl erwärmt selbst die altaufgefaßten und -verarbeiteten Gedanken und Bilder nicht mehr, und der glückliche Schwätzer wiederkäuet nur mit kindischem Vergnügen die abgestumpften Zeichen der Erinnerung. So läuft er nun ohne Unterlaß von dem über, was in seinem Kopfe schwimmt; denn das Herz, der innere Vesuv, hat ausgebrannt, ist verschüttet, und nichts sinkt mehr in die Tiefe, um lodernd und leuchtend aufzusteigen. Ebenso wird die Dichtkunst nach ihrer Blütenzeit und nach dem kühnen, männlichen Alter beschreibende, lehrreiche, alles malende, verkleinernde und zerlegende Versemacherei, welches uns besonders die didaktischen Poeten der Engländer und die sie darin nachahmenden französischen beweisen. Die deutschen Dichter stehen noch zwischen der Blüte der Jugend oder nahen nur dem männlichen Alter, und es ist auf diesem Felde noch viel von ihnen zu erwarten, wenn ihr hoher Sinn nicht von der mißbrauchten kantischen Philosophie, von der jetzt – nach dieser – aufblühenden Mystik und von der politisch-, statistisch-ökonomischen Rechenkunst in ihrer jetzt lebenden jugendlichen Stärke erwürgt wird.

570
[466]

DERJENIGE Regent, welcher Tacitus' Worte: Postquam divus Nerva res olim insociabiles miscuisset, libertatem et Imperium – also die zwei widersprechendsten, ungeselligsten Dinge: Freiheit und Herrschaft-praktisch kommentiert, und so, daß wir der ersten in aller Ruhe, Freude und Sicherheit genießen und die zweite uns diesen Genuß garantiert, der hat das höchste Werk menschlicher Weisheit, Klugheit und Stärke vollführt. Er hat zugleich das schönste und schwerste Problem aufgelöst, das einem Geschöpfe von Geist, Verstand, Sinnlichkeit und Leidenschaften aufgegeben werden konnte, das um so schwerer ist, weil es durch Geschöpfe von Geist, Verstand, Sinnlichkeit und Leidenschaften ausgeführt und von ebensolchen Geschöpfen erkannt und geachtet werden muß oder soll. Indessen ist dieses so einfache Ding ebender Grundstein, auf dem die Gesellschaft ruhen sollte, den das Menschengeschlecht von seiner Entstehung an bis auf den heutigen Tag ahndete, eifrig suchte, für den es mordete und gemordet ward. Auch wäre es wohl endlich Zeit, daß es ihn fände und die Regenten sich darauf setzten. Eines festen, sichern Sitzes können sie dann gewiß sein.

571
[140]

WENN man einem Manne von Charakter, kräftigem Willen und Geist, starker Einbildungskraft und gleich starkem Verstande den Vorschlag täte, Minister in einem monarchischen Staate oder leitendes, regierendes Haupt einer Partei in einer Republik zu sein, welches von beiden sollte er wählen? Man kann auch die Frage so setzen: In welcher der gegebnen Lagen wird es ihm leichter sein, ein nützlicher, gerechter, berühmter und großer Mann zu werden? Im ersten Fall, so scheint es mir wenigstens, hat er nicht allein Gelegenheit, seinen Charakter[235] frei, nach seinen Einsichten, seiner Kraft zu entwickeln; er findet auch ein weiteres, unbeschränkteres Feld zur Ausübung seiner Tätigkeit vor sich. Er kann seinen Handlungen seinen eigenen Charakter ohne Mischung mitteilen, gut, gerecht, groß – und sogar in der vollen Bedeutung des Worts – menschlich sein und, wenn er aus festgehaltnen Grundsätzen handelt, auch auf die allgemeine Dankbarkeit und Anerkennung seines Werts rechnen; denn der Dankbarkeit ist schon der gewiß, der das gewöhnliche Böse unterläßt. Das leitende Haupt einer Partei in einer Republik – zu einer Partei muß ein solcher Mann gehören wie jeder Staatsdiener in der Republik, der etwas sein oder bedeuten will – muß seine Hauptkräfte in dem Kampfe mit der Gegenpartei gebrauchen, sich mit dieser selbst für das beste, nützlichste Unternehmen erst herumschlagen, und beim Gelingen, bei der glücklichsten Ausführung vermehrt sich nicht selten die Gefahr für ihn, da alles, was er tut und wirkt, durch den Geist der Eifersucht und der Furcht vor seiner errungenen Größe nicht moralisch, sondern bloß politisch betrachtet wird. Diese politische Deutung läuft durch die ganze Geschichte der alten und wahrhaften Republiken. Menschlich zu sein, im hohen Sinn des Worts, ist hier vor allem das Schwerste, da der Parteigeist dieses ausschließt; denn die Partei, welche von Menschlichkeit spricht oder darauf dringt, hat ihre eigne Schwäche schon anerkannt. Auf allgemeinen Dank hat ein solcher Mann am wenigsten zu rechnen; was ihm seine Partei gibt, nimmt ihm die entgegengesetzte. Groß erlaubt man ihm nur zu Zeiten der allgemeinen Gefahr zu sein und zu scheinen, weil dann der Parteigeist um der Erhaltung des Ganzen willen schweigen muß. Nach überstandener Gefahr ist er immer noch glücklich genug, wenn man ihm verzeiht, das Vaterland gerettet zu haben. Wer darum glaubt, daß ich der Monarchie vor der Republik ganz unbedingt das Wort rede, dem habe ich nichts zu sagen. Man wird leichter unter denjenigen zum Wohltäter, die am wenigsten dauerndes Wohlsein zu erwarten haben, da es immer von einem einzigen abhängt und auf den Weisen, Starken auch kein Weiser, kein[236] Starker folgen kann. Hier wird die klug berechnete Gerechtigkeit selbst zur Wohltat und Billigkeit, menschliche Sorge für andere oft ein unerwartetes Geschenk. In Republiken glaubt und fühlt man sich zum Höchsten berechtigt – und nun befriedige man diejenigen, die mit einem solchen Rechte, mit solchen Ansprüchen geboren zu sein glauben. Was gehört nun nicht dazu, unter solchen Geistern ein großer Mann zu werden? Will er es ganz in dem Sinn des ersten werden, so muß er vorerst die Parteien lähmen oder verschlingen, und wie steht es dann mit der Republik? Die Belege dazu findet wohl ein jeder in der Geschichte.

572


WENN auch die Bedürfnisse der Phantasie den Despotismus nicht geschaffen haben, so unterhalten, ernähren und verstärken sie ihn doch. Auf die natürlichen Bedürfnisse allein gebaut, wäre er von dem Augenblick an zusammengestürzt, da die Menschen erkannt hätten, wie wenig dazu gehöre, zu leben und frei zu sein. Man kann also immer sagen, die sich bildende Gesellschaft arbeitete durch jede neue Erkünstelung und Vernünftlung an der Vollendung des Ungeheuers, über das sich die darin Lebenden beklagen. Der zu gekünstelte Geist, der verfeinerte Verstand, die immer rege Einbildungskraft mit allem, was Schönes und Artiges aus ihnen entspringen, sind die Schöpfer aller Abhängigkeit und nicht die Bedürfnisse des Leibes. Diese Wahrheit ist gemein, aber um so nötiger zu wiederholen, da die Klagenden immer in der Ferne suchen, was ihnen doch so nahe liegt, was sie selbst erzeugen.

573
[237]

DER gutmütige Glaube an die steigende Vervollkommnung oder Veredlung des Menschengeschlechts kommt mir, sobald ich ebendieses Menschengeschlecht sich vor den Reichen und Mächtigen beugen, kriechen und zittern sehe, gar zu albern, abgeschmackt,[116] ja zuzeiten ekelhaft vor. Diese tiefe Achtung, Verehrung und Furcht ist dem Menschen so gewiß angeboren wie das Verlangen nach den Dingen, aus welchem sie entspringen; der Kluge, Starke und Kühne selbst, wenn er auch alle Vorurteile besiegt hat, überwindet dieses am schwersten, wenigstens zuletzt und dann nur oft zu spät für seine moralische Vollendung. Empörend ist es gleichwohl für den Mann von Gefühl und Verstand, wenn er die allgemeine, gewaltige Wirkung der Macht und des Reichtums, dieser zwei die moralische und politische Welt beherrschenden Gottheiten, auf ihre Gläubigen wahrnimmt, sobald einer ihrer bedeutenden Priester unter die Menge tritt. Sie neigt sich vor ihnen, fährt zusammen, nimmt eine untertänige Stellung an, wünscht, beneidet, hofft; und selbst der Mann von Geist und höherm Sinn vergißt wohl vor ihnen seinen eignen Wert, auf den er sonst so stolz ist, oder ergrimmt wenigstens doch zuzeiten, daß er in Gegenwart dieser Götzen vor den Augen der bewundernden Menge ganz verschwindet. Die untern Klassen verehren und beten so treuherzig und instinktmäßig an, als walte außer diesem allesvermögenden kein anderes Wesen über ihnen. So war es immer, sollte wohl so sein, um eine so geordnete, moralisch-politische, solche Früchte tragende Gesellschaft hervorzubringen, an deren Anschauen wir uns ergötzen können, wie es uns gefällt – ein Genuß, der uns sogar umsonst verstattet wird, wenn wir klug genug sind, im stillen zu genießen! In Ordnung wird sie gewiß dadurch gehalten; und vielleicht herrscht ebendarum in Deutschland die meiste bürgerliche Ordnung, weil da diese Gottheiten immer die treuherzigsten, ehrlichsten und gläubigsten Verehrer gefunden haben. Da es nun wahrscheinlich mehr oder weniger auf dem ganzen Erdenrund so fortgehen wird und die Armen, Schwachen, Unaufgeklärten, ja selbst die Klügsten und Gescheitesten (sie wissen warum) diese Gottheiten immer verehren und anbeten werden, so sehe ich wenigstens nicht ein, wie das Menschengeschlecht auf diesem breiten Wege zu jener moralischen Veredlung gelangen möge. Die beschwerlichen Nebenwege dahin kenne ich wohl; aber das[117] Menschengeschlecht läuft auf der Landstraße, weil diese gerade zu einem Ziel führt, das jeder kennt und das auch dem Entferntesten in die Augen fällt.

574


MAN trifft an Höfen, in der Welt, unter Geschäftsleuten Männer an, die von Haus aus weder Geist noch Verstand mitbrachten, die aber durch Erfahrung und Interesse so aufgeklärt worden sind, daß sie in diesen beiden Lehrmeister fanden, die ihnen das von Haus aus Versagte so reichlich ersetzten, daß sie die in diesen Punkten reichlich Versehenen überfliegen und sogar überlisten. Spricht man mit einem solchen Mann über Hof, Welt und Geschichte, so erstaunt man über seinen scharfen Blick, sein richtiges Urteil, seine Welt- und Menschenkenntnis; aber man erstaunt noch mehr, wenn er aus seiner Sphäre heraustritt und über Gegenstände spricht, worüber ihn seine Lehrmeister im natürlichen Zustande gelassen haben, wohl lassen mußten, damit der Lehrmeister recht eifrig nur auf ein Wild jage. So kann also in demselben Kopfe Licht und Finsternis herrschen, und die Verbindung in der künstlichen Gesellschaft rächt sich an der Natur dadurch, daß sie ihr es nicht gelingen ließ, ihn ganz zum Dummkopf auszuprägen. Soll der Natur dieses gelingen, so muß sie den Menschen zum Idioten machen; nur bei diesem vermögen jene Lehrmeister nichts. Die andern füttern ihn dann aus Mitleiden, weil Idioten die einzigen sind, die nicht gefürchtet und beneidet werden.

575


OB es gleich der Dinge sehr viele gibt, die den Stolz des Menschen demütigen könnten, so will ich doch jetzt aus Höflichkeit nur eins anführen, das diesen sonder- und wunderbaren Sohn des Himmels und der Erde zu einiger Selbstkenntnis vermögen könnte. Wie kommt es, daß ein einziger dieses Geschlechts auf Jahre lang über Glück und Unglück vieler Millionen entscheiden kann? Daß die Geschichte den letzten Fall hundertmal[118] erzählt, bevor sie den ersten nur einmal in seiner ganzen Wahrheit aufstellt? Um dieses recht fassen zu können, muß man hierin das Vortrefflichste und Schlimmste selbst erfahren und seine Wirkung gesehen und empfunden haben. Aber welch ein Stoff zum düstern Nachsinnen über das Menschengeschlecht und das ihm aufgetragne Schattenspiel für den denkenden und fühlenden Mann ist das letzte? Sagt' ich Schattenspiel? – Ja, wär' es das! Aber es sind Schatten, die einen Leib haben, den man an jedem Punkt verwunden und töten kann, die einen Geist haben, der das Leiden der Gegenwart, der Zukunft, des Nahen und Entfernten durch alle Verhältnisse und Folgen faßt und dessen Denken und Nachsinnen man zu Dolchen machen kann, deren Ziel das Herz, die Quelle des Lebens, ist und vor deren unzähligen Stichen das Grab allein rettet. Was ihn erwartet, wenn er sich in jenem Leben als von einem seinesgleichen gezwungner langsamer Mörder des Gewandes darstellt, das ihm auf der Erde angebildet ward? Wen er anklagt wegen der Qualen, die er gelitten, wegen der durch die schreckliche auf Erden gemachte Erfahrung verfinsterten Gestalt, in der er nun erscheint? Und wie Geister vortreten und erscheinen können, welche Furcht, Sinnlichkeit und augenblickliche Vorteile so tief erniedrigt und verunreinigt haben, daß man nicht begreift, wie ihr Schöpfer sein Werk noch in ihnen erkennen mag? Und endlich: Wie die Gewaltigen selbst, welche die Stärkern und Edlern so abgejagt, die Schwachen so mit Füßen getreten haben, daß in diesen wenigstens das Gepräg' ihres Ursprungs, woran sie doch der Meister wiedererkennen soll, ganz verlosch?

576
[119]

WITZ entspringt aus dem Geiste, dem Kopfe; er ist nur dann recht stechend und allzeit fertig, wenn er in der moralischen Gleichgültigkeit gegen das Lächerliche und Schlechte so weit gekommen ist, daß er es nur als Gegenstand des Spotts, als glückliche Veranlassung zu glänzenden Einfällen betrachtet. Der Sarkasm[us] entspringt aus dem Herzen, das starke Gefühl desselben entzündet den Geist, seine Blitze fahren durch die düstern Wolken, die der Unwille, die Verachtung über und gegen das Schlechte, Niederträchtige zusammengetrieben haben. So trifft der Sarkasm[us] des empörten, edlen, geistreichen Mannes den Schuldigen durch Geist und Fleisch; den Einfall des bloß Witzigen schreibt dieser der Bosheit oder dem Kitzel zu und geht ungetroffen vorüber.

577
[325]

WER in einer großen volkreichen Stadt und Residenz lebt, sollte sich, wenn ihn Sprüche trösten können, jeden Morgen folgenden aus Cowper vorsagen:


God made the country, and man made the town.

Gott machte das Land, der Mensch die Stadt.

578
[337]

ES gibt Dichter, bei denen die Vorstellung von der Kraft der Konzeption ihrer Schöpfungen mehr erfreut als der Genuß des[466] von ihnen nun wirklich Dargestellten. Man kann wohl in seinem Geiste den Schwung der Höhe ihrer Phantasie begreifen und mit ihnen erreichen; sobald man aber das Geschaffene in Vergleichung mit dem Wirklichen betrachtet, dessen man sich nicht ganz erwehren kann (bei gigantisch-moralischen Wesen am wenigsten), so tritt nun die kalte Bewunderung der Kraftäußerung ein, und die wirkt, endlich so viel, weil sie dem Verstande zu freies Spiel läßt, daß man nicht einmal den Wunsch nach der bewunderten Wirklichkeit der dargestellten Ideale fühlt; wenigstens begreift man gar nicht, was man mit solchen Wesen anfangen, wie man mit ihnen leben, wo man sie auf dieser Erde hinstellen soll.

579
[467]

BEI der Eudämonie und allen mit ihr verwandten Moralsystemen ist die Frage ganz überflüssig, ob die Tugend gelehrt werden könne; sie entspringt hier von selbst aus der Natur, freilich nicht aus reinen Quellen. Aber nach Kants und der hohen Philosophen System muß die Tugend gelehrt werden, denn nach ihnen ist sie gewiß die schwerste aller Künste und Wissenschaften, auf die der natürliche Sinn allein und von sich selbst nicht stoßen konnte. Dieses erhabene Kunstwerk konnte nur in einer hochkultivierten und moralisch verderbten Gesellschaft erdacht werden, weil ihr[28] ein solches Prinzipium oder glänzendes Merkzeichen wenigstens zur Selbstkenntnis und Richtschnur nötig ist. Der Kontrast springt auch um so besser heraus; und wie es damit im Praktischen gemeint sei, hat Kant selbst in seiner »Anthropologie« gezeigt. Von Nutzen ist dieses erhabene Merkzeichen, nach dem wir unsern Wert messen sollen, gewiß; und so wie sich die politische Gesellschaft an den Begriff, das Abstraktum: Staat anschließt und darauf in Sicherheit ruht, obgleich es die Mitglieder derselben ohne Aufhören beleidigen und verletzen, ebenso ruht die moralische Gesellschaft auf diesem erhabenen Begriffe der Tugend, mit dem man nicht besser und schonender umgeht. Der Staat selbst gibt vor, sich auf ihn zu lehnen. – Aber wenn etwas den Menschen als ein wunderbares Geschöpf bezeichnet, so ist es ebendiese anerkannte Theorie bei einer solchen Praxis;und hier spricht sich der Kläger selbst das Urteil.

580
[29]

DIE Erziehung, der Unterricht der Jugend von der Dorfschule bis zur Universität, der Sinn und Geist, worin man diese Jugend die Wissenschaften und ihren praktischen Gebrauch lehrt, richten sich ganz nach der politischen Lage, in welcher sich Eltern und Lehrer befinden, worein sie von der Regierung gedrängt und in der sie von ihr gehalten werden. Man vergleiche nur die Erziehung und den Unterricht der jetzigen Zeit mit der Erziehung und dem Unterrichte der vergangnen Jahrhunderte. Sagt man, dieses sei eine Folge der Kultur, so antworte ich: Die Kultur selbst ist eine Frucht freierer, furchtloserer Gefühle. Klagt man in einem Staate über schlechte Erziehung und zweckwidrigen Unterricht, so ist das ein Beweis, daß sich die Menschenkräfte auf einen höhern Punkt richten, als die Regierung ihnen vorgezeichnet hat; und dann ist es auch hohe Zeit, daß die Regierung ihr System mustere, ehe es von Unberufenen gemustert[342] werde. So kann man also sagen, das Volk erzieht und bildet seine Regierung, welcher Fall gewiß weniger selten als der ihm entgegengesetzte ist. Da nun in keinem Lande auf Erden mehr über Erziehung geschrieben wird als in Deutschland, so möcht' ich wissen, ob dieses auch im Vaterlande der Fall von seiten des Volks, der Lehrer, Schriftsteller und der Regierung sei.

581
[343]

EINIGE kurze Regeln in Fragen zur Selbstkenntnis:

Welchen Gebrauch habe ich von meinen physischen Kräften gemacht?

Wie habe ich meine moralischen Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte entwickelt und angewandt?

Was hab' ich aus mir gemacht?

Was hätt' ich aus mir machen können?

Was kann ich noch aus mir machen?

Was gehört dazu, daß der Mensch etwas aus sich mache und durch den ihm verliehenen Stoff, mit Geist, Mut und Aufrichtigkeit besorgt und verarbeitet, zum Schöpfer an sich selbst werde?

582
[294]

WARUM gelingen selbst verständigen, denkenden Leuten so viele mögliche Dinge im tätigen Geschäftsleben und besonders in Geschäften, die das Beste des Staats betreffen, nicht? Weil die Leute, die es unternehmen, sie durchzusetzen, gewöhnlich ihr Ich vorausschieben, das Geschäft persönlich machen, folglich die Persönlichkeit derer, mit denen und durch welche sie ihr Werk durchsetzen wollen, mit ins Spiel bringen und zum Mißfallen oder Gegenkampf reizen. Wer demnach auf dem Welt- und Staatstheater eine gute, nützliche, vorzügliche, eine edle und glänzende Tat durchsetzen will, muß – bevor er noch die Mittel dazu überlegt – vor allem sein eignes Ich, seinen Vorteil, seine Eitelkeit, seine Ruhmbegierde zum Schweigen bringen, kurz: er muß nur das Geschäft allein denken. Dadurch gewinnt er nicht allein, daß er die Sache rein sieht, sondern daß er sie auch andern rein darstellen und sie bloß auf das vorhabende Geschäft hinleiten kann. Übrigens versteht sich von selbst, daß er vor Staats- und Weltleuten, mit welchen man solche Geschäfte betreibt, so wenig als möglich oder vielmehr gar keinen Enthusiasmus zeigen darf – die Worte »Patriotismus«, »Staatsbürgerschaft« und dergleichen töten gewöhnlich das Werk im ersten Augenblick, weil die, vor denen man sie ausspricht, solche Ausdrücke entweder für nichtsbedeutende Phrasen oder für blendendes[337] Gaukelspiel halten, worunter der warme Redner seinen geheimen, lieben Freund verbergen will. Ist es einem rechtschaffenen Manne auf obengesagte Art gelungen, so rate ich ihm, auch dann nicht viel – und am wenigsten in solchen Ausdrücken – davon zu reden; und das darum, damit es ihm auch zum zweiten- und drittenmal gelinge oder ihm wenigstens bei Höhern nicht schade.

583
[338]

EIN Feldherr, der da wünscht, daß alle seine Streiter durchaus tapfer, kühn und verwegen sein sollen, kommt mir vor wie ein Regent, der im Ernste wünscht, alle seine Untertanen möchten kluge, verständige, weise Leute sein. – Wenn die Streiter gleich nach der Schlacht wieder von der nötigen Furcht und Feigheit beschlichen würden und die Untertanen in gewissen unentbehrlivhen[119] Fällen ihre Weisheit und Klugheit vergessen wollten und könnten, so wären beide Wünsche aller Ehren wert. Da aber ebendas Gemische der entgegengesetztesten, der widersprechendsten Eigenschaften und Fähigkeiten das Heer wie den Staat zusammenhalten, so würde wahrscheinlich die Erhörung obiger Wünsche beide Oberhäupter sonderbaren Ereignissen aussetzen.

584
[120]

DIE Schmeichelei ist nicht allein das gefährlichste Gift, sondern auch das allerverblendendste gegen eignen Vorteil. Man vergebe mir den allzu gemeinen Spruch. Aber würde sonst ein Regent, den man so oft durch dieselbe um seine besten Eigenschaften bringt, nicht endlich einsehen, daß er sie mit dem besten Erfolg gegen seine Schmeichler selbst und noch mehr gegen seine Untertanen mit vielem Glück gebrauchen könnte? Würde er den letztern, wenn er ihnen mehr abnehmen will, als sie in der Tat leisten können, nicht lieber dieses süße Gift eingeben, als ihnen ein schweres, neues Opfer sultanisch-gebieterisch anbefehlen? Sie könnte so ein Kabinettsgeheimnis werden, das, von klugen Köpfen recht still bearbeitet, von großem Erfolg sein müßte; doch dafür schützt die Untertanen der Herrscher Stolz. Man unterwirft sich wohl den Gewaltigen durch Schmeichelei, aber er läßt sich nie dazu herab, und tut er es gegen einen, der sei auf seiner Hut, wenn er ein rechtschaffener Mann ist; denn was der Gewaltige so zu erzielen sucht, liegt entweder seitwärts der Pflicht oder geht über dieselbige hinaus. Und wenn der, dem er schmeichelt, kein rechtschaffener Mann ist? So droht ihm wenigstens – vergißt auch der Gewaltige, daß er sich so weit herabgelassen hat – der Ausgang.

585
[199]

ES gibt weltkluge Leute, auch mißtrauische Regenten, die nach unangenehmen Erfahrungen recht sicher zu gehen glauben, wenn sie verständigen, klugen und erfahrnen Männern, die ihnen am Ende zu listig und zu gefährlich vorkommen, bei Geschäften, wobei es vorzüglich auf Treue ankommt, Männer zur Ausführung vorziehen, die an Geist, Sinn und Mut beschränkt sind. Sie vergessen so, daß ebendiese das rechte Spiel der erfahrnen, klugen Männer sind und daß, wenn einmal das Interesse oder die Neigung zum Schlechten in einem solchen beschränkten Kopfe und von dem Verstande nicht geleiteten Herzen erwacht, er gewöhnlich mit einem rechten Hauptstreich endigt. Was hierin durch Einfalt mißlungen ist oder was er besser hätte machen können, bring' ich nicht in Anschlag. Der verständige Mann berechnet doch, und dieses Berechnen der Gegenwart mit der Zukunft gewährt in den verwickelten Welthändeln durch die Erfahrung eine Art von Sicherheit, auf die man leider gezwungen ist, mehr zu zählen als auf die Tugend selbst – weil diese das seltne und jene das gewöhnliche Unterpfand ist, das sich die Menschen, ohne sichtbares Zeichen dafür, in Geschäften wechselseitig[193] überreichen, wenn von Sicherheit für geliehene Kapitale nicht die Rede ist.

586


MAN hört zuzeiten Welt-, Hof- oder Geschäftsleute sagen: »Der Mann ist mir zu gescheit!«, das heißt: »Er ist kein Werkzeug!«

587
[194]

WIE der nur wahrhaft den Wert der Ruhe fühlt, welcher sein Tagwerk im Schweiß seines Angesichts oder in Anstrengung des Geists vollbracht hat, so fühlt auch nur der am Abend seines Lebens die hohe Glückseligkeit, welche die Tugend gewährt, der für sie gestritten und gekämpft hat.

588
[338]

ICH habe – wer sein Ich nicht zu übertünchen sucht, darf von sich in der ersten Person reden –, ich habe alles, was Griechen, Römer, Italiener, Engländer, Franzosen und Deutsche Gutes, Wahres, Schönes, Kühnes, Sonderbares, Schwärmerisches und[7] Erhabenes gedacht, gefaselt und gedichtet haben, gelesen, habe wohl mehr dabei getan. Ich habe alle große[n] und kleine[n], törichte[n] und vernünftige[n] Weltbegebenheiten bemerkt, die Menschheit und ihren Geist durch seine Höhe und Tiefe, soweit ich vermochte, soweit mein Blick reichen konnte und mich Lage und Zufall begünstigten, beobachtet und verfolgt. Ich habe, was und wie ich bin, aus mir selbst gemacht, meinen Charakter und mein Inneres nach Kräften und Anlagen entwickelt; und da ich dieses so ernstlich als ehrlich tat, so kam das, was man Glück und Aufkommen in der Welt nennt, von selbst. Mich selbst hab' ich schärfer und schonungsloser beobachtet und behandelt als andre. Durch Geburt und Erziehung lernte ich die niedern und mittlern Stände, ihre Not, ihre Verhältnisse, ihr Glück – durch meine Lage die höhern und die höchsten Stände, ihre Täuschungen, ihre Schuld und ihre Unschuld kennen. Ich habe nie eine Rolle gespielt, nie die Neigung dazu in mir empfunden und immer den erworbenen und festgehaltenen Charakter ohne Furcht dargestellt und so, daß ich die Möglichkeit gar nicht mehr fürchte, anders sein oder handeln zu können. Vor der Versuchung anderer ist man dann nur ganz sicher, wenn man sich selbst zu versuchen nicht mehr wagen darf. Ich habe in einem sehr großen Reiche von der Zeit an gelebt, da ich dem männlichen Alter entgegentrat; viele Geschäfte sind mir aufgetragen worden, die mich mit allen Ständen in Verkehr setzten; aber nach ihrer täglichen Beendigung verbrachte ich die mir gewonnene Zeit in der tiefsten Einsamkeit, der möglichsten Beschränktheit. Ich war Zeitgenosse Friedrichs des Zweiten; die Französische Revolution ist vor meinem Geist vorübergegangen (wäre sie nur an dem Geist allein vorübergegangen!); ich lebe unter Alexander dem Ersten, dem Edelsten der Menschen (Höheres weiß ich nichts zu sagen) – und das zu der Zeit, da meine Tage sich gegen den Abend des Lebens neigen; und diesem, dem glücklichsten Zeitpunkt meines Lebens im moralischen Sinn, verdanke ich den mildern Anstrich, der das düstere Gemälde voriger Erfahrung an der Welt und ihren Bewohnern aufheitert.[8]

Wer es nun der Mühe wert hält, das eben Gesagte und das ich nur aus diesem Grunde sage, mit dieser Schrift und meinen übrigen Schriften zu vergleichen, der wird hierin den Schlüssel zu vielem oder allem finden, es betrübe oder erfreue ihn. Ein Schriftsteller, der sich selber malt, ist eine solche Mitteilung dem Leser schuldig.

589
[9]

DIE Zukunft bringt den Kultivierten um den vollen Genuß der Gegenwart – dieses ist eine so alte als gegründete Klage; aber ohne den Blick auf sie hätten sich unsre besten, nützlichsten Kräfte, unsre schönsten, erhabensten Empfindungen gar nicht entwickelt. Die aufrechte Stellung, die Sprache, die zur Kunst geschickten Hände, unser Verstand, ja die Begierden und Leidenschaften insgesamt hätten vielleicht alles aus uns gemacht, nur[104] diesen interessanten, oft so edlen, erhabnen Toren nicht, der um des Nachruhms willen – dessen Schall er nicht hört, dessen Schatten er nicht sieht, den ihm vielleicht Neid, Mißkenntnis und Undank nicht gewähren oder den gänzliches Vergessen durch Zeitumstände verschlingt – alle Genüsse und Glückseligkeit der Gegenwart der Zukunft aufopfert, sich gar durch Aufopferung um alle Vorteile des sogenannten Glücks bringt oder sich durch Anstrengung vor der Zeit in das allgemein gefürchtete und verhaßte Grab stürzt. Ihr werdet vielleicht sagen: »Er genießt mehr als jeder bloß sinnliche Sterbliche in der Gegenwart!« Daß er dieses glaubt und daß ihr dieses glaubt, darin liegt eben der wunderbare Zauber. Freilich wären ohne diesen gewaltigen Sporn auch der Torheiten, der Verrücktheiten, der Schwärmereien, der Laster und Gebrechen weniger; aber woher sollten die hohen und die tätigen Tugenden überhaupt kommen? Des Menschen Stellung ist aufrecht, damit seine Augen in das Leere blicken und sein Geist da etwas für sich hindenke, wo vielleicht gar nichts für ihn ist und sein wird.

Die Gegenwart umfaßt uns mit schweren sinnlichen Armen; wir liegen ermattet nach jedem tierischen Genuß an ihrem einschläfernden Busen, und selbst das Genossene ekelt uns in der Vorstellung solange an, bis ein neuer Trieb erwacht. Mit leichten Schwingen trägt uns die Zukunft im Geist empor; sie weht uns aus unfaßlichen, namenlosen Gegenden – aus der Zeit an, die noch nicht ist, vielleicht nie sein wird. Der träge Sohn der Erde schwingt sich auf, ermüdet nicht und wird zum Göttersohn oder dünkt sich, es zu sein. Dächten wir die Zukunft nicht, so lebten wir nur den Augenblick, den wir wirklich leben, so erobern wir die kommende Zeit, die Ewigkeit selbst und genießen der grenzenlosen Eroberung als unsers Eigentums. Und ist alles dieses Täuschung, so laßt uns dem Oberherrn der Geister dafür danken; nur so konnten wir die grobe, drückende Wirklichkeit im Zustande höherer Kultur besiegen. Deutet Täuschung nicht auf die höhere Verwandtschaft so gebieterisch hin, daß sogar der Zweifler selbst im Augenblick edlen Wirkens von ihr träumt?

590
[105]

BUCHSTABENMENSCHEN nennt man die Gelehrten und Schriftsteller; sie betiteln sich wohl auch selbst so, wie unter andern Moses Mendelssohn, der es in seinem »Jerusalem« (obgleich dreifacher Buchstabenmann als Wolffischer Metaphysiker, Buchhalter[439] und Schriftsteller) recht klagend und beredt tat. Man glaubt wahrscheinlich damit viel gesagt, ihnen ihre Unbedeutsamkeit, Unwirksamkeit, Untätigkeit recht auffallend gezeigt zu haben. Aber sind denn diese sogenannten Buchstabenmenschen wirklich so unbedeutend, unwirksam und untätig in der Gesellschaft? Es gibt Männer im Staate, die dieses sehnlich wünschen, aber ihr Benehmen beweist, wie wenig sie daran glauben. Bürgerlich – als Stand, nach Vorteil, Gewinn und Ansehn betrachtet – mögen sie es in der Tat sein, und man sieht hier nur die gewöhnliche Dankbarkeit der Menschen, wie für alles, dessen Vorteil und Nutzen nicht mit Händen zu greifen ist. Und vergißt nicht jeder gern, daß er Schüler gewesen ist, daß er es noch ist? Wer aber ihre Wirksamkeit bezweifelt, der muß nicht denken, nicht gedacht, nicht beobachtet haben. Sie ist so rastlos als durchgreifend; und überall, wo Menschen wirklich regiert werden, erkennt man den Einfluß ihrer Herrschaft. Wem verdankt der Staatsmann, der Feldherr – beide mit ihrem ganzen Gefolge – und der Regent selbst, wenn er sich zum Lernen herabläßt, das, was sie alle praktisch anzuwenden suchen – die Ausbildung ihres Geistes, die ihrem Stande nötigen Kenntnisse –, als ebendiesen Buchstabenmännern, deren Geist durch den toten Buchstaben zu ihnen lebendig übergeht? Ihr Einfluß ist durch alle hohe[n] und niedere[n] Stände sicht- und fühlbar; und der Kleinste, der Ärmste teilt ihn mit dem Größten, dem Mächtigsten. Sind der Prediger, der den geplagten Bauer zur Geduld vermahnt, der Poet, welcher die Kirchenlieder für ihn reimte, woran sich die gute Einfalt erquickt (in denen sie ihren Trost findet und so die meistens unverschuldeten Leiden wenigstens auf Augenblicke vergißt und nun, mit neuer Hoffnung gestärkt, das harte Joch sanfter umwunden fühlt), nicht Buchstabenmänner? Und besteht die Schar der Dichter, die selbst die Aufgeklärtesten der drückenden Wirklichkeit, der eisernen Notwendigkeit durch den Zauber der Täuschung entführen, solange sie auf ihren Gesang horchen, nicht auch aus Buchstabenmännern? Und doch ist ihre Wirkung so mächtig, so bedeutend, daß sie der Staat zu gewissen Zeiten[440] erkaufen sollte, um die empörten, gedrückten Geister zu beruhigen, wenn Begeisterung sich erkaufen und politisch modeln ließe. Soll ich von den ernsten Wissenschaften im Ernste reden, von deren Einwirken alles abhängt, alles geleitet wird, was die Räder des Staats in zweckmäßige Bewegung setzt? Leset die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen! Denkt nach, was die Gesellschaft und der auf sie gebaute Staat war, als Unwissenheit herrschte! Und sind die Staatsleute nicht selbst Buchstabenmänner, von Buchstabenmännern gebildet? Wie oft möchte man ihnen wünschen, daß sie die Lehren ihrer Meister besser befolgten! Die Manuskripte dieser Herren, von dem Fürsten unterzeichnet, dem sie die Unterschrift so oft durch Täuschung ablocken, sind freilich von ganz anderer Wirkung, werfen ein ganz andres Honorarium ab; auch seufzt das Volk nur über diese Schreiberei. Und wer hört noch bei unsrer politischen Verfassung auf die Klagen des Volks über Gewalt und Unterdrückung, wer macht sie durch das Land erschallen als ebendiese Buchstabenmänner? Wer ahndet die Verletzung der Gerechtigkeit, der Menschheit? Wer sagt heutzutage den Fürsten und ihren weit gefährlichern Dienern die Wahrheit als sie? Wer sagt sie euch allen? Selbst der spekulative Philosoph, den ihr verlacht, den ihr für ganz unnütz haltet, zeigt euch wenigstens die Grenze eures Geistes und deutet auf den Punkt hin, über den ihr – zu eurer Ruhe – nicht schreiten sollt. Aber die schalen Köpfe, die Unberufenen, denen die Natur alles versagt hat und die uns unterrichten, unterhalten wollen? Zählt die Gescheiten unter euch und denkt, daß alles, was da schreibt, von dem Gewinn und Vorteil nichts fordert, nach denen ihr strebt. Und die Gefahr, womit kühne, vermessene Geister die gute alte Ordnung bedrohen? Das ist klar, und ich verstehe es. Freilich, wo Geister leben und tätig sind, da bedarf es des Geistes, sie zu leiten. Setze man indessen den Fall, daß alle diese Buchstabenmenschen auf einmal verstummten, alles unterginge, was sie je geschrieben haben. Es gibt Regenten oder Diener derselben, die gern einen Zaubrer zu diesem Endzweck dängen![441]

Verachtet und hasset immer diese Buchstabenmenschen! Sie sind doch die Propheten des Volks, deren Ruf, deren Weissagung die Großen allein noch fürchten und achten und es dann am stärksten beweisen, wenn sie mit Haß und Verachtung von ihnen sprechen. Nur sie sind die Wächter der bedrohten Menschheit. Wer daran zweifelt, der schlage die Geschichte auf; er wird sehen und entdecken, was ohne diese Männer, ohne diese kühnen Waghälse, ja selbst ohne die Schwärmer und Toren unter ihnen aus der Welt geworden wäre, wie viele derselben Glück und Leben für die Menschheit aufgeopfert haben. Toren waren sie, das ist gewiß; aber dann nur, wenn sie auf den Dank derer rechneten, für die sie sich in Begeisterung aufopferten; und wahrscheinlich gehören auch einige Grane von Torheit dazu, um so etwas zu unternehmen. Denn ich vermute beinahe, die so gar klugen Männer würden Christus selbst nicht viel feiner betitelt haben, wenn sie ihn an das Kreuz hätten schlagen sehen. Wahrscheinlich würden sie bedauernd ausgerufen haben: »Was haben ihm nun seine Predigten, sein Vermahnen und Reden genutzt? Geht nicht sein ganzes vermeintes Wirken mit seinem schmählichen Tode zu Ende?« Die armen Schüler des für seine Lehren sich Opfernden, die sich in diesem Augenblick verbargen, hätten sie schwerlich ihrer Aufmerksamkeit wert gehalten. War etwa Christus in ihrem Sinn nicht ein Buchstabenmann? Zeigte er seine Tätigkeit anders als durch den Geist und die Worte des Geistes? Wenigstens ist in seiner Geschichte weder von Handarbeit noch sonstigem Geschäfte, wobei man gewinnt, die Rede. Und auch sein Geist lebt in einem Buche.

591
[442]

WER es noch nicht so weit gebracht hat, in seinem Innersten überzeugt zu sein, daß er in jeder Lage des Lebens – es drücke ihn das Unglück oder es locke ihn das Glück mit verführerischer Stimme – nichts Schlechtes, Niedriges begehen werde (es sei das erste zu vermeiden oder das zweite ohne allen Anschein von Gefahr zu erreichen und festzuhalten), der kann noch nicht von sich sagen, daß er auf seinem Charakter ruhe. Der Mann, der dieses von sich zu denken wagt, muß seinen Willen so fest an die moralische Notwendigkeit geknüpft fühlen, daß er den Einspruch und Aufruhr der besiegten Sklaven der Sinnlichkeit in seinem Innern nicht mehr für möglich hält. Die Welt selbst erträgt einen solchen Mann, wenn sie ihn auch nicht für das erkennt, was er aus sich geschaffen hat, vorausgesetzt, er sei weise genug, an andere nicht die selbe Forderung zu machen oder gegen sie die Macht ausüben zu wollen, die er über sich selbst ausübt.

592
[29]

WER von einem Manne auf einem bedeutenden, glänzenden, ehrenvollen Posten Würde oder überhaupt das fordert und erwartet, was dazu gehört, der erkundige sich vorher, durch welche Mittel, auf welchem Wege, in welcher Stellung der Mann dazu gekommen ist. Vermutet er etwa, daß sich die Seele des Mannes, der durch Staub, Kot und Pfützen zu dem Ziel gekrochen ist, nun an dem Ziel wiederum aufrichte oder sich rein und neu erschaffe? Wer bei bedeutenden Leuten was zu suchen hat, dem ist diese Vorkenntnis zu empfehlen.

593


ES gibt Fälle und Lagen, worin der Feigste kühn, keck und tapfer ist: Wenn er nämlich auf einem bedeutenden Platze steht und ein bescheidener, furchtsamer, von ihm ganz abhängiger Mann vor ihn tritt, dem er über etwas – mit Grund oder Ungrund – einen Vorwurf zu machen hat. Der erste Blick auf den Vortretenden ist entscheidend. Je länger und stärker jener den Schall seiner eigenen Stimme hört, je tapferer wird er. Er fängt[226] mit bitterm Vorwurf an und endigt mit Schimpfen; und so glaubt er seinen Mut gezeigt zu haben.

594


DA Regenten, Staatsleute und alle Personen überhaupt, die merklichen Einfluß auf den Gang der Welt haben, durch alle mögliche Bande der Seele und des Leibes gefesselt sind, ihre Freiheit ganz für den Rang und Posten, den sie behaupten oder dem sie vorstehen, hingeben müssen und nur noch durch die Meinung, die man von ihnen hat, glücklich sein können, so sollte das Volk so gescheit und politisch sein, sie, wenn sie nur erträglich gut sind, mit dieser Belohnung recht reichlich und aufrichtig zu befriedigen. Es kann sogar für das Volk von Nutzen sein, wenn es hierin etwas mehr tut, als ihm die Herren zuzeiten zu verdienen scheinen. Vielleicht wird einer oder der andere dadurch bewogen, sich freier, mit weniger Furcht und Rücksicht in seinen Fesseln zu bewegen.

595
[227]

OBGLEICH das Gefühl der Reue eines der vermischtesten ist, so ist es doch eins der nützlichsten in der moralischen Welt; es würde sogar ein sehr edles sein, wenn es nicht allzusehr aus geschehener Verletzung unsers gegenwärtigen oder zukünftigen Interesse[s], bis über diese Welt hinüber, entspränge; aber auch nur darum konnte es der moralischen Welt so nützlich und heilsam werden. Die Menschen finden nur in den Bekenntnissen und Klagen der Reuigen eine Rechtfertigung ihres moralischen und religiösen Glaubens; denn sähen sie hier allzu klar, fühlten sie zu deutlich, daß die meisten von dem Gewissen Geschreckten und Geplagten jetzt so egoistisch und leidenschaftlich ihre Taten bereuen, als sie dieselben einst vollzogen, so würde die Reue ohne alle moralische Wirkung auf sie sein. Der Priester zieht einen dunkeln Schleier davor; soll ihn der Menschenkenner[41] zerreißen? Laßt uns dem Oberherrn der Geister für die Stimme danken, die aus der fernen stillen Welt, als Warnung zu den Lebenden, aus den Geplagten zu rufen scheint. Hat er sie nicht durch das Gefühl ihres Selbsts und aus Liebe für dieses Selbst an ein dunkles Interesse geknüpft, welches spät oder früh alle andern Gefühle verfinstert, überlebt und dann am kräftigsten wirkt, wenn sie die Nichtigkeit alles Faßlichen empfinden? Der Zweifler wird sagen: Es ist das Werk der Erziehung und der Furcht. Aber warum mußte der Mensch so erzogen werden? Wer trieb ihn dazu an, sich so zu erziehen? Warum ruft eine Stimme dem Kühnsten aus seinem Innern zu, die er wider seinen Willen hört und hören muß, wenn auch alles um ihn her schweigt? Die Politik, die alle Empfindungen des Menschen benutzt hat, benutzte auch diese. Aber hätte die Politik eine Empfindung im Menschen erschaffen können, die nicht in ihm lag? Mißbrauchen kann sie jeder Mächtige; aber ebendiejenigen, die sie aus Politik mißbrauchen, handeln nur aus Empfindungen, die sie in ihrem eigenen Busen fühlen, deren Wirkung sie nun aus ebendem Grunde auf das Allgemeine, die Menge, berechnen, weil sie dieselbe in sich finden. O der Ohnmacht, die etwas anders aus dem Menschen zu machen glaubt, als er wirklich ist und sein sollte! Der so fest, so wunderbar dunkel bezeichnet auf die Erde geworfen ward, daß an ihm nichts deutlich ist als die Notwendigkeit alles dessen, was er ist!

596
[42]

MAN findet tausend Gelehrte oder kenntnisreiche Leute, bis man auf einen weisen Mann stößt. Nichts ist natürlicher: das erste kann man durch Lehrer, durch Bücher werden; aber die Weisheit muß man selbst aus eigner Kraft, durch wirkenden, zeugenden, nicht durch bloß empfangenden Geist erwerben. Darum wird auch nur sie unser wahrhaft rein erworbenes Eigentum, das keiner mit uns teilen kann, auf das wir gleichwohl nicht stolz sein dürfen, weil wir sonst noch nicht weise wären.

597
[400]

NACHDEM der Mensch einmal die erhabne Idee eines guten, allesregierenden und -erhaltenden Wesens gedacht hatte, so war in dem Augenblicke, da er mit dieser Idee seine physischen Qualen und moralischen Schwächen verglich, die Erfindung eines bösen Wesens, das in das Machwerk des guten pfuschte, das Natürlichste, Konsequenteste und Zweckmäßigste, worauf er fallen konnte. Sie half vollkommen aus, und der natürliche Sinn hat einen Knoten zerhauen, an dem die tief- und scharfdenkendsten Philosophen wohl ewig vergebens zerren und nagen werden. Ich glaube aber darum nicht, daß dieser natürliche Sinn aus Liebe und Verehrung zu dem Guten und für das gute Wesen auf diese Erfindung gefallen ist; ich denke vielmehr: Da er einmal seine physischen und moralischen Plagen diesem guten Wesen nicht zuschreiben wollte, so mochte er ebensowenig den Vorwurf der Schuld auf sich selber sitzen lassen. Auf diese Art war doch für alles gesorgt, und der Mensch bewies auch hier, daß er nicht umsonst Verstand hat. Nur das schärfere, ernstere Nachdenken über das, was aus dieser so natürlichen Erfindung fließen muß, führt auf sonderbare Schlüsse.

598
[380]

NUR Verlangen und Streben regt unsre Kräfte auf, macht uns im Gefühl derselben glücklich, schützt uns vor der Leerheit des Herzens und Geistes und bewahrt uns vor dem moralischen Tode, dem Schrecklichsten, was einem Wesen widerfahren kann, das sich einmal durch den Geist wahrhaft gedacht und empfunden hat. Darum sind die meisten Fürsten, für die alles da ist oder da zu sein scheint, die unglücklichsten Wesen, wenn sie sich nicht durch das wichtige, ihnen aufgetragne Amt und die Erfüllung der daraus fließenden Pflichten vor dieser erstarrenden Leerheit und dem daraus entstehenden moralischen Tode schützen. So leben sie nicht nur, sie fühlen auch das Leben, erwerben sich sogar, was das schwerste für sie zu erwerben und zu erhalten ist: die Freiheit, deren so wenige Herrscher genießen, ob sie sie gleich alle in der Einbildung zu genießen glauben, weil die sie Umgebenden sie mächtige, allesvermögende Herren nennen.

599
[131]

AUF die Furcht vor dem Tode ist das Leben gegründet. Wie würde es sonst der Mensch in der bürgerlichen, politischen Welt, auch in der schlimmsten Lage, sogar unter der scheußlichsten Tyrannei ertragen? Aber was für eine hinaufgeschraubte Erkünstelung gehörte auch dazu, um den Stolz, die Eitelkeit, die Ruhmbegierde, das Interesse so zu entwickeln und aufzublasen,[52] daß der Mensch ebendieses Leben zu Markte trägt oder es sich langsam abmartern läßt? Und was für eine hohe Ausbildung des Geistes gehörte wieder dazu, daß der Mensch ebendieses Leben – aus Edelmut für seinesgleichen oder um der Tugend willen – aufopfert und so des stärksten, gewaltigsten Gesetzes der Natur nicht achtet?

600
[53]

ICH werde mit den Philosophen von Rousseaus Geistesart alle moralischen Übel und alle Laster, womit sich die Menschen besudeln, der Gesellschaft allein zuschreiben, wenn ich keine Tugend oder den Schein davon nicht mehr sehen werde. Hat sie diese Laster und Erbärmlichkeiten hervorgebracht, worüber die Edeln sich beklagen, so hat sie auch die Tugenden entwickelt, und selbst diese Edeln verdanken ihr die ihrigen, nebst dem Bewußtsein und dem Wert derselben.

601


WENN nach Hobbes das Grundgesetz des Naturrechts offner Krieg gegen alle ist, so ist der heimliche, listige Krieg es nicht weniger in der ausgebildeten bürgerlichen Gesellschaft. Vermutlich macht ebendieser Krieg und die Beute, die man durch ihn macht oder doch zu machen hofft, den Menschen recht fähig und geschickt zu dieser Gesellschaft, und hier ist wenigstens kein ewiger Friede zu erwarten.

602
[30]

DER Heuchler freut sich nur der Augen als eines vortrefflichen Geschenks der Natur, wenn er vor einem von ihm Betrogenen und zu seinen Absichten Gewonnenen steht. Sobald er aber vor einen Mann tritt, der klar sieht und ihn durchdringt, fühlt er, daß sie das Lästigste sind, was ihm die Natur gegeben hat. So beweist er nun wider seinen Willen, daß etwas in dem Menschen sitzt, das außer seiner Gewalt, das stärker als er selbst, ja stärker als die Heuchelei ist, das er zwar verfinstern, unterdrücken, aber nicht ermorden kann, das, wenn er auch glaubt, es vertilgt zu[42] haben, aus jeder schlechten Tat lebendig wieder aufersteht. Es ist darum wohl möglich, daß ein rechtschaffener Mann an dem Dasein seiner Seele zweifeln kann, weil sie ihn nicht erschüttert und quält; wie es aber ein Schurke, ein Bösewicht vermag, der sie so gewaltsam zwingt, ihn an ihr Dasein peinlich zu erinnern, das begreife ich nicht.

603


DIE reine Rechtschaffenheit bei einem welterfahrnen Manne (eine seltene Zusammenkunft!) ist eine so starke Waffe gegen List und Betrug, daß ich beinahe sagen möchte: Sie ist noch nicht ganz rein, wenn sie überlistet, betrogen und durch Vorspiegelungen zu zweideutigen Dingen gelockt werden kann. Ich denke, sie stellt einen so hellen Spiegel in unserm Innern auf, daß der rein Rechtschaffene den giftigen Hauch des listigen Verführers auf der Fläche dieses Spiegels in dem Augenblick fühlt, als ihn dieser anatmet, das heißt: seinen Antrag mit Kunst zu seinem tief versteckten Zwecke darlegt.

604
[43]

NICHTS ist mir begreiflicher, als daß junge Leute, Schwärmer, Enthusiasten, Neuerer, Welt- und Menschenverbesserer dem welterfahrnen Manne und Menschenkenner lästig sind, daß sie ihm sogar in ihrem Eifer widrig und ekelhaft werden. Sie beleidigen seinen hellen Verstand nicht allein, sie verwunden auch sein Herz, weil sie ihm durch ihre Blüte, ihre Hoffnung, ihren[308] Glauben und ihren Mut zu lebendig und kräftig zeigen, auf wessen Kosten er so kenntnisreich geworden ist. Wenn aber ein Mann dieser Art solche Leute zum Gegenstand seines Zeitvertreibs, Hohns und Spottes macht, so kann man von ihm sagen: Der Menschenkenner und welterfahrne Mann wußte und weiß, zu welchem Zweck er die kostbaren Auslagen gemacht hat, macht und machen wollte.

605


IN der Art, wie man zu Welterfahrung und Menschenkenntnis gekommen ist, liegt ein Unterschied von wichtigem, moralischem Belang. Es gibt Leute, die sich dieses ganz bestimmt zum Hauptstudium machen, alle Gelegenheiten dazu aufsuchen und sich zur Bereicherung ihrer Kenntnisse zweckmäßig auf das Ausspähen legen. Andern wird Welterfahrung und Menschenkenntnis durch Lage und Umstände aufgedrungen, und sie nehmen sie auf als Mittel, das geschickt zu bewirken, was ihnen als Pflicht aufgetragen ist und was sie als Pflicht erkennen. So entstehen die Klugen und die Weisen; zur Bezeichnung der letztern ist nichts hinzuzusetzen, weil der Begriff nichts Zweideutiges mit sich führt.

606
[309]

WENN wir auch durch die uns aufgelegte Notwendigkeit zu einem uns nicht ganz klaren Zweck Sklaven des Oberherrn der Geister sind, so hat er doch die Ketten sanft umwunden und sie so hoch befestigt, daß unser Auge sie nicht erreicht. Warum folgen gewisse Männer, welche sich seine von ihm über uns eingesetzte Stellvertreter auf Erden nennen, nicht diesem Beispiel? Nicht zufrieden, ihren Untertanen das schwere Joch unumwunden auf den Nacken zu legen, malen sie es noch dazu den darunter Keuchenden vor die Augen.

607
[131]

ES gibt doch einen Fall, wo selbst der weitgetriebenste, der abgezogenste, der sich von allem trennende Egoismus löblich und rühmlich sein kann: wenn nämlich ein Regent oder Minister das Abstraktum Staat so zum Mittelpunkt seines Daseins macht, daß sich all sein Wirken, Denken, Tun und Fühlen ohne alle ändern Rücksichten, ohne Vorliebe nur auf den Staat bezieht und einschränkt. So verschlingt ein edler Egoismus den gemeinen, persönlichen; und selbst dieser fährt gut dabei, da er das Höchste erreicht, was der Mensch erlangen kann. Mag er sich dann mit dem ersten verschmelzen, die Ausbeute wird immer herrlich sein. Aber welch' ein Mann gehört dazu! Und wenn der seltne Mann aufträte, wie würde er beurteilt! Auf Beifall oder eine Lobschrift wenigstens muß ein solcher Mann nicht rechnen. Vermutlich hat uns auch darum die Geschichte nur Versuche dieser Art aufzuweisen.

608
[141]

UM den moralischen Wert und Gehalt eines Mannes auf einem bedeutenden Posten oder eines Hofmanns, den der Fürst vorzüglich begünstiget, zu prüfen und ihm zugleich das Horoskop zu stellen, trage man ihm nur, in dem Augenblick, wo er schon fest zu stehen glaubt, die Intrigen, Kabalen zu, die gegen ihn im Werke sind. Man vergesse aber nicht, die Hoffnungen, die Mutmaßungen und Meinungen hinzuzufügen, worauf sich diese Intrigen und Kabalen gründen. Da sie aus dem Glauben fließen, den man von seinem Charakter, seinem Mute, seiner Schwäche, seinem moralischen Werte überhaupt hat, so hält man ihm plötzlich einen Spiegel vor, in den er nun überrascht auch wider Willen blicken muß. Mienen, Gebärden, Entschuldigen, Klagen, Beteuern, Erröten, Erbleichen, Verstummen werden dem Beobachter nicht allein zeigen, wie wahr oder falsch die Mutmaßungen und die Meinungen über den Mann sind; er wird auch seine geheimste Schwäche, das Maß seines Muts ausfinden,[227] noch mehr: Er wird durch die Mittel, womit er seine Feinde zu bekämpfen denkt (von ihm laut angegeben oder ihm abgelauscht), entdecken, wie und ob er sich erhalten wird – kurz: was er moralisch und politisch wert ist. Ich spreche hier nur von den zweideutigen Männern dieser Art – der rechte Mann fällt so schwer in die Waagschale des ihn so Prüfenden, daß das Gewicht diesen niederdrückt, wenn er mit bösen Absichten vor ihn tritt.

609


EIN Menschenkenner und Welterfahrner, der auf einem wichtigen Posten steht, sollte, wenn er auch so unglücklich wäre, nicht an die Tugend der Menschen zu glauben, doch immer so reden und handeln, als glaube er an sie. So wird es ihm sogar gelingen, in ändern Tugenden zu erwecken, die ihm und dem Staate nützlich sind, vielleicht gar den in seinem Herzen erstorbenen Glauben an die Möglichkeit der Tugend wieder zu beleben.

610


WIE viele Staatsleute sind herzlich froh und fühlen sich von einer großen Bürde erleichtert, wenn sie durch Beispiele zeigen können oder von andern, klugen, erfahrnen Leuten laut hören: die Menschen seien, klein und groß, ein niedriges Gesindel, das nur aus Interesse und Egoismus handle, die Tugend selbst sei nur Gleisnerei oder Auszeichnung aus Stolz und besonderem Ehrgeiz usw. Diese Maximen hört man nirgends mehr als in Gesellschaft solcher Herren; und am Hofe ist es jedem bekannt, warum sie dieselben so gern predigen. Man weiß ja, was ein solcher Glaube auf die Fürsten wirkt und was die Lehrer darauf bauen.

611
[228]

ALS ich das erstemal einen Luftschiffer sich erheben, dann in den hohen leeren Lüften schweben sah und ihm nun im Geiste nachfolgte, dachte ich plötzlich an die tiefe Stille, die den unruhigen, lärmenden, nun von der Erde getrennten und in diesem ungeheuern, leerscheinenden Luftmeer allein und verloren schwimmenden Erdensohn empfängt. Dieses Schweigen muß so schaudernd, ängstlich und dann freudig erhaben sein, daß ein solcher Mann, wenn er anders gewisser Empfindungen fähig wäre, wirklich das Vorgefühl der Trennung vom Leibe in all der Erhabenheit empfinden muß, die wir in der glücklichsten Begeisterung künftiger Hoffnung träumend ahnden.

612


»GROSSE Stadt – Große Einsamkeit!« – ein Spruch, von dessen Wahrheit jeder Welt- und Menschenkenner am Ende überzeugt wird. Die Erfahrungen an Welt und Menschen lösen nach[30] und nach alle Verbindungen, die das Herz zur Zeit der noch blühenden Hoffnung und des seligen Glaubens gemacht hat, so auf, daß mancher nur noch durch das Band der Pflichten in der allgemeinen Verkettung gehalten wird. Löst er nun auch diese, so kann er sich immer schon im Grabe ansehen, wenn er weiter nichts in die Einsamkeit gebracht hat als diese Welterfahrung, diese Menschenkenntnis. Der Edle und Weise lebt dann in der Rückerinnerung seiner Taten und in dem grenzenlosen, unzerstörbaren, immer blühenden Reiche der Geister. Er tritt nur aus dem düstern, wilden Gewühl des Lebens in die stillen, sanft erleuchteten Gärten der Hesperiden. Laß nun folgen, was da will, das Fortdauern nach diesem Leben hat er schon erobert und genossen.

613
[31]

VON dem Wert der Dichtkunst im edlen Sinn weiß ich jetzt nichts Höheres zu sagen, als daß ein Dichter dieses Sinns nie altert, daß seines Lebens Blüte nie verwelkt; ja selbst der welterfahrne Mann verjüngt sich durch sie wieder bei dem Zurückzuge von dem geräuschvollen Schauplatz und findet in ihrem Kreise den verlornen Faden des Lebens wieder, an dem er es betrat, vorausgesetzt, daß er etwas von dem gerettet hat, was uns beim Eintritt in das Leben leitet. Auch kann der Dichter[206] nur dieses Wunder wirken, weil die Gefährten, auf die ich hier deute, ihn allein nie verlassen haben. So starb der edle Klopstock im Alter des Greises als Jüngling. Eine Freundin, Rußlands Alexander waren seine letzten Gedanken. Mir reifen diese Blüten, die er im Geiste sah, zur Frucht; und so sei einst mein letztes Wort und meine Grabschrift: »Ich habe zu Alexanders Zeit gelebt!«

614
[207]

WENN dem Listigen, Ränkevollen, dem Intriganten ein rechter politischer Streich gelingt, so setzt er sich im stillen hin und sagt sich und seinem Verstande so viele Schmeicheleien vor, bis der flatternde Schimmer der Eitelkeit seine Augen so verblendet, daß selbst die Schlechtigkeit und Feigheit seines Herzens, aus denen diese Streiche entspringen, davon übertüncht werden. Ganz in sich selbst zurückgezogen, feiert er in Selbstzufriedenheit über seine Klugheit den gelungenen Sieg und ermuntert sich zu neuen. Der Mann, der durch Mut und Wahrheit einen Sieg erfochten, wandelt rasch und ernst von dem Schauplatze weg; sein Herz ist ausgedehnt, vor seinem Geiste schweben erhabne Bilder, mit einem einzigen seelenvollen Blick sendet er der dämmernden Ferne die Tat zu und steht noch fester auf dem Schwerpunkte, den er in seinem tiefen Innern gefunden hat.

615
[194]

DER Priester verlangt, man soll den Kultus Religion nennen; der Staatsmann gewisser Art fordert, man soll seine politischen Streiche und Kniffe Regierungskunst betiteln; beiden ist es gelungen. Ihre einzige Klage ist nur: daß es noch Ketzer gibt! Ohne dieses würden sie uns auf das klarste beweisen, daß die geträumte goldne Zeit keine Fabel ist.

616
[391]

DIE Philosophen, welche die Religion auf die Vernunft gründen wollen, vergessen nur den kleinen Umstand: daß sie das dann[380] zerstören würden oder müßten, woraus jene eigentlich entspringt: die Einbildungskraft. Vielleicht vergessen sie auch dabei, daß der Mensch sich nur durch den religiösen Sinn von allen geschaffenen Wesen unterscheidet, daß er durch diesen Sinn nur das aus sich entwickeln konnte, was er aus sich entwickelt hat; sie vergessen vielleicht sogar, daß ohne diesen Sinn von der Philosophie selbst nie die Rede unter Menschen gewesen wäre.

617
[381]

EINIGE unsrer jetzt lebenden ersten Dichter sind so erhaben groß, daß sie gar keinen Sinn mehr für das Wirkliche und für das wahrhaft Große im Menschen zu haben scheinen. Durch ihre schwülstig-sophistischen Theorien, in welchen sie uns nun schon ihre bloß aus dem Reiche der Phantasie zusammengesetzten Darstellungen als die einzigen wahrhaft dichterischen aufstellen, beweisen sie uns sogar logisch, daß sie gar keine Achtung mehr für die wirklich politische Größe des Menschen haben. Diese Theorien scheinen, wie die Werke dieser Dichter, den Genuß, das Heil und Glück, die einzige Möglichkeit, recht zu existieren, allein in ein mystisches, phantastisches, geheimnisvolles, dunkles Gefühl zu setzen, vor dem der Verstand zum Narren oder Sklaven werden oder doch wenigstens anerkennen soll, er sei das Lästigste und Plagendste, was dem Menschen gegeben worden. Man möchte sagen, diese Dichter strebten vorsätzlich darnach, dem Menschen die wahre Ansicht der Dinge und des Lebens recht zum Ekel zu machen, für immer die Kraft in ihm zu ersticken, womit er seinen politischen Zustand erkennen, veredeln und das diesem Widerstrebende bekämpfen kann. Der Geist Jakob Böhm[e]s und die Geister der Verfasser der Legenden ragen aus den düstern Darstellungen einiger dieser großen Dichter so hervor, daß man gezwungen ist, zu denken, sie hielten die Verfinsterung des Verstandes und den ihr verbrüderten Despotismus für die moralische Seligkeit des Menschen und die wahren Quellen der dichterischen Begeisterung. So möchte dann wohl ein gewisser paradoxer Kopf recht haben, wenn er sagt, der Despotismus, die Unterwerfung unter dunkle, alle Geisteskraft zermalmende Gewalten, die nur der Einbildungskraft Tätigkeit verstatten und nur den Genuß erträumter Größe erlauben, seien die wahren Schöpfer der Dichtkunst. Aber sind wir Deutschen in dieser Lage? Und sind wir es gar nicht wert, daß man auf unsre moralische Kraft, auf unsern politischen Charakter bestimmt hinarbeite? Ist gar keine Hoffnung da, daß dieser sich[484] auch jetzt auf unserm Boden kräftiger entwickle, da er doch auf ebendiesem Boden in dem rohen Zustande unsrer Vorfahren da war? Und sind Gespenster von Schicksal, Zufall, Mystizismus, Aberglauben und Orakel nebst allen den scheußlichen Schrecklarven, durch die man jetzt das Erhabne und Rührende hervorzuzaubern sucht, der Zeit gemäß, in der wir leben? Sind sie wirklich der einzige Stoff der Dichtkunst? Oder ist das Menschenwesen überhaupt einer Art von Auflösung nah, daß unsre Dichter wie finstre Wahrsager unser Elend im voraus beheulen und uns auf das nahe gewaltige Zermalmen des Schicksals vorbereiten? Der Fragen ließen sich noch viele machen; aber entweder sind unsre Dichter des Publikums nicht wert, oder das Publikum ist ihrer nicht wert. Wie es sei, ich bin überzeugt, daß, wenn Sophokles heute erschiene, er würde in dem Geist und Wesen der Menschen dichten, die jetzo leben; denn so erhaben auch seine Dichtungen sind, so fest und kräftig sind sie auch auf den Geist und das Wesen der Menschen seiner Zeit gegründet. Sollte hier, bei einer feurigen Einbildungskraft, nicht Nervenschwäche zum Grunde liegen? Wer für das wirkliche Leben keine Kraft fühlt oder davor erschrickt, der träumt sich zum Helden in dem Lande der Phantasie, um doch auch eine Rolle, und zwar ohne Gefahr, zu spielen. Und damit auch wir ihn für einen Helden halten mögen, sucht er uns die Wirklichkeit erbärmlich zu machen. Haben die uns unbekannten Dichter zu Platos Zeiten so gedichtet, so finde ich wahrlich die Verbannung derselben aus seiner Republik so weise als dem gemeinen Wesen nützlich.

618
[485]

WAHRHAFTE Tugend, auf die der Besitzer und andre zählen können, bildet sich allein in dem Herzen und Verstande des Mannes zu einem klaren Ganzen aus, dessen Geist feste, selbstgedachte und selbsterworbene Ideen über Welt, Regierung, Menschenwesen überhaupt hervorgebracht und sich dieselben zur Richtschnur seines Denkens und Lebens gemacht hat. Die Herzen der andern fühlen nur Temperamentstugenden, die sich nur dann zeigen, wenn sie von außen her berührt oder erschüttert werden: Da sie also bloß der Zufall hervorbringt, so haben sie auch den Wert desselben.

619


AUCH im bürgerlichen, politischen, moralischen Leben gibt es Mönche; ich meine diejenigen, welche wegen der Unbequemlichkeiten, Prüfungen und Gefahren, die die Tätigkeit veranlaßt, das tun, was die Mönche aus Furcht vor den Versuchungen des Teufels tun: fliehen. Wenn diese den Leib durch Kasteiungen zu schwächen suchen, so schläfern jene wirklich durch das Opium der Klugheit die tätige Kraft des Geistes ein und glauben ihrem moralischen Beruf genuggetan zu haben. Diese Leute dürfen[31] nun zwar von ihren guten, stillen Eigenschaften reden, von ihrer Bescheidenheit, ihrer Entsagung, Enthaltsamkeit, ihrem Gefallen an der Beschränktheit, ihrer Uneigennützigkeit, Gutmütigkeit, ihrer Verachtung der Herrschsucht und des Ehrgeizes, ja sogar von ihrer Ruhe und dem daraus entspringenden Glück; aber nur nicht von der Tugend – und das ebensowenig als der Soldat, der seine Feigheit damit entschuldigen wollte, daß er gar keine Ruhmbegierde fühlt.

620
[32]

AUCH ich habe den Seneca gelesen! Wenn ich aber sagte, zu welcher Zeit, unter welchen Umständen, so würde ich auch[429] gesagt haben, wozu Seneca und seine Philosophie oder die allgesamte stoische Philosophie, der moralische Aszetismus überhaupt, nebst dem mit ihm verwandten religiösen Aszetismus zu gebrauchen sei; ich würde sagen: uns nützt; aber Nützen ist nicht das Wort – eine solche Philosophie und ein solcher Aszetismus rüsten uns ja nur zur Benutzung für andre aus.

621
[430]

NUR der Schwache, Feige, der Nichtdenker und der Charakterlose können sich mit den Wörtern Schicksal, Zufall trösten und über die blinde Wirkung dieser unsichtbaren Gespenster seufzen. Der Mann von Kraft, Charakter, der aus selbstgeschaffenen Grundsätzen handelt, verstattet keinem Luftbilde, keiner Macht außer ihm Gewalt über sich. Er handelt aus sich selbst; er weiß,[485] daß er das Schicksal in sich beherrscht, weil er den Keim zu allem, was ihm widerfahren mag, in sich selbst gelegt, entwickelt und durch Tat zum Aufschießen getrieben hat. So sieht er sich als Schöpfer der Ereignisse an, die ihm von andern zugespielt werden, und führt folglich ein jedes gerade auf den wahren Grund zurück, aus dem er selbst vermöge seines Charakters und seiner Kraft handelte und handeln mußte. Was er nun so übersieht, dessen Herr und Meister wird er auch in seinem Innern. Wer sich also im bürgerlichen Leben so zeigt und es kennt, weiß voraus, was ihn erwartet. Braucht's da des Zufalls und des Schicksals, wo Menschen so handgreiflich menschlich handeln? Hier waltet eine Notwendigkeit durch die Bildung des menschlichen Herzens, die Stimmung, Verstimmung und Verkünstlung des menschlichen Geistes, die ebenso gewaltig und unüberwindlich ist als die, welche wir die physische nennen, um sie von der moralisch genannten zu unterscheiden, da wir sie doch einmal – so vermischt sie auch durcheinanderlaufen – voneinander trennen müssen, wenn wir unsern Wert gegen den Wert anderer abwägen wollen.

Der Mann nun von Charakter, welcher nach Pflichten handelt, nur die ernste, strenge Gerechtigkeit als seine einzige Wegweiserin erkennt, beweist wenigstens, wenn er sich noch über das Schicksal beklagt, daß er nicht so konsequent denkt, als er handelt. Dieses ist der Hauptgrund, warum mir die jetzt so dichterisch ausgeschmückten Phantome mißfallen, unter welchem Namen sie uns auch, um Resignation zu befördern und die Leser und Zuhörer zu zerknirschen, vorgeführt werden mögen. Kraft und Tätigkeit erwecken, den Sinn aufhellen, um das Notwendige, was aus der Natur des Menschen entspringt, recht zu erkennen, mutig zu ertragen und, soviel es uns verstattet wird, zum Zweckmäßigen zu leiten, das nur nenn' ich als Mann für Menschen arbeiten.

622
[486]

DAS Glück scheint in der Welt nur seine recht getreuen Anhänger zu begünstigen; ich meine hiermit diejenigen, die es als ihre einzige Gottheit aufstellen und verehren, ihm im Diensteifer alles das aufopfern, was andre und höhere Gottheiten von ihnen fordern, die folglich nur in Rücksicht auf seine Gunst nach außen wirken. Männer, die höhere Gottheiten anerkennen, die um edlerer Zwecke willen nach außen wirken, will es nur auf die Probe setzen oder ihre Feinde zu feuriger Jagd gegen sie reizen, wenn es ihnen etwas von seinen trugvollen Gaben zuwirft. Wer von dieser Art nun in dieser Lage die Tücke des Glücks als Anerkennung und Belohnung seines Werts annimmt und ihm traut, den werden die aufgeregten Jäger bald aus seinem Traume aufwecken.

623
[338]

WENN die neue Philosophie der Franzosen, wie man ihr nachsagt, das Herz verdarb, so trocknet es die neueste der Deutschen ganz auf. Die Philosophen der Franzosen las die ganze gebildete Welt: was uns Deutsche aber über die Folgen der neuesten Philosophie des Vaterlandes trösten kann, ist, daß sie nur Werk der Schule ist und bleiben wird.

624
[442]

EREIGNET sich eine Weltbegebenheit, die gefährlich aussieht, aus welcher bedeutende Folgen für Menschen, Regierungen und besondere Stände entspringen können oder die überhaupt die Ruhe und gegenwärtige Lage bedroht, so kann man, ist in Gesellschaft davon die Rede, ohne viele Anstrengung eine ziemlich sichere Charakteristik oder einen Tarif des Muts und des moralisch-politischen Werts der Anwesenden in seinem Geist entwerfen. Alle, die am Menschenwesen nur in Beziehung auf sich selbst Anteil nehmen, alle, die sich im Stande der Ruhe mit ihrem Selbst und den Geschäften für dasselbe so wohl befinden und diese Geschäfte alsdann am besten treiben, wenn die andern in Ruhe sind oder sich darin glauben, sprechen dann so klug, weise, bedauernd und menschenfreundlich, daß ein Unerfahrner wirklich davon erbaut werden mag. Diejenigen, welche von den schon wirklichen oder nur zu erwartenden Scheußlichkeiten[69] am meisten empört scheinen und recht grimmig gegen die frevelnden, gottlosen, herrschsüchtigen Urheber und Ruhestörer losziehen, beweisen, was sie in ihrem Stande gefunden haben und wozu sie ihn gebrauchen. Von den Ursachen zu solchen Bewegungen ist unter solchen Menschen nie die Rede, mögen sie sich auch noch so klar und stark den Sinnen darstellen. Keiner richtet, jeder verdammt, alles ist nur Partei. Der denkende Mann allein, den jede Weltbegebenheit um des Ganzen willen interessiert, der auch in die verborgnen Ursachen eindringt, die Folgen aller im Geiste berechnet und sich dabei immer sagt: »Auch hieraus wird etwas hervorgehen, was die Menschen nicht erwarten, worauf die gar nicht rechnen, die es betreiben«, wird unter den weisen, stillen, klugen, tugendhaften Leuten als gefährlicher Neuerer, als Schwärmer, Tollkühner, Bösewicht stehen, wenn er so wahr oder unvorsichtig ist, mit seinen Gedanken laut zu werden. Es würde ihm nichts helfen, wenn er noch so klar bewiese, daß, so wünschenswert für die einzelnen eine immer und überall herrschende Ruhe sei, so nachteilig sei die zu lange Dauer derselben für das Allgemeine und für den Zweck, den wir zu bearbeiten haben. Es wird ihm sogar nichts helfen, wenn er auch den tiefsten Kummer darüber ausdrückt, daß die Menschen gewöhnlich nur durch so schlimme und gefahrvolle Mittel zu gewissen ihnen heilsamen Zwecken gelangen; denn man wird immer sagen: »Wer den Zweck will und so bestimmt angibt, der billigt auch die Mittel.« Stellt er nun gar die schwarzen und stupiden Geister (denn jeder schwarze oder schlechte Geist ist stupid, weil nichts stupider macht als beschränkte politische Begriffe, aus Interesse entsprungen) als die Ursachen auf, welche die vorhandne Weltbegebenheit erzwangen und den andern die Möglichkeit, sie hervorzubringen, zuspielten, so kann er noch obendrein eine Apologie der geist- und weltlichen Tyrannei, der allerverkehrtesten und zwecklosesten Politik ebendieser schwarzen und stupiden Geister hören. Handelten sie nicht aus ebendem Bewegungsgrunde, aus welchem die Anwesenden urteilen? Wird zum Beispiel jetzt von dem Aufruhr in Irland gesprochen,[70] so sage man nur: »Der Grund aller dieser scheußlichen Mordszenen ist die gehässige Intoleranz der hohen Kirche, die engste Kaufmanns- und Ämterpolitik; der Irländer will ja nur Bürger in seinem Vaterlande sein, Gott nach seinem Gewissen dienen und der gewöhnlichen Rechte und Vorteile des Bürgers für die Lasten genießen, die er als Bürger, gleich den andern, tragen muß«; horche dann auf die klugen, weisen, tugendhaften Männer und denke dabei, daß wir nach dem prüfungsvollen achtzehnten Jahrhundert leben. Gibt es keine Wahrheit für den Menschen, wahrlich, so nützen ihm auch weder Prüfungen noch Beispiele. Und will man uns trotz allem dem in unserm aufgeklärten Zeitalter die Humanität oder die Menschheit überhaupt in einer Bildsäule zur Beschauung aufstellen, so vergesse man doch ja nicht, sie in Trauerflor einzuhüllen.

625(a)
[71]

WER daran zweifelt, daß die unverständige Menge im Grunde in den sogenannten polizierten und kultivierten Staaten wirklich herrscht, der bemerke nur, wie der allesvermögendste, der kühnste, mächtigste, verehrteste, ja der beste und weiseste Regent gezwungen ist, der Opinion ebendieser unverständigen Menge zu huldigen und ihr oft durch Unterlassung des Besten und ihr Nützlichsten Opfer bringen muß, worüber der Genius der Menschheit weinen könnte, wenn er noch Tränen übrig hätte.

Aber ist nicht ebendiese Opinion die Kette, welche die Menschen zu ihrem Vorteil gemeinschaftlich schmieden, um die Übermütigen, die Frechen und Vermessenen zu fesseln? Legen sie nicht auch hier einen Grund zu ihrer Erhaltung und ihrem Zusammenhalten, ohne zu ahnden, welches wichtige Geschäft sie treiben? Was würde aus den Kleinen, den Schwachen werden, wenn die sie Leitenden, Beherrschenden und Richtenden dieses einzige unbestechliche Gericht nicht fürchteten, das nirgends sichtbar ist, ohne Form und Verhör urteilt und dessen Sprüche gleichwohl in allen Straßen erschallen, in die Schlösser, Paläste, Prachtwohnungen, Tribunäle dringen und durch Verstand und Unsinn, Wahrheit und Lüge, kluge Worte und Zungenträtschereien immer an Dinge erinnern, an die man in Schlössern, Palästen, Prachtwohnungen und Tribunälen, durch Gewohnheit und vermeinte Sicherheit eingeschläfert, selten denken würde? So wägt sich immer eins gegen das andre ab. – Versuche man es nur und ziehe einen Stein, den man für ganz überflüssig hält, aus dem wunderbaren künstlichen Gebäude der vor uns lebenden[120] und wirkenden Gesellschaft, und man wird plötzlich überzeugt werden, daß auch er, so wenig er es schien, ein Grundstein war. Und wer hier zürnt, der zürnt der Notwendigkeit, welcher sich nur derjenige entzieht, der sich aus eigner Kraft zum Wesen ausgebildet hat und das Gesetz der Notwendigkeit für das Ganze anerkennt.

625 b
[121]

SOLLTE (außer dem wichtigen Umstande, daß nur noch in England die Regierung nicht militärisch ist und so den Geist in eine politische Form drückt und zwängt) nicht auch dieses eine Ursache sein, warum die Engländer ihre Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche, Charakter und Sinnesart so festhalten: daß sie an der Erziehung so wenig künsteln oder verkünsteln, daß sie keine Basedows, Campen und wie sie heute alle heißen mögen, haben, die die Kinder zu moralischen Schwätzern machen und ebendie Kraft einschläfern, die den Mann machen und beleben soll.

626
[343]

DER gemeinste Mensch wird oft im Fieber, bei Nervenreiz, in Träumen zum größten schaffenden, dichterischen Genie, sieht, denkt, spricht Dinge im Geiste, übt Talente in der Phantasie aus, wovon er im gesunden Zustande nie Ahndung hatte. Er steht dann so hoch über seinem vorigen Sein, daß er das Bewußtsein[413] seines alten Ichs gleichsam ganz verliert und in dem Spiel der Phantasien sich selbst nicht mehr herausfinden kann. Diese Schöpfungskraft verschwindet oft gleich einem wunderbaren Zauber, ohne eine Spur im Geiste zurückzulassen, sobald der sie erregende Reiz gestillt ist. Wenn nun auch alles dieses bloß durch das Physische bewirkt würde, so muß es uns doch wenigstens nachsichtig gegen die schönen platonischen Träume und die Schwärmereien wachender hochgespannter Philosophen machen.

627
[414]

WENN man von einem tätigen, kräftig wirkenden Manne eben nichts Böses und Nachteiliges zu sagen weiß und aus Scham den Zweck seines Handelns nicht laut zu tadeln wagt, so sagt man wenigstens: »Der Mann kennt die Menschen nicht!« Könnte man nicht ebensooft von einem solchen Manne sagen: »Er kennt wohl die Menschen, aber er fürchtet sie nicht!« Die Allesausgleichenden und -versöhnenden (esprits conciliateurs), die Ruhe, Stille und Gemächlichkeit Liebenden, die Egoisten, die Menschenverächter und die Feigen in der Moral überhaupt setzen gewöhnlich zu obigem Spruch noch die tröstenden Worte: »Es hilft doch zu nichts! Die Menschen und die Welt werden nie anders, nie besser!« usw. Sie glauben so dem Menschengeschlechte den Prozeß zu machen und die Klage gegen sich von ihrem innern Richterstuhl abzuweisen; aber wenn sie etwas wundern könnte, so[298] müßte es dieses sein: daß es trotz solchen Sprüchen, die wahrscheinlich so alt sind als das Menschengeschlecht in der Gesellschaft, doch noch immer solche sonderbare Männer gibt und geben wird.

628
[299]

ES gibt einen gewissen Haß, den nur edle Gemüter verdienen können. Eigennützige, sinnliche und rohe Menschen stoßen einen Mann von solchem Gemüt, den sie mit diesem Haß beehren, gewaltsam in die höhere Geisterwelt und erklären dadurch laut, er sei nicht von ihrem Geschlecht, gehöre nicht unter sie. Von ihrem Haß verblendet, der noch giftiger wird, da er auf einen solchen Mann nicht wirkt, ahnden sie nicht einmal, daß er von dem Augenblick an außer ihrer Macht ist, da sie ihn durch ebendiesen Haß in jene höhere Sphäre noch mehr emporgehoben haben.

629
[32]

ALS Sklave seines Geschlechts leben und sterben, ist das Los des Menschen. Wie wenige unter den Millionen entreißen ihren Freiheitsbrief der Welt? Wie wenige denken daran, daß sich so etwas tun oder nur versuchen ließe und, wenn es gelänge, auch von einigem Wert sei? Wie wenige nur denken daran, daß man so etwas suchen müsse? Was nun unter diesem Freiheitsbrief zu verstehen sei, wird der nicht fragen, der ihn sich erworben hat; für die, welche ihn weder achten noch ahnden, ist jede Erklärung überflüssig.

630
[53]

MAN wirft gewöhnlich Männern von kräftigem, hohem Charakter Stolz vor und glaubt, zu seinem Trost, in ihnen einen bedeutenden Fehler aufgedeckt zu haben. Solche Männer müssen doch wohl auf ein Fußgestell treten, um nicht durch den Schmutz unrein zu werden, mit dem die um sie Wandelnden besudelt sind.

631
[32]

MAN hört und liest hundertmal Ausdrücke der Verwunderung und Bewunderung über den Trieb, die Geschicklichkeit der Tiere und Insekten, bevor man einen über das Maß hört und liest, das der Mensch in sich gefunden hat und in sich aufstellen mußte. Ich rede von dem Maße, nach welchem er seinen Wert, den Wert anderer, seiner Handlungen und ihrer Handlungen in dem innern Gerichtshofe bestimmt. Eine Schätzung, die er sogar ausüben muß, wenn ihm um seines eignen Selbsts willen das Geschäft auch noch so widrig und verhaßt ist.

632
[43]

EINEM Philosophen, der einem Religiosen bewies, wie wenig der Mensch auf seine Vernunft stolz sein dürfe, da er sie so wenig und so schlecht im ganzen gebrauche, und dann hinzusetzte: daß man wenigstens von ihr sagen könne, sie herrsche so wenig in der Welt, als sie dieselbe leite, der Mensch sei also wohl ein der Vernunft fähiges, aber kein vernünftiges Wesen, antwortete dieser mit Triumph: »Sie beweisen für mich! Der Mensch sollte kein bloß vernünftiges, sondern ein religioses Geschöpf sein, und darum ist nicht die Vernunft, sondern die Religion auf dem ganzen Erdboden, unter allen Völkern herrschend; darum herrscht sie auch sogar unter jenen Völkern, bei denen die Vernunft noch nicht ausgebildet ist, weil ihnen die Religion das Wichtigste ist und sein soll.« Der Philosoph erwiderte: »Diese Religionen sind dann auch darnach, und eben hierin liegt die tiefste Demütigung des Menschen, daß man solchen Religionen ansieht, was für ihn genug ist, wessen er bedarf, wessen ihn seine Vernunft wert macht: Fetische! Und diese auch da noch, wo die ersten Genies durch die Vernunft das Erhabenste aller Wesen in seiner Würde aufgestellt haben.«

633


WENN die Religion dem Menschen durch Offenbarung vom Himmel kam, so kommt der Kultus von ihm selbst. Er hat sich auch hier ganz als Mensch gezeigt; wenigstens scheint er bei der Bearbeitung desselben so ziemlich vergessen zu haben, daß ihm die Hauptsache von dem Himmel kam. Das kommt nun vielleicht auch daher, daß ihm zwei Aufgaben aufzulösen übertragen[381] worden sind: eine in dieser drangvollen irdischen Welt und eine für die Zukunft nach diesem Leben, wovon immer eine die andre stört. Um nun beide für das Sichtbare etwas zu verständigen, muß der Kultus mit seinen Zeremonien aushelfen. Da nun die Priester von den ältesten Zeiten her dem Menschengeschlecht immer diese Wohltat erwiesen haben, so üben sie natürlich noch bis auf den heutigen Tag dieses in ihrem Sinne wichtige Geschäft aus.

634
[382]

WAS Pauw über die Griechen schrieb und das man meistens Paradoxen schalt, hat nun Mitford zur Wahrheit gemacht. Gewiß ist seine »Geschichte der Griechen« ein neuer Beitrag zur wahren Geschichte der Menschheit, aber auch zugleich ein Beweis, daß die Philosophen und Dichter, die in der intellektuellen Welt leben, wenn die Kultur bei einem Volke hoch gestiegen ist, gar nichts für ihr Volk oder das wirkliche politisch-moralische Leben überhaupt beweisen und am Ende nur dartun, wie hoch solche Geister über dem Wirklichen stehen. Man braucht also die Dämonen nicht über unsrer Sphäre zu suchen; sie haben zu allen Zeiten unter den Menschen gelebt, nur daß man sie nicht für das erkannte, was sie waren, folglich mit ihnen weder in Verwandtschaft stand noch ihre Verwandtschaft mit sich anerkannte. Wie passen Aristides, Sokrates, Plato, Xenophon, Sophokles, Euripides, Epaminondas usw. zu den Griechen, die uns Mitford nach dem Leben malt? Und was sind die Griechen diesen Dämonen schuldig, daß man seit Tausenden von Jahren ihren politischen, moralischen und religiösen Wert nach diesen beurteilte? Pedanten, die in einem solchen Volke einen fruchtbaren Gemeinplatz finden und die die Verbannung jedes Vorurteils als Verlust ansehen, Schwärmer, die ein zu Staub gewordenes Volk anbeten, um das gegenwärtige Menschengeschlecht zu verachten und übrigens ein ganz bequemes bürgerliches Leben führen, werden sich nun freilich ärgern, daß Mitford auch diese Täuschung weggeblasen hat. Die an die immer steigende Veredlung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts Glaubenden, welche in der Geschichte der Griechen die Haupteinleitung zu diesem wichtigen, wünschenswerten Zweck fanden (wenn sie die Sache nicht schon als einmal geschehen ansehen), werden seufzen; und nur der erfahrne Mann, der unbefangene Geschichtsforscher und Menschenkenner werden in Mitford ihre Gedanken fest gegründet und klassisch dargestellt finden.

635
[253]

WÄREN die Deutschen so gerecht gegen ihre großen Männer, als sie es gegen die großen Männer andrer Nationen sind, so würde man schon längst gesagt und in Schriften erwiesen haben: daß kein Philosoph der alten und neuen Zeit erhabnere Gedanken über den Menschen, seine wahre Würde, die Welt und Gott gedacht, in der einfachsten, anspruchlosesten Sprache ausgedrückt hat als Kant; und in solcher Anzahl, daß man erstaunen würde, wenn man sie in einem Auszuge zusammen läse. Man spricht aber in Deutschland noch immer lieber von den erhabnen poetischen Gedanken Platos, die doch mehr durch ästhetische Kunstgriffe hervorgebracht sind als durch die hohe Kraft des Verstandes, welche den Königsberger Weisen nicht allein bezeichnet, sondern von allen spekulativen Philosophen alter und neuer Zeit auszeichnet.

636
[434]

NICHT die Bienen allein machen aus blindem Triebe einen Staat, eine Republik aus, ohne zu wissen, was sie tun und vorstellen. Ganze Völker waren und sind in diesem Fall; und wenn es die Philosophen und Politiker einigen derselben nicht sagten, sie stürben samt und sonders dahin, ohne zu wissen oder zu ahnden, was für ein Kunstwerk sie auf Erden vorgestellt haben oder durch sie und mit ihnen ausgeführt worden ist. Auch sogar die sogenannte Königin unter den Bienen hat ihresgleichen unter den Regenten der Menschen.

637


DER Krieg sollte nur aufhören – meinen, träumen und wünschen die menschenfreundlichen Weisen –, so würde alles auf Erden gut gehen. Die Möglichkeit selbst haben sie auf das klärste bewiesen; und ich glaube, von allen verhüllten Dingen, die sie zu enthüllen unternommen haben, ist dieses das leichteste, da es[171] ganz in die Sinne fällt. Ob es aber wirklich mit dem Menschen besser stehen würde, wäre der Probe wenigstens wert; und kann eine Einladung an die Mächtigen der Erde von einiger Wirkung sein, so will auch ich sie hiermit gemacht haben. Sie würden dem Menschengeschlechte in jedem Fall doch Gelegenheit geben, sich von einer neuen Seite zu zeigen; und vielleicht könnte es gar einen dunkeln Artikel des Prozesses plötzlich klar aufhellen, der von den ältesten Zeiten her in Sachen der Regierenden und Regierten vor dem Tribunal der Vernunft durch Wort und Schrift von den Bevollmächtigten beider geführt wird. Unser Krieg gegen die Tiere der Erde und der Krieg der Tiere gegeneinander entspringt, wie bekannt, aus dem gewaltigen Hunger, der allereinfachsten und begreiflichsten physischen Notwendigkeit, die ihre Befriedigung in der Sättigung findet. Der Krieg der Menschen gegen Menschen aber entspringt aus einer Mannigfaltigkeit von Begierden und Leidenschaften, die nirgends hinlängliche Genugtuung finden, die im Gegenteil im Genuß oder in der Erreichung des Gewünschten immer wachsen und sich in dem Grenzenlosen verlieren. Und da man noch obendrein die Befriedigung dieser Begierden und Leidenschaften zu einem politischen, oft gar religiös-moralischen Spiele zu machen weiß, es zugleich als die erhabenste, kühnste Entwicklung unsrer Seelenkräfte ansieht, so scheint mir beinahe, auch der Krieg gehöre zu der sonderbaren Mitgift, womit wir ausgestattet worden sind, um alle die wunderbaren Erscheinungen hervorzubringen, die an uns vorübergehen, an denen und durch die wir vorübergehen, über die wir zwar vernünfteln, ein Besseres wünschen, woran wir aber nichts ändern können. Wer weiß auch, ob uns nicht ein ewiger Friede, durch sybaritische Sinnlichkeit und Wohlbehagen in Ruhe, einen weit scheußlichern Despotismus zuführte, als wir schon kennen; denn die Furcht vor dem Kriege würde uns wahrscheinlich um die Kraft bringen, den Despotismus zu bekämpfen – und haben jetzt nicht selbst die Mächtigsten in dem Kriege und durch den Krieg etwas zu befürchten, das Unglück und Erniedrigung heißt?

638
[172]

WENN ein Volk den großen politischen Kreis unter Sklaverei und Freiheit durchlaufen hat und endlich durch die höchste Kultur, folglich die üppigste Verirrung der Sinne und der Vernunft, zum letzten Punkt gekommen ist, so hat es in seinem aufwühlenden Laufe auch gewöhnlich den moralischen Kreis, der jenem zur Grundzeichnung dienen soll, ausgetreten und ist nun gezwungen, wenn es einen neuen Kreislauf beginnen will, diese verschüttete Zeichnung aufzugraben; ob es aber die reinen und kräftigen Züge wieder aus dem Schutt und Staube herausfinden wird und ob es dieselben wieder gebrauchen kann, wenn es sie herausfindet, darüber stellt die Erfahrung nur zweideutige Erläuterungen auf. Hier treibt die Not gewöhnlich zu Hilfsmitteln der Not, und diese benutzt nur das augenblicklich Mögliche. Immer geschieht indessen etwas. Aber ein Individuum in der Gesellschaft, welches sich einen politischen Kreis zu seinem Lauf ausgedacht hat und das der Egoismus der Klugheit auf seinem Wege leitet, tritt die Zeichnung bis auf die Spur aus; und an das Aufgraben derselben wird es nicht einmal durch die Not erinnert, da es als eine parasitische Pflanze an dem Stamm der Gesellschaft saugt, dieser mag in Ruhe oder vom Sturm erschüttert dastehen.

639
[173]

MAN hat viel von den Temperamenten gesprochen, allerlei darauf gebaut und daraus geschlossen; aber was hat die Natur oder der Urheber der Natur mit dieser seltnen Mannigfaltigkeit, Mischung und Verschiedenheit, in Ansehung der Laster und Tugenden, der Schwäche und Stärke gewollt? Wahrscheinlich haben[82] auch die Tiere ihre Temperamente, nur ist der Instinkt, welcher sie leitet, ein ganz anderer Meister als die Vernunft, die das Temperament eines jeden von uns leiten und beherrschen soll, und sei es auch der aufrührischste und unbezwinglichste Untertan. Gewöhnlich richtet das Temperament die Vernunft nach sich ein und versteht noch obendrein die Kunst, die Unterjochte glauben zu machen, sie sei die Herrscherin; und so unterscheidet sich doch der Mensch von dem Tier.

640
[83]

EIN neuer Widerspruch, wenn es noch irgendeinen neuen gibt! Während unsre Theologen der Vernunft huldigen, kultivieren[486] jetzt unsre Dichter – unsre großen Dichter – die Mystik. Sie scheinen durch Schlüsse von den alten Theologen gelernt zu haben, wozu geheimnisvolles Dunkel nützt. Auch ist es vielleicht nur ein Kunstgriff, ein Versuch, Priester einer andern Art im Volke zu werden, das aber zum Glück so wenig poetisch als politisch gestimmt ist. Vielleicht ist es bei einigen nur Erschöpfung des Genies, bei andern gar Vorspiegelung des Genies.

641
[487]

WENN die Großen, Mächtigen und Reichen der Erde schlecht sind, so sind sie es gewöhnlich in vollem Maße. Nichts ist natürlicher; ihr Glück in der Welt ist ja schon von der Geburt her gemacht; sie sind vor aller Gefahr gesichert oder glauben es doch zu sein. Ihre Helfershelfer oder Verderber glauben sich mit ihnen in gleichem Falle. Und was gehört denn nun auch dazu? Ist der Sieg über die Opinion (ein Ding, das nur da ist, wenn man daran glauben will) nicht das leichteste Geschäft von der Welt?

642
[232]

DIE Weltkenntnis, die Erfahrung an den Menschen hat in uns schon lange den Geist getötet, bevor der Tod den Leib wegrafft. Wir stehen dann da wie ein Baum, der von der Mitte zu der Krone hinauf abgedorrt ist, weil die lebende Kraft nicht mehr aufwärtstreibt: Was dem Baume der Saft ist, das ist unserm Geiste das Herz. Alles ist zu Ende, wenn die hohe Phantasie verschwunden ist, die durch das Herz in dem Geiste den idealischen Sinn erhält und ihn so vor einem Absterben bewahrt, welches das übrige physische Leben zu dem ekelhaftesten Geschäft macht, das wir auf dieser Erde zu führen haben.

643
[53]

EIN jeder kann sich sehr leicht das Maß seiner moralischen Vollkommenheit gradweise aufstellen. Er braucht nur bei seinen Handlungen und den Beweggründen dazu aufzumerken, wieviel und was er um seiner selbst willen und wieviel und was er um edler Zwecke und um anderer willen tut und ob er das, was er für edle Zwecke und andre tut, nicht um seinetwillen tut.

644
[67]

AHNDEN sollten wir die intellektuelle, ideale oder Geisterwelt, aber nicht darin wohnen. Vermöge dieser Ahndung – durch die sich der Geist auf eine Höhe schwingt, von welcher er auf Augenblicke ein neues Land, durch einen Schleier von Morgenröte[53] gewebt, über sich entdeckt, das vor ihm wie ein schöner, glücklicher Jugendtraum schwebt, den man fühlt, sieht, ohne ihn beschreiben zu können – wird der Sohn der Erde zum hohen Dichter, Künstler, edlen Staatsbürger und findet da, wo nichts Wirkliches zu sein scheint, den Grund zum Wirklichsten. – Wer aber immer in der Geisterwelt wohnen will oder darin zu wohnen wähnt, ohne auf das bekannte Land, in dem wir leben und auf dem wir wirken sollen, noch fester, sicherer zurückzublicken, der ist in Gefahr, in jenem unermeßlichen, unbegreiflichen, zauberischen Erquickungs- und Erhebungsort für seinen Geist eine eigne, enge Loge eines Narren oder Phantasten aufzubauen. Er glaubt da zu wohnen, wo der Weise nur sekundenlang schwebt und wo dieser in den wenigen Sekunden einen Schwerpunkt für dieses unstete, vergängliche Erdenleben findet, auf dem er durch eigne Kraft so fest steht, daß ihn fremde Gewalt wohl bewegen, aber nicht verrücken kann.

645


IN der Idee, dem Glauben über und an eine Seele und ihre Unsterblichkeit, liegt der Grund der höhern, freiern Geisteskultur und des idealischen Sinns. Dieses beweist die Geschichte aller Völker und die der Juden durch den Gegensatz. Nehmen wir nun auch an, es sei nur eine schöne Lüge, ein angenehmer Traum, so liegt doch darin, daß ein sonst so sinnliches Geschöpf so zu lügen, zu träumen, zu schwärmen, diesem Traum sogar die Wirklichkeit zum Opfer zu bringen vermag, eine so geheimnisvolle, erhabne Kraft oder Magie, daß, wenn sie auch das Wunderbare der Verbindung des Geistigen mit dem Sinnlichen nicht beweist (die Gewißheit würde wahrscheinlich demselben allen Reiz nehmen), sie doch den Lügner, Träumer oder Schwärmer selbst zu einem noch größern Wunder macht.

646
[54]

ES geschieht mir wohl, daß ich im Traume mein ganzes Ich oder meine eigene Persönlichkeit verliere, eine ganz andre Person, ein ganz andres Ich nach bürgerlichen Begriffen und Verhältnissen vorstelle und mich selbst nicht eher wiedererkenne, als bis ich etwas sage oder tue, das aus meinem eignen Charakter oder meiner Denkungsart überhaupt entspringt. Dann finde ich mein Ich aus der Verwirrung plötzlich heraus, die Maske, in die mich der Traum gehüllt, verschwindet, und Seel' und Leib oder Phantasie und Leib scheinen sich wieder als alte Bekannte, die nur ein Zufall von Verwirrung trennte, zu umarmen. Ich weiß nicht, ob solche Träume allgemein sind oder ob diese Art zu träumen nur Leuten widerfährt, die gewohnt sind, sich selbst zu beobachten und nach einer bestimmten Denkungsart zu handeln, die folglich mit ihrem innern Selbst so bekannt sind, daß es sich wachend und träumend immer an seinen Hauptzügen wiedererkennt und in jeder Lage, bei jeder Verwirrung herausfindet.

647
[99]

DIE zwei größten Genien des vergangenen Jahrhunderts auf Thronen haben – aus Widerspruch oder Laune – die Jesuiten beibehalten, damit doch, wie sie sagten, der Same nicht ganz ausginge. Nun hat dieser Same wieder einigen Grund gefunden, und der Unfehlbare selbst mußte hier seine Vorgänger im Grabe als fehlbar erklären. Sollte aber dieser Widerspruch oder diese Laune einst von Folgen sein, so mögen die künftigen Philosophen[391] über die Folgen dieses Widerspruchs oder dieser Launen jener philosophischen Regenten den Nachkommen ihre Verwunderung bezeigen, wenn sie alsdann so etwas noch zu tun wagen.

648
[392]

WER an der Glückseligkeit der Dichter zweifelt (der echten meine ich), der betrachte nur den Abend ihres Lebens und vergleiche ihn mit dem Abend eines Welt–, Staats–, Geschäftsmannes. Wenn das Gerippe der Wirklichkeit ohne alle Täuschung vor den letzten tritt, so kleidet es der Dichter in den Duft der Phantasie und erweckt zu Asche gewordene Gestalten zu lieblichen frischen Bildungen, wenn sie ihm die gegenwärtige Zeit versagt. So verjüngt sich Wieland in Griechenland, wenn sein Zeitalter, dessen Taten oder sein Spiegel ihm zu laut sagen, er sei Greis geworden. Seine Dichtungen sagen es ihm bis jetzt nicht.

649
[456]

VIELE klagen über die menschliche Gesellschaft und sterben mit diesen Klagen, ohne zu bedenken oder bedacht zu haben, daß diese Gesellschaft in einem Tage mehr für sie tat, als sie ihr ganzes Leben hindurch für sie getan haben. Die laut, heftig Klagenden sind diejenigen, die ganz auf Kosten derselben gelebt,[32] die Allerlautesten und Allerheftigsten aber die, welche ihr geschadet haben.

650
[33]

WAS ich mit allen diesen Betrachtungen und Gedanken, in deutscher Sprache, zu dieser Zeit will? – Kraft erwecken! Gelänge mir dieses, so wirkte ich ein größeres Wunder als Moses, da er Wasser aus dem Felsen schlug; doch die Juden waren durstig. Indessen er halte ich durch diese Gedanken meine Kraft wach und mutig; und so ist hier der Autor selbst Zweck seines Buchs. Ich schreibe also hier nur Bündnisse mit meinem eignen Geiste nieder, und er selbst drückt den Talisman darauf.

651
[9]

WER sich rühmt, daß er seine Einbildungskraft durch die Vernunft ganz getötet habe, daß er durch die Stärke dieser Vernunft vor jeder Schwärmerei sicher sei, der hat weder das Wahre der Vernunft noch das hohe Geistige der Einbildungskraft benutzt, sie gewiß nicht im reinen Verhältnis in sich empfunden und gedacht. Er macht vielleicht, ohne es zu wissen, die Vernunft zum Werkzeug eines sinnlichen Wohlbehagens, wenigstens weiß er nicht, daß ebendie Vernunft die Schöpferin der erhabensten Schwärmerei für gewisse Ideen ist. Ich würde sie nennen; aber Kant hat es in diesem Sinne bewiesen. Und sollte auch sein System in der Schule fallen, so wird doch die erhabne Schwärmerei seiner Vernunft alle Systeme der Schule überleben.

652
[100]

DER Weg von der Rechtschaffenheit zur Tugend bezeichnet sich durch Taten; um ihn zu finden, muß man sich diese zum Leitungszeichen ausstecken. Nicht die Gesinnungen, nicht das Entsagen führen darauf: Bei der ersten mutig und verständig ausgeführten Tat betritt man erst den Pfad zu ihr. Darum bleibt sie für viele, sonst gute Menschen ein Nebelstern, dessen düsteres Licht man nur durch einen Herschelschen Teleskop erblickt – oder zu erblicken glaubt.

653
[430]

WENN ein Mann von Verstand oder gar ein Philosoph (denn diese haben ihre Gründe), der weder eine Rolle in einem despotischen Staate spielt noch zu spielen wünscht, einer solchen Regierung unbedingt das Wort redet und sie als sehr zweckmäßig anpreist, so kann man immer sagen: »Er geht von Menschenverachtung aus« – und der, welcher ihn politisch bekehren will, muß erst versuchen, ihn moralisch zu bekehren, wenn ein solcher Mann zu bekehren oder der Bekehrung wert ist.

654
[167]

DER Ehrgeiz, die Herrschsucht täuschen und verblenden die Großen und Mächtigen der Erde; aber was würde aus euch Kleinen werden, aus euch geworden sein, wenn sie immer die rechten Mittel zu ihren oft gefährlichen Zwecken angewandt hätten? Nicht ihrer Weisheit – ihrer Torheit und Verblendung verdankt ihr's noch, daß ihr etwas seid! Wer daran zweifelt, der schlage die Geschichte auf, wenn die Gegenwart für ihn keine Geschichte ist.

655
[121]

AN nichts tragen die Menschen schwerer als an der Achtung, der Verehrung, die sie für die guten Eigenschaften und Tugenden anderer fühlen oder fühlen müssen. Wer nicht will, daß ihm die Last vor die Füße geworfen werde oder den so Belasteten nach und nach von den Schultern falle, der muß immer etwas zu dem Gewichte legen und zu legen haben; kurz: er muß sie darunter erdrücken. Aber ich steh' ihm nicht für die Folgen der Verzweiflung der so Leidenden.

656
[33]

DES zivilisierten Menschen Stimme ist freilich die Hauptstimme des Klagenden in der ganzen Natur; er scheint auch wohl Ursache dazu zu haben. Der meisten wahrhaft gegründeten Klagen könnte er sich indessen immer rühmen, der Urheber selbst zu sein, wenn er nicht so vorsichtig dabei wäre. Wer aber in einem großen Staate lebt und Klagen über den Luxus der Großen, Reichen, Mächtigen führt und dabei gar nicht ahndet, welche Folgen ihre Sparsamkeit und Besonnenheit auf den Staat, den Regenten und das Volk haben würden, der sieht das Menschenwesen von einer Seite an, wo wenig Trost zu finden ist. Der Luxus und was er mit sich führt und nach sich zieht, das, was er auf den Charakter, den Verstand, die Kraft derer wirkt, die ihn treiben und übertreiben, die Meinung dieser, daß die Kleinern zur Achtung[173] für sie, durch ihre Pracht und Torheit, verblendet würden – setzt alles durch die Verkehrtheit selbst, wenn nicht in ein schönes, doch in ein nötiges Gleichgewicht. Wenigstens würde ohne diesen Luxus und ohne diese Verblendung der Boden jedes Reichs schon längst ebendiesen durch Reichtum und Gewalt Übermächtigen gehören, und die übrigen würden höchstens das Glück haben, als verpachtete Knechte das Feld zu bebauen, das sie doch noch jetzt durch Fleiß und Anstrengung zu ihrem Eigentum erheben können. Das übrige, was daraus noch entspringen könnte, versteht sich von selbst. So gleicht sich alles in dieser politisch-merkantilischen Gesellschaft unter den Menschen aus; und so, wie die Fruchtbarkeit des Ackers durch den Auswurf der Tiere befördert wird, so wird die Blüte dieser Gesellschaft – wenn man das schöne Wort hier will gelten lassen – durch den moralischen Auswurf ihrer Glieder hervorgetrieben. Ist das Gleichnis schmutzig, so mag sich diesmal der zärtliche Geschmack mit demselben versöhnen, wenn es sonst nur wahr ist. Die Schulphilosophie selbst gewinnt noch bei dieser Ausgleichung, da aus ihr eine beträchtliche Anzahl von moralischen Gemeinplätzen hervorspringt, über die sich vortrefflich schreiben, reden und predigen läßt.

657
[174]

WER sich darüber wundert, daß Staatsleute, Männer auf bedeutenden Posten nach und nach das Gefühl der Freundschaft so verlieren, daß sie dieses glückliche, beseligende und oft für[228] alles tröstende Verhältnis am Ende für einen Jugendtraum ansehen und so wenig an dasselbe glauben als an die Tugenden und an die Glückseligkeit, die aus ihm fließen, der beobachte nur die Leute etwas genauer und schärfer, welche ihnen nahen, und warum diese Leute jene eigentlich zu ihren Freunden zu machen wünschen. Sie sind noch sehr billig, wenn sie einen solchen Mann in dem Augenblick, in dem sie in ihm einen Freund, Erhalter und Beförderer für sich suchen, nicht zum Feind, Unterdrücker und Würger anderer zu machen streben. Wer mehr als billige, liberale, gerechte Gesinnungen und ihre Ausübung von einem solchen Manne fordert, der fordert nur, er solle des Staates Höchstes – das Gesetz, die Gerechtigkeit – dem einzelnen opfern; kurz, er will ihn zum Werkzeug seines Eigennutzes, seiner Leidenschaften und seines Egoismus machen und ihn so zu seiner Freundschaft und Verehrung einweihen.

658
[229]

MAN sagt gewöhnlich von Leuten, die ein irriges, verkehrtes, schlechtes, auch ganz dummes oder dem unbefangenen Menschensinn widersprechendes Urteil über einen Fall oder eine Begebenheit des Lebens aussprechen: Es fehlt ihnen an Verstand. Vielleicht würde man es hundertmal richtiger treffen, wenn man sagte: Ihr Herz, ihre Seele taugt nichts. Zur richtigen Ansicht und Beurteilung der Begebenheiten in der Welt gehört außer einem richtigen, gesunden Verstande auch eine gesunde Seele, ein unverdorbnes Herz; denn nur diese in Verbindung mit dem ersten erzeugen ein reines Urteil, ohne Rücksicht auf sich selbst.

659


ES ist ein allgemeiner Spruch: »Man erlaubt wohl einem Manne, sich seines guten Herzens zu rühmen; aber der wird jedem unerträglich, welcher sich seines Verstandes, seines Geistes rühmt.« Die feinern Moralisten, welche über die Gesellschaft schreiben und das Herz der Menschen malen, geben davon sehr gute und gegründete Ursachen an; mir scheint indessen hier die einfachste ebendarum die hinreichendste, weil sie die einfachste ist. Der Zuhörer denkt bei der Prahlerei des ersten: Laß es ihm! Ein gutes Herz ist ein ganz natürliches Geschenk, das dem Dümmsten[33] oft am ersten zufällt; und ist der Besitzer auch ein Mann von Verstand, so hat er es doch, gleich dem ersten, ohne alle Mühe und Anstrengung von seiner Seite, ohne zu wissen wie, erhalten. Überdem hängt das gute Herz gar zu sehr von physischer Stimmung, Mischung und der politischen, moralischen Lage in der Welt ab, und ein gutes Herz ist ja gewöhnlich auch ein zufriedenes Herz. Der Verstand, der Geist aber ist zugleich etwas Erworbenes, das Aufmerksamkeit, Anstrengung und Ausbildung der natürlichen Fähigkeiten voraussetzt, das zu Ansprüchen und Forderungen berechtigt und folglich Achtung, Bewunderung, sogar Furcht gebietet. Er drängt sich in jeder Lage hervor, will und weiß jede Lage zu benutzen, kann uns in der unsrigen stören; und tut er auch dieses nicht, so verdunkelt er uns doch, indem er glänzt. Aus ebendiesem Grunde ist man auch billig gegen den Mann von bloß natürlichem Verstande, ohne weitere Ausbildung. Man wird ihm sogar gern eingestehen, er besitze ihn, weil man ihm damit zu verstehen geben kann, er berechtige ihn weder zu Ansprüchen noch Forderungen auf Achtung und Bewunderung, da er hier nur einem natürlichen Triebe folge. Ein solcher Mann erfreut sich nicht allein der Duldung der Leute von gutem Herzen, er kann sogar die Gesellschaft ergötzen, welches selten der Fall des guten Herzens ist. Und da die Einfälle solcher Leute gewöhnlich naiv sind, so macht noch obendrein die Gesellschaft auf ihre Rechnung, ohne zu wissen, was sie tut, der Natur durch ihr Zutrauen eine Verbeugung, und so geht auch diesen endlich die durch den wiederholten Beifall erzeugte Bosheit durch. Aber der Mann von ausgebildetem Geiste, Weltkenntnis und beobachtendem Verstande scheint allen ein Werk eigener Kunst; und wenn er der Gesellschaft sein Übergewicht nicht fühlen läßt – das das Höchste des Verstandes ist –, so erregt er doch dadurch, daß er tief und wahr ins Innere der Herzen und das, was sie hervorbringen, blickt, die Furcht derer, aus denen sie besteht.

660
[34]

WAS ist der Geist, die Seele im Menschen? Was soll man darunter denken? Diese Frage ist so einfältig als überflüssig, nachdem man in so viel tausend Jahren keine befriedigende Antwort darüber erhalten konnte. Wenn man aber sieht, daß der Körper durch Alter und Schwäche oder seine endliche, notwendige Abnutzung einen Geist wie der, welcher in Kant lebte und wirkte, so herunterbringen und vernichten kann, daß ebendieser gewaltige, tiefdringende, erhabene, die ganze Natur und Verstandeswelt erforschende Geist sich seiner nicht mehr bewußt ist und die Ahndung dessen, was er war, vielleicht ganz verloren hat, so kann die Frage wohl für uns überflüssig, aber wahrlich nicht einfältig sein.

Was! Dieser Funken der Gottheit, diese Flamme, dieses Licht, dieses einfache, unsterbliche, selbständige, namenlose, gewaltig wirkende, die Himmel messende, die Kräfte der Natur berechnende Wesen, das die Erde durch den Ausdruck seiner Gedanken umändern, erschüttern kann, liegt schon hier vor unsern Augen, über der Erde tot, erloschen, sich nicht mehr erkennend in einem noch atmenden, herumwandelnden, sich noch nährenden Grabe, seinem eignen Leibe! – Aber beweist dieses auch etwas dagegen?

661
[83]

WENN das Publikum die Produkte der Einbildungskraft der Dichter, Künstler usw. mehr schätzt und bewundert als die ihm nützlichern Werke des Verstandes und der Erfahrung, so kommt dieses (ohne in Anschlag zu bringen, daß für den Menschen die Quelle seines höchsten Genusses in der Einbildungskraft liegt) wohl von dem für Dichter und Künstler glücklichen Vorurteile her, ihre Werke seien immer Produkte ihrer eigenen Schöpfung, die der andern bloß Werke der Anstrengung, des Fleißes und des Studierens, welches jeder von uns wohl auch hätte leisten können; vielleicht auch, daß ein dunkles Gefühl, es liege bei den letztern Interesse zum Grunde, dieses Urteil mitbestimmt. Denn von den Dichtern weiß wohl jedermann, daß ihr Gewinn und Lohn nur in den glänzenden Gefilden des Ruhms und der unsichern Unsterblichkeit liegen, deren Ernte ihnen wenigstens die Leser, welche keine Gedichte schreiben, nicht streitig machen. Wenn nun der Glaube an eigene Schöpfung der Grund zur Schätzung der Werke der Dichter und Künstler im Publikum ist, so finden auch Dichter und Künstler in diesem Glauben oder Vorurteile einen Maßstab, nach dem sie den Wert ihrer Werke ausmessen können.

662
[497]

MIR ist es sehr begreiflich, warum viele Menschen die Bescheidenheit in andern so sehr lieben und anpreisen; sie rechnen sich zu, was die andern durch Bescheidenheit sich versagen oder zu versagen scheinen.

In dieser Tugend wahrhaft zu sein, sie in andern richtig zu beurteilen und die äußere Bescheidenheit von der innern zu unterscheiden, dieses setzt ein reines, aufrichtiges Gefühl und einen durch Erfahrung, Selbsterkenntnis und richtige Schätzung der Dinge der Welt geläuterten Verstand voraus.

663
[299]

DIE hoher Dichtungsgabe, die edle Liebe, die Tugend selbst – Verwandte durch die Veredlung des Geistes und des Herzens – haben alle drei einen feinen Anstrich von Donquichotismus, der in ebendem Maße an reinem Licht und Glanz zunimmt, als der dunkle Hang nach den sinnlichen Vorteilen abnimmt. Die damit Begabten oder Beglückten tragen alle ein hohes Ideal in ihrem Innern, und dieser feine Donquichotismus muß immer wieder verherrlichen, was die äußere Wirklichkeit verdunkelt. Wer nur rechten Glaubens ist, auf den vermag diese Wirklichkeit mit allen ihren Widersprüchen, Gewalttätigkeiten und Verspottungen ebensowenig, als sie auf jenen Ritter selbst vermochte. Wenn aber der so Begabte und kräftig Ausgerüstete sein Ideal in das bürgerliche Leben übertragen will und von den andern verlangt, sie sollen seine erhabne Göttin mit ihren sinnlichen, auf Glück und Genuß gespannten Augen sehen, erkennen und wie er selbst an ihr Dasein glauben, so ist er in Gefahr, wirklich Ritter von der traurigen Gestalt zu werden und seine wahrhaft lebende Göttin zur Dulcinea der bloßen Einbildungskraft umzubilden.

664
[100]

DIE Vernunft mag dem Betenden immer sagen: »Stolzer, eitler, eingebildeter Tor! Glaubst du, Gott werde um deinetwillen den Gang der Welt ändern, die ewigen Gesetze umstoßen, durch die sie besteht? Bete soviel du willst, dir fällt zu, was Zufall, Verhängnis – oder willst du lieber: Vorsehung (alle gleich schwer zu begreifen und denen du wenigstens nicht gebietest) – dir zuspielen, auflegen oder zu Zwecken, die du nicht absiehst, bestimmt haben!« Ist aber der Betende ein Tor, so ist er nur ein armer, geplagter Tor, der Trost, Linderung, Beruhigung, Hilfe bedarf und, indem er den Geber des Lebens darum anfleht, vielleicht ein Pasquill auf sein Geschenk, ohne alle böse Absicht, macht. Wenn übrigens die Vernunft und ihre Tochter, die Philosophie, nebst der Moral eben nicht geradezu beten lehren, so beschäftigen sie sich doch ebenso wie die Religion damit, über die Qualen des Lebens zu trösten, dazu zu stärken, und malen gleich ihr seinen Wert.

665
[373]

WER weder einen Freund noch eine Geliebte wahrhaft geliebt hat, dem werden, sei er auch der verständigste, erfahrenste und geistvollste Mann, immer eine Menge Ideen fehlen, und selbst die Mitteilung derer, die der Verstand gedacht hat, werden ebendarum, weil sie nur gedacht sind, die Zuhörer wenig erwärmen. Bei dem größten Geistesreichtum bleibt ihm die wahre, feinere Verbindung und Verknüpfung in der moralischen Welt doch unbekannt; arm bei diesem Reichtum, webt er das Band dazu nur aus den groben Fäden der rohen Selbstliebe und des Eigennutzes, macht in sich das gebildetste Geschöpf zum Tier und stirbt, ohne seine Beschränktheit und das ihm Mangelnde geahndet zu haben.

666
[67]

WENN der Materialist – oder ein Klumpen Materie von fünf Fuß und einige Zoll, zu gewissen Zwecken gebildet – einem[83] andern ebenso gebildeten Klumpen von Materie mit den stärksten Gründen der Vernunft, der Erfahrung, mit glänzendem Witze, den zierlichst geründeten Perioden beweist: die in ihnen so geordnete Materie reiche zu diesem, zu mehr, zu allem hin, so kann es wohl für manchen traurig und niederschlagend anzuhören sein. Der Denker im Gleichgewicht aber sagt zu dem talentvollen Manne: »Ihr macht das Wunder um so größer; denn es verlöre doch wohl etwas von dem Wunderbaren, wenn ihr noch ein Wesen hineinsetztet, das das Uhrwerk in Gang erhielte, bis der Tod den Perpendikel faßt und so die Räder auf einmal stehen!« Der Denker im Gleichgewichte sagte dem Bedrängten nun freilich nicht viel zum Troste, da dieser weiß, jener glaube eben wegen dieses Gleichgewichts nicht an Wunder. Vielleicht aber ist ebendarum, weil das Wort Wunder nur ein Schall für ihn ist, sein Ausdruck von Bedeutung und tiefem Sinn.

667
[84]

VON allen abstrakten Ideen ist wohl die Idee vom Staate diejenige, die am wenigsten in der Welt Glück macht oder praktisch ausgeübt wird, und das oft am allerwenigsten bei denen und durch die, welche der Regent zum Dienst des Staats gewählt hat und dafür bezahlt. Nur den Philosophen und gutmütigen Schwärmern wird die Theorie und Praktik in ihren Schriften ohne Ahndung verstattet, besonders wenn ihre Systeme Träumen gleichen, wozu der praktische Sinn der Menschenführer auch das Haltbarste, ohne viele Anstrengung, zu machen versteht. Die Masse der Menschen muß natürlich die Schuld tragen, daß so etwas in der Welt nicht auszuführen, nicht zu gebrauchen ist. Der Mann aber, der dem Staate und dadurch dem Regenten kräftig,[174] treu, ohne Nebenabsichten dient, alle Verbindungen gewisser Art, persönliche Rücksichten und Empfehlungen für Verschwörung gegen den Staat hält, der ist noch glücklich genug, wenn er nur die lächerlichste Person in ebendiesem Staate genannt wird. Für alle Frevel, für alle Verbrechen gibt's Entschuldigungen und finden sich Advokaten, nur für einen solchen Mann nicht, auch kann er sie entbehren, wenn er es wahrhaft ist.

668
[175]

EIN Mann, der sehr schwärmerisch für die Meinung eingenommen war, daß das Menschengeschlecht immer in Veredlung zunähme und zunehmen müßte, um endlich diesem seinem einzigen Zweck zu entsprechen, antwortete, da man ihn auf die Erfahrung und die Geschichte verwies: »Und was gehört dann Sonderliches dazu? Der Mensch braucht ja nur gerecht gegen sich und andre zu sein, so stehe ich für das übrige.«

669
[430]

DIE Erfinder des Ackerbaus wurden von den dankbaren Essern und Trinkern zu Göttern erhoben; seht nun, was aus denen geworden ist, die ihn jetzt in der größten Vollkommenheit treiben, wie sie von denen angesehen werden, welche am meisten von ihren Erzeugnissen verzehren. Der Erfinder des Alphabets genoß derselben Verherrlichung; seht nun, was aus dem Troß von Autoren geworden ist, die in diesem bis zum schnellsten und leichtesten Gebrauch vervollkommten Alphabet ihren Pflug gefunden haben.

670
[506]

IN Arabien wünscht man immer noch dem Stamme Glück, der einen Poeten hervorbringt; auch in Deutschland mag man einer Familie zu diesem Ereignisse gratulieren, wenn man keinen Gemeingeist hat.

671
[456]

MAN vergleicht von den ältesten Zeiten her das menschliche Leben mit einem Traume. Der Vergleich hat wirklich alles Treffende, was zu einem Vergleich gehört, wenn vom Vergangenen die Rede ist; nur auf die gegenwärtige Zeit angewandt, hinkt er etwas; man zwingt uns doch zuzeiten gar sehr zum Wachsein.

672
[273]

JEDER wünscht wohl in der Jugend, ein Fürst zu sein; weise durch Erfahrung möchten es wenige sein. In diesem Wunsche, in diesem Zusatze liegt die Antwort auf gar viele vermeßne Anklagen.

673
[132]

ES ist ganz recht, zweckmäßig und der menschlichen Natur gemäß, daß der Dichter, der Künstler, der Philosoph, der Staatsmann, der Soldat usw., jeder von ihnen, das, was er treibt, worin er sich emporgeschwungen, was er durch seine Anstrengung erworben, wozu er sein Genie entwickelt hat, für das Größte und Wichtigste halte. Wer etwas dagegen hat, der ist auch mit dem Mittelmäßigen, dem Gewöhnlichen zufrieden. Das, was die Welt solchen Männern nicht bezahlen und belohnen kann oder will, müssen sie sich doch in der Einbildung selbst abtragen.

674
[101]

ES lautet empörend, aber es ist wahr, daß die Tugend, welche man aus Romanen, Dichtungen, idealisierter Moral lernt und so gewöhnlich nur mit der Einbildungskraft faßt, oder die Tugend überhaupt, die ein Maß darreicht, das nicht nach der Kraft und dem Vermögen des Bekenners berechnet ist, einem Welterfahrnen so lästig werden kann, daß man ihm beinahe verzeihen möchte, wenn er endlich vor Unwillen spottend ausruft: »Laßt doch das Laster hereinkommen!« Und um so mehr, wenn solche tugendhafte Männer ihre Tugend nur aus deutschen Romanen und Gedichten neuer mystischer Art geschöpft haben.

675


DEM Dichter ist nur die praktische Philosophie nötig und wahrhaft heilsam; die spekulative, besonders die ganz neue, tötet entweder in ihm den Dichter oder sie führt ihn der Mystik zu, die dann die leeren luftigen Irrgänge des Gehirns mit Schatten und Gespenstern erfüllt, die uns rühren, gar erschrecken sollen. So wie der spekulative Philosoph Ideen aus dem Nichts herzuholen glaubt, so glaubt ein solcher Dichter Gefühle aus ebendiesem Nichts herzuholen. Wir sehen dies an der neuen Ästhetik und an den Produkten, die auf ihre Grundsätze gebaut sind.

676
[487]

EIN Mann von wahrhaften Verdiensten, der noch ein Neuling in der Welt ist, findet endlich einen Gönner, der ihn aus der Dunkelheit hervorzieht, seine Verdienste anerkennt, ihn im Kabinett und öffentlich darum preist und ihn mit warmer Teilnahme, beinahe mit Freundschaft behandelt: Ist es zu verwundern, wenn er glaubt, dies alles geschehe um seiner Verdienste, seines anerkannten Werts willen? Doch bald sieht er, daß dieses nur des Gönners Art ist, daß er die freundliche Behandlung mit allen Zweideutigen, selbst mit den Verrufenen teilt, daß sich der Gönner dadurch nur ein sicheres, bequemes Fußgestell zusammenzusetzen sucht, Gold wie Schlacken dazu verarbeitet, wenn es ihn nur trägt oder ihn zu tragen scheint. Sobald nun der Verstand aus dieser widrigen Erfahrung diese Folge gezogen hat, so tritt der genannte Mann von Verdiensten in die wahre Prüfungszeit derselben.

677
[219]

WENN der Dichter nur aus der Phantasie und für die Phantasie dichtet und so, daß am Ende für die prosaischen Menschen gar keine hellen Gedanken übrig bleiben, die eigentlich der Dichter dem Geiste des Lesers durch die Bilder der Einbildungskraft recht lebendig und kräftig darstellen soll, so tut die Dichtkunst[487] doch nur die Wirkung, welche Musik, auf einen Text gesetzt, hervorbringt, dessen Sprache und Inhalt der Zuhörer weder versteht noch weiß. Den Beweis kann jeder in vielen neuen und besonders in den jetzigen mystischen Dichtern finden.

678
[488]

DIE jetzigen in Jamben so spruchreichen Dichter legen die Weisheit der Alten (auch der Neuern) auf die Tenne, dreschen so gewaltig darauf los, daß sie das Korn selbst zu Brei zerschlagen und wir als Ausbeute der Ernte nur Spreu umherfliegen sehen. So werden Szenen in berühmten Schauspielen zu schönen Chrien; das Thema liegt auf der Tenne, und die spielenden Drescher schlagen wechselweis so fertig darauf los, daß man die Takte zählen und richtig abmessen kann, wenn das Zuschlagen an den andern kömmt.

679
[481]

ALLEN kultivierten Völkern Europas hat man bisher in den Schulen die Griechen vergebens zum Muster aufgestellt; nur bei uns Deutschen hat es endlich so gewirkt, daß wir sie überfliegen werden und müssen. Schon haben unsre Dichter ihre Tragödie erobert, und mit Recht haben sie damit angefangen; ahmt nicht jedes Kind vorerst seiner Amme nach? Ihre hohen Tugenden werden wir gewiß erreichen, wenn nur erst das Schicksal, das leider bis jetzt noch allein auf der neuen Bühne herrscht, die Regierung über uns Deutsche mit ebender eisernen, gewaltigen Faust ergreift und ausübt, wie es auf der Bühne tut. Mit einer neuen Moral, einer neuen Götterlehre müssen dann doch die Deutschen endlich Männer wie die Griechen werden, und unsre Nachbaren sollen die politische Umwandlung empfinden. So zeigen uns also die Dichter allein den Weg zur Rache und zum Ruhm.

680


ABER nun im allerstrengsten Ernste! Sahen unsre großen Dichter hier nicht weiter und tiefer als unsre Staatsschriftsteller und Geschichtforscher? Ist Deutschland durch die Menge seiner Staaten, ihre harmonische Verbindung untereinander und durch die Grundzüge seiner Verfassung nicht recht eigentlich politisch zu dem geschaffen, wozu es ebendiese Dichter, mit Hilfe der ehernen Keule des allmächtigen griechischen Schicksals, dem der neue Zeus selbst von nun an gehorchen muß, machen wollen? Griechenland hatte Regenten, Despotien, Republiken – und wir haben alles das teils im Überfluß, teils um etwas sparsamer. Kann Nürnberg nicht Athen, Frankfurt am Main nicht Sparta, Hamburg nicht Korinth sein? Und wer die Philippe, die Alexander noch unter uns vermißt, der hat ihre letzten Eroberungen an Republiken, Erzstiftern und gefürsteten Prälaturen geschwind vergessen.

681
[482]

DASS es in der Schweiz vor allen Völkern Europas mit der Sittenverbesserung ernst ist, beweist man doch dem stumpfsten Sinn, da man die Sündentaxe des päpstlichen Stuhls aus den glorreich-christlichen Zeiten Alexanders des Sechsten in Luzern schon angeschlagen hat. Zwar hat man dort indessen nur mit dem ergiebigen Artikel der Unkeuschheit – ohne den Ehebruch zu vergessen – angefangen, die übrigen aber werden schon nachkommen; bei jeder Finanzoperation fängt man am besten mit dem Ergiebigsten an.

682
[392]

PLATO verbannte die Dichter aus seiner Republik. Was würde er im neunzehnten Jahrhundert tun, wenn er die neuesten Produkte[482] unsrer Dichter läse, durch welche sie uns dem Schicksal so unterwerfen wollen, daß uns selbst unsre reinste Unschuld, unsre kräftigste, tätigste Tugend zu nichts hülfe, und die uns im erstarrenden Gefühl unsers Unvermögens weiter keinen Trost zu geben wissen, als den wir in ihren schön gesetzten Flüchen gegen die alten Götter finden.

683


WER dem Menschen seine Gebrechen, Fehler, Sünden und Laster zuschreibt und ihn darnach richtet, der wage es nur, ihm das Eigentum und die freie, unabhängige Ausübung seiner Tugenden abzustreiten; er übertreibt die Bescheidenheit, wenn er ihm auch die ersten nur schweigend vor den Richterstuhl hinwirft. Dies fließt natürlich aus dem, was ich im letzten Satz berührte.

684
[483]

IN Deutschland macht man die Kinder mit dem Heiligen Nikolaus zu fürchten; das gleiche Schicksal wollen die Dichter nun durch das griechische Schicksal mit den Erwachsenen treiben.

685
[488]

ZUM Beweis, daß auch Theologen zur Unterstützung eines Lieblingssatzes selbst das der Gefahr aussetzen, was sie die Gläubigen zum Heil der Seelen lehren, mag Doktor Donne dienen, der einen Traktat zur Verteidigung des Selbstmords schrieb und als Dechant der St.-Pauls-Kirche in London ruhig gestorben ist. Nachdem er Simson und Eleazar aus dem Alten Testament zur Unterstützung seiner Meinung aufgeführt hat, geht er zum Neuen über und findet den kräftigsten Beweis in dem freiwilligen Tode Christi selbst. Die Märtyrer und Heiligen folgen in großer Zahl dann ganz natürlich.

686
[392]

DURCH moralische Bekanntschaft mit sich selbst hat der Mensch den Begriff von Gott und Satan – oder einem guten und bösen Wesen – aus sich selbst entwickelt und so die Grundzüge zu seinem eigenen Gemälde in aller Naivität entworfen. Die Porträts der einzelnen unterscheiden sich durch Nuancen, nur daß die Beleuchtung, malerisch verkehrt, von innen oder aus dem Dunkel hervorbricht oder hervorbrechen soll, ein Umstand, der dem Zeichner wichtig ist.

687
[382]

DER Weise predigt dem Menschen von der Zeit an, da es Weise und Toren gab: Kenne dich selbst! Bei dem die Weisheit nun vorausgegangen ist, der hat jenen Zuruf schon befolgt, befolgt ihn noch. Die Ursache aber, warum er auf so viele nicht wirkt, möchte wohl die sein: daß sich sogar viele bewußt sind, sie könnten keine schlechtere Bekanntschaft machen als die mit ihrem eignen innern Selbst. Hier fordert nun der Weise wirklich viel, und da noch obendrein der Nutzen dieser Selbstkenntnis von der praktischen Ausübung abhängt, so ist es vielleicht für die Gesellschaft gut, daß manche Menschen eine so gefährliche Bekanntschaft nicht machen. – So wie es nicht jedem zuträglich ist, alle seine Kräfte auszuüben, so ist es auch nicht zu wünschen, daß jeder alle die seinigen kennenlerne.

688


ES ist noch nicht genug, wenn man von einem Manne weiß, er kennt sich selbst; man müßte auch wissen, wie er sich kennt, was er für Grundsätze aus seiner Selbstkenntnis gezogen, wie er sich darnach im Wirken auf das Innere und Äußere eingerichtet; kurz, wie und nach was er den moralischen Maßstab zusammengesetzt hat, nach welchem er sich gemessen. Abfragen läßt sich dieses[294] Geheimnis keinem, aber man entdeckt zuzeiten etwas davon, wenn er sein gefundnes Maß an andre legt und sie darnach beurteilt.

689


LAGE, Tätigkeit, bedeutende Rollen auf dem wechselnden Welttheater, wichtige, gefährliche Verbindungen und Verwicklungen, große Unternehmungen führen freilich zur rechten Selbstkenntnis, zur richtigen Schätzung seines Werts. Wenn man aber die meisten in diesen Lagen – ich sage nicht nach ihrem innern Glück, sondern nach ihrer Zufriedenheit mit sich selbst – beurteilte, so müßte man nur auf entdeckte Schätze schließen. Die Selbstkenntnis dringt sich freilich auf, sie schränkt sich aber nur auf die Beurteilung der Kräfte und des Vermögens ein und verlängert, verkürzt den gefundnen Maßstab nach den Umständen und der Not. Das Allerschlimmste aber für die armen Wichte von Menschen ist, wenn ein Mann dieser Art über den Maßstab ganz wegspringt und ihn nur für andre oder die Werkzeuge, die er braucht und mißbraucht, entwirft.

690
[295]

DIE Höhe und Tiefe, zwischen welchen der Mensch durch einen unbegreiflichen Anziehungspunkt und ein sehr begreifliches Gewicht[88] nur schwebt oder flattert, sind so steil, glänzend, täuschend, grenzenlos, dunkel, trugvoll und bodenlos, daß es eine Art von Wunder ist, wenn einer in diesem unermeßlichen Zwischenraume ohne Leiter und Sprosse für sich einen Punkt des ruhigen Gleichgewichts so erdenkt, daß er zum Erstaunen der Zuschauer wirklich darauf steht. Und was das kühne Unternehmen eigentlich recht schwer macht, ist: daß ihn kein fremder Geist darauf stellen kann, daß ihn jeder selbst durch eigne Kraft erobern muß, wenn er sich darauf erhalten will. Wenn dieses wahre Kunststück selten gelingt, so wird es ebenso selten versucht.

691
[89]

DER Regent – oder der von ihm den Auftrag dazu hat – legt dem Baumeister einen Plan vor, nach welchem dieser aus Stein, Holz, Metall usw. nach Maß und Richtigkeit einen schönen, bequemen Palast bauen soll. Da sich nun Stein, Holz, Metall behauen, sägen, schmelzen und verarbeiten lassen, so steigt des Baumeisters Werk zur Befriedigung der Kenner auf. Der Klügling fordert nun von dem Regenten, er soll dasselbe Werk selbst oder durch seine Minister mit dieser politisch-moralisch-physischen Gesellschaft ausführen, reicht ihm den Riß dazu hin und vergißt weiter nichts dabei, als daß zwar alle Menschen gern ruhig, bequem, zufrieden (versteht sich nach ihrer Phantasie) wohnen möchten, daß ihnen aber zur Aufführung eines solchen Gebäudes nach einem solchen Riß weiter nichts abgeht als das, was jene Materialien zum Palaste so geschickt macht, daß es ihnen sogar abgehen muß, wenn sie nicht auch ganz Materialien werden sollen.

692
[132]

IN der Jugend ziehen sich die Augenbrauen in einen wenig oder sanft gekrümmten Bogen – Sehnen, Wünsche, Hoffnung, Zuversicht locken dann die Seele nach außen. Bei dem erfahrnen, denkenden Manne ziehen diese Bogen in ungleichen Krümmungen die Wölbung zusammen – der Geist hat sich dann in das Innere zurückgezogen, das Suchen nach Schätzen von außen aufgegeben und sammelt allenfalls noch Beobachtungen auf, um sich den Wert seiner Resignation zu beweisen.

693
[323]

DER Mensch verachtet das Kleine und Geringe, vor dem Großen fühlt er sich selbst klein, das Erhabne staunt er an, bewundert[54] es und erschrickt davor – so sinkt er zum rechten Maß seiner Natur herab, von ihr selbst und durch sich selbst darauf gestoßen.

694
[55]

DER gebildete Teil des Publikums möchte gern die deutsche Literatur achten, weil sie wirklich viel Achtungswürdiges aufzuweisen hat; aber die Genies selbst und ihr Nachhall, die verzerrten Geister, lassen es nicht zu. Wenn uns die ersten dem gewaltigen Gespenste – dem griechischen Schicksal zu unterwerfen streben, um uns für ihre erhabnen Produkte empfänglich zu machen, so wollen uns die andern, um den Sinn für die poetische oder romantische Poesie in uns zu erwecken, in das funfzehnte Jahrhundert zurück treiben. Die Mittel zu dieser Geisteserhebung finden sie nun in der Verdunkelung der Vernunft, in der Vertilgung des Protestantismus, in der Wiederherstellung der Magie, Astrologie, Alchimie usw.; die politische und moralische Welt ist nur um der poetischen, romantischen Poesie willen da – in dieser liegt das Heil der Menschen, und Vernunft, Verstand haben uns allein in unser politisch-moralisches Elend gestoßen, aus denen uns nichts als dieses aufgestellte Prinzip mehr retten kann. Ich weiß nicht, was diese Belehrungen in der Nähe wirken, in der Ferne erregen sie nur das peinliche Lächeln, das uns die wilden Einfälle der Rasenden bei einem Besuch des Tollhauses abzwingen und worüber wir uns schon während des Lächelns Vorwürfe machen.

695
[488]

ES gibt einen Egoismus des Instinkts, der Gewohnheit, den weichliche, schlaffe, feige Seelen ausbrüten und der, da er ohne alles Nachsinnen und Vorsatz dieser feigen Seelen da ist und wirkt, mehr ein Fehler der menschlichen Natur zu sein scheint – gefährlich ist er andern ohnedem nicht, weil er sich gewöhnlich ganz offen zeigt. Der wahrhaft gefährliche Egoismus aber – oder der, welcher der menschlichen Natur zu widersprechen und sich mit ihr gar nicht zu vertragen scheint – entspringt aus ebendiesem durch den Verstand an der moralischen Verderbtheit der Gesellschaft zum System bearbeiteten verfeinerten Instinkt. Die Egoisten dieser Art gehen von dem Grundsatz aus: Alle Menschen sind Egoisten; warum soll ich das Werkzeug, der Narr andrer sein, da ich sie für mich dazu machen kann? Ihr System[67] gründet sich auf alle Laster ebendieser Gesellschaft, und nichts rettet sie von der Vertilgung als die Vorsicht, womit sie diese Laster von ihrer Seite ausüben und ihre Ausübung so fertig, fein und richtig berechnen lernen, daß sie allein für ihre Person vor allem Nachteil, aller Gefahr sicher sind. So ist und bleibt nun Feigheit die Quelle dieses Instinkts, selbst wenn er Kunst und Wissenschaft geworden ist.

696
[68]

WENN Philosophen und Dichter klagen, daß die Mächtigen, Großen und Reichen sie und ihre Werke nicht achten und schätzen und, wenn sie ihre Werke allenfalls noch achteten und schätzten, sie dieselben doch nicht verständen und empfänden, so vergessen sie nur bei ihrer sonst gegründeten Klage, daß die Mächtigen, Großen und Reichen von den Beziehungen, Verhältnissen und Lagen kaum etwas ahnden, die dazu gehören, Philosophen und Dichter richtig zu verstehen und wahrhaft zu fühlen; daß sie zu ihrem Leben, wie sie es gewöhnlich nehmen, der Philosophie und Dichtkunst gar nicht nötig haben. Nur der Mittelstand befindet sich in den gehörigen Verhältnissen zu beiden, und nur auf ihn können Philosophen und Dichter noch allenfalls die Wirkung hervorbringen, die sie nach unsrer Verfassung etwa hervorzubringen vermögen.

697
[167]

WENN ich, der ich von der Musik nichts verstehe, im Traume ein vollständiges, harmonisches Vokal- und Instrumentalkonzert nicht allein sehe, sondern auch höre: Setz' ich, Unwissender in der Musik, aus zerstreuten, einst nur vernommenen Tönen dieses Konzert zusammen? Sind es längst gehörte Töne, die einst an den Gehörnerven angeschlagen haben und die nun die Seele, ohne sich in dieser Kunst geübt zu haben, durch ein Zauberspiel wiederum hervorlockt und künstlich verbindet? Die Spielenden, Singenden, die ganze Versammlung der Zuhörer, Bekannte und Unbekannte, stehen, sitzen vor mir, und doch sitzen und stehen Musikanten nur in meinem Gehirn; Gesang und Saitenspiel scheinen aus demselben allein herauszugehen und kehren doch durch das Gehör wirklich in dasselbe zurück oder scheinen es wenigstens zu tun. – Und wenn ich, der ich die Baukunst nicht verstehe, im Traume einen großen, mächtigen, gigantischen, mit keinem von mir gesehenen Gebäude zu vergleichenden Palast plötzlich vor meinen Augen auf der herrlichsten Anhöhe sehe: Wie setzt sich das nach Ordnung und Regel und noch schöner als nach den gewöhnlichen Verhältnissen zusammen, da ich die gewöhnlichen Verhältnisse nie im Wachen berechnet, nie einen Riß entworfen habe? Und warum, wenn ich im Traume zu einem so vollkommenen Architekten werde, seh' ich dann meine Luftschlösser gewöhnlich einsam und verlassen, in düstern, malerischen, zur Einsamkeit ganz harmonierenden Gegenden? Schafft[101] sie die Seele nach ihrem Gefühle so, um die Wirkung des Erhabenen hervorzubringen? – Und wenn ich im Traume, ohne Maler zu sein, Gemälde auf Leinewand sehe, wie sie wohl kein Künstler hervorzubringen vermag, und wirkliche Naturszenen in der weitesten Ausdehnung, wie das Auge des Wachenden sie nicht, wie man sie in der Wirklichkeit nie vereinigt sieht – rinnende Bäche, rauschende Kaskaden, säuselnde Luft – und das alles so einsam, so düster, still, daß sich die Schöpferin der Gebilde, die Seele, im geistigen Beschauen ihres eignen Werks verliert: Wie setzt sich dieses aus den Stücken, Teilen, Farben zusammen, die ich im Wachen zerstückt und einzeln wahrgenommen? Wie rede und verstehe ich Sprachen im Traume, deren Töne mir fremd sind? Wie schaff' ich, wirk' ich Dinge, wovon mich der Gedanke wachend sogleich vor meinem eigenen Verstande als einen Narren aufstellen würde? – Wenn die Träume den Menschen die erste Idee von einem in ihnen wohnenden Wesen, von einem Lande, in welchem dieses Wesen vorher geschwebt hat und in welches es einst zurückkehren wird, beigebracht haben, so scheinen sie mir auch die Quelle der Magie und vieler, wo nicht der meisten, phantastischen Spiele der Seele zu sein. Die Gelehrten wissen dieses nun freilich alles zu erklären, und für die, welchen die Träume kein Stoff des tiefen Nachdenkens und Nachsinnens sind, genügen auch ihre Erklärungen. Ich kann nur fragen, und die Träume scheinen mir ein wunderbares, großes, unbegreifliches Leben, ein Leben, in dem allein alles unser ist, in dem wir alles hervorbringen, dessen Besitz allein uns niemand streitig macht. Wenn wir dieses unser phantastisches Reich betreten, beschleicht uns kein Zweifel mehr, wir schaffen, genießen, sind reicher, glücklicher, als die Wirklichkeit den Mächtigsten, Reichsten, Glücklichsten, als uns die gesamte Natur, die höchste Kunst machen kann. Sobald wir dieses unser Reich betreten, sind wir Dichter, Schöpfer, Künstler, Genien, Götter. Warum kann dieser selige Zustand nicht dauern? Warum müssen wir erwachen, um in der Wirklichkeit zwar auch einen Traum, aber einen ängstlichen Traum – weil wir die Täuschung fühlen! –[102] fort zu träumen? Und was das Wunder vermehrt: Wenn wir im Wachen nun den Schatten des Glücks erhaschen wollen, muß uns erst der bleierne Schlaf des Glaubens und Zutrauens überfallen, um uns in die Täuschung der Träume einzuwiegen. Und kaum fühlen wir uns in diesem süßen Wahn, so tritt auch schon das Gespenst der Wirklichkeit vor unsre Wiege und schüttelt uns gewaltsam und spottend aus dem Schlummer.

Doch setze ich bei allen obigen Träumen voraus, daß der Magen und die Gedärme des Schlafenden rein und nicht überfüllt seien, sonst kann auch wohl das Leben des Traums noch schlechter als das Leben des Wachens werden; und so mag denn dieses beweisen, daß die grobe Sinnlichkeit beide verdirbt.

698


VIELE Leute, sagt man, träumen gar nicht oder sind sich wenigstens ihrer Träume nicht bewußt, scheinen also wirklich während des Schlafens eine Art von Scheintod zu leiden. Ist dieses nun wahr, so beweiset es vielleicht nur, daß ihre Phantasie keine Schöpferin, sondern selbst beim Wachen ein durch Anstrengung erzeugtes Geschöpf sei; vielleicht auch, daß ihre Nerven so wenig reizbar sind und so wenig flüchtigen Geist haben, daß die Seele sie nicht so stark bewegen kann, um ihr Spiel mit dem Bewußtsein der Maschine zu treiben, auf deren Saiten sie es treibt und übt.

699


ICH hätte oben auch noch des Fliegens im Traume erwähnen können – das herrlichste, leichteste, entzückendste Gefühl, womit der Sterbliche, wachend und schlafend, beglückt wird. Nur der sonderbare Umstand hielt mich ab, daß man (ich rede nach meiner Erfahrung) nie von der Erde aufwärts, sondern immer von der Höhe nach unserm allgemeinen Schwerpunkt, Erde, abwärts fliegt.

700
[103]

DA es jetzt nur an den Regenten und ihren Ministern liegt, aus der Französischen Revolution die nötigen und heilsamen Lehren für sich zu ziehen, die Veranlassung dazu ganz aus unserm Gedächtnis zu bringen und uns nur die Erinnerung der schrecklichen Folgen derselben als Spiegel zurückzulassen, so könnten wir wirklich diese Revolution als für uns geendigt ansehen, wenn es gewisse verblendete Leute verstatteten. Aber diese wollen wenigstens den einzigen Vorteil, den sie in der Französischen Revolution gefunden, nicht so leicht aufgeben, und darum deuten sie laut und mit dem fürchterlichen Tone der Weissagung eines biblischen Propheten bei jedem Schritte, den die Fürsten zur praktischen Ausübung der von ihnen aufgefaßten Lehren tun, auf eine Begebenheit oder einen Umstand, der diese Revolution nach ihrer Meinung veranlaßt haben soll. Und da sie immer einen Kernspruch der Politik an diesen Umstand knüpfen (ihr Geist vermag nur den Spruch, nicht den Geist der Sache zu fassen) und wenige Fürsten ihre Lage, ihre Zeit, ihr Volk und[261] sich mit allem dem, auf das man deutet, zu vergleichen imstande sind und dabei vergessen, was die Erfahrung seit vierzehn Jahren die Menschen Böses und Gutes gelehrt hat, so verfehlen diese Leute noch bei vielen ihres Zwecks nicht. Wie sie selbst am Ende dabei fahren werden, mag die Zeit entscheiden. So viel ist gewiß: Sie sorgen dafür, daß wir die Französische Revolution nicht vergessen können, und so werden wir durch ihre Sprüche und Deutungen noch lange dieses schreckliche Gespenst vor unsern Augen sehen, ob es gleich, nach dem schweren Leiden, für alle Fürsten und Völker ein wohltätiges Wesen werden könnte.

701
[262]

ICH habe bisher noch immer gehofft, vor meinem Tode ein deutsches Heldengedicht, aus deutschem Stoff, von einem deutschen Dichter gesungen, zu lesen; ich gebe diese Hoffnung nach und nach auf. Wir sind in der Kultur so hoch gestiegen, daß Dichter und Leser den Glauben an moralische und physische Wunder ganz verloren zu haben scheinen. Die Physik, Chemie, Philosophie, Theologie und historische Kritik haben alle Ingredienzien, die zu einem Heldengedicht gehören, zu Vorurteilen gemacht; und gelänge es gar auf dem Wege der Mystik und des Schicksals, auf den uns viele unsrer jetzigen Dichter locken wollen, so erhielten wir ein theosophisches Heldengedicht, worin wir in Hexametern lesen könnten, was Jakob Böhm[e], Lavater, Swedenborg usw. gefaselt haben. Die alten Talmudisten, die Platoniker der alten und der neusten Zeit nicht zu vergessen.

702
[448]

WENN die Erfahrung einem jeden von uns sagt, das Vergangne sei nichts für uns, das Gegenwärtige nur Mittel zu dem Künftigen, folglich die Zukunft und die Hoffnung seien für uns alles, das Tier nur scheine in der Gegenwart zu leben, zu genießen und zu leiden, so sagt sie uns auch deutlich: wie wir durch ebendieses Streben und rastlose Vordringen des Geistes von den Tieren getrennt sind. Die Quelle unsers Glücks rauscht oder rieselt in der dunkeln, geheimnisvollen Ferne; wir wähnen, sie nahe zu hören. Die Hoffnung, den heißen Durst zu stillen, spornt uns an, sie zu erreichen. Wir nahen, sie versinkt; das Gefühl, der Genuß des Strebens allein bleibt unser Lohn, um uns zu neuen Täuschungen zu reizen.

703
[106]

DIE Menschen beklagen sich über die Schwächen der Natur, über die Beschränktheit der Vernunft. Wenn man aber ihre Tätigkeit beobachtet, so möchte man sagen: Alle die Klagenden haben die Mittel, sich zu trösten, in ihrer Eitelkeit, ihrem Stolz, ihrer Unruhe, ihrer Anmaßung und Überschätzung, folglich in sich selbst gefunden. Und wahrlich, alle diese windigen Triebe, welche ihnen die Moral zum Vorwurf machen muß und die ebenden Stoff zu diesen Klagen hervorbringen, verleihen ihnen eine Elastizität, die weder der Moralist noch der Physiker berechnen können. Aus diesem Grunde muß man in der Gesellschaft immer mehr auf die Handelnden und Wirkenden sehen, als auf den Redenden hören. Der, welcher jetzt wie ein Zwerg spricht, handelt oft wie ein Riese, wenn er in die Lage dazu kommt, hält sich wohl selbst dafür, gelingt ihm das Geschäft. Und was wären auch die Menschen ohne diese Elastizität, durch die sie sich, wenn auch mit Hilfe des Windes der genannten Blasbälge, wiederum herstellen, wenn traurige Betrachtungen über sich selbst oder ihre Lage sie niederbeugen? Wenigstens wird so auf dem gemeinen Markte des menschlichen Lebens der offne und der Schleichhandel getrieben; und wer die Gewerbtreibenden verdammt, der hat entweder den Handel mit ihnen ganz aufgegeben oder er vergißt, was er einst dadurch gewonnen, durch die ihn Umgebenden noch gewinnt.

704
[89]

WER wagt zu sagen: »Ich will den Menschen malen! Will zeigen, was er ist, warum er so ist, wie er ist!«? – Nur der vermag es, der ihn so geschaffen und ihm sein Inneres so verhüllt hat, daß er sich als Wunder anstaune und Wunder bewirke. Wie mag der sei nen Bruder ähnlich malen, der seiner eignen Ähnlichkeit kaum auf Augenblicke sicher ist, der ihn mit Farben malt, die er in sich selbst gesammelt hat? Die Zeichnungen der geübtesten Meister sind nur Skizzen, und wenn wir uns auch an einzelnen Zügen darin erkennen, so sind es ebendiese einzelnen wahren Züge, die uns erinnern, das Gemälde des Ganzen sei Täuschungoptischer Betrug.

705
[288]

IST es an dem, daß den Söhnen der Erde eine Aufgabe zur Auflösung für dieses, vielleicht auch für das künftige Leben übertragen worden, so war es ganz zweckmäßig, daß sie der Oberherr der Geister zwischen die erhabenste Höhe und die dunkelste Tiefe, zwischen das Edelste und Niedrigste stellte. Hat dieses erhabne Wesen dadurch nicht genug für sie getan, daß auch die, welche am gewaltigsten von ihren niedrigen Begierden und Leidenschaften gegen die dunkle Tiefe gezogen werden, noch im taumelnden Versinken nach der Höhe aufblicken, sei sie ihnen jetzt auch ganz verhüllt?

Was ich hiermit sagen will?

Warum erregen die vor uns kriechenden häßlichsten Raupen so wenig unsern Abscheu und reizen wohl noch gar unsre Aufmerksamkeit? Weil wir uns bei ihrem Anblick erinnern, daß viele Arten dieses Gewürms aus der Puppe, in welche sie sich einspinnen, als glänzende Schmetterlinge herausfliegen. Sollte also nur das vor uns kriechende, in die Tiefe versinkende Menschengewürm das Urteil über unser Geschlecht bestimmen?

706


WENN wir auf eines Menschen Angesicht den grob oder fein aufgelegten Schmutz oder die durch die Tierheit aus dem Innern herausgeworfene Schminke der Sinnlichkeit wahrnehmen und bei diesem Anblick Ekel und Abscheu empfinden, so sehen wir doch nicht bloß mit dem Gesichtssinn?

707


DIE Politiker und Menschenkenner mögen über die Utopien, welche die um die Menschheit besorgten und das Bessere wünschenden Philosophen zuzeiten der Welt mitteilen, lachen und[55] spotten, soviel sie wollen – der Menschenfreund sieht wenigstens in den Wünschen und Bemühungen des einzelnen (ob er gleich weiß, die Mühe sei vergebens) die Ehre der Gattung gerettet. Das Bessere für möglich zu halten, etwas Vollkommneres wünschen, träumen und mit Gründen der Vernunft unterstützen zu können, ist doch wohl ein Merkzeichen höhern Ursprungs, edlerer Bestimmung? Wir legen das, was wir politisch sind oder sein müssen, an dieses Maß und lernen daran erkennen, wie wir sind, woran es uns fehlt, warum es uns fehlt, was die Herrschenden und die Gehorchenden sich wegen des Mangelnden gegenseitig vorzuwerfen haben. Wer nun alle diese Utopien – von Platos Utopia bis auf das letzte unsrer Zeit – in diesem Sinne liest und sich in der Wirklichkeit etwas müde gelebt hat, der wird in diesen Träumen das finden, worauf ich eben deuten wollte.

708
[56]

VIELE Philosophen sagen, es sei die Furcht, welche die Götter geschaffen oder wenigstens so schrecklich, furchtbar und rächend gemalt habe. Ich wage beinahe zu glauben, der Mensch ließ sich auch hierin nur aus einem dunkeln Gefühl, Bewußtsein oder Ahndung seines Werts Gerechtigkeit widerfahren, wie er immer tut, wenn die Kultur die Eigenliebe noch nicht allzusehr durch die Vernunft verfeinert hat. Er fühlte wahrscheinlich in sich, daß er eines drohenden, rächenden, immer strafenden Zuchtmeisters bedürfe und verdiene und keines allgütigen, allesverzeihenden Vaters. Ebenso wahrscheinlich lispelte ihm auch sein dunkles Gefühl zu, wie er diese Nachsicht eines allgütigen Vaters benutzen oder mißbrauchen würde. So wäre also auch dieses – Werk der Selbstkenntnis. Da nun der Mensch auf diese Weise über sich gesprochen hat, so dünkt mich, der Theolog zeige in dieser Sache mehr Menschenkenntnis (ob ihn gleich etwas anders leitet) als der Philosoph und handle also dadurch,[382] daß er mehr und immer drohend auf den rächenden und strafenden Zuchtmeister deutet, zweckmäßiger als der Philosoph, der uns nur den allgütigen Vater zeigt. Der Philosoph will aus dem Menschen gar vieles heraustreiben, das ihm als Philosoph fremdartig und zweckwidrig scheint und das ihn (ich will eben nicht sagen, es gehöre durchaus und insgesamt zu seiner Natur) vielleicht allein geschickt und fähig machte, die sonderbare Rolle zu spielen, die wir ihn spielen sehen. Gekommen ist es ihm, er weiß nicht woher; entwickeln mußte er es, er weiß nicht warum. Das Warum aber wird durch ebendie Rolle und ihre Verschiedenheit, da er sie bald freiwillig, bald gezwungen spielt, dem Beobachter noch so ziemlich klar.

709


IM rohen Naturstande flicht der Mensch seinen Göttern, Götzen, Fetischen eine Geißel aus den Plagen der Natur zusammen, die er allein kennt, durch die er allein leidet; in Gesellschaft vereint, mit Laster und Tugend bekannt, verfeinert sich die Idee des Rächers, das Gewissen verlängert die Geißel, sie reicht schon über dieses Leben hinaus; ganz kultiviert, reif, hoch im Laster und in der Tugend überreif – wenn kaum der Tugend Raum verstattet wird –, folgt die Straf' und Rache dem Verbrechen in die Ewigkeit. So beschränkt und zwingt sich der wilde, rohe, der kultivierte, der überfeinerte Mensch selbst in Grenzen zu seinem Besten, zu seiner politischen Erhaltung und mißt sich das nach Graden zu, was er zu verdienen glaubt. Und noch mehr: er muß; sonst hätt' er es wahrscheinlich bleiben lassen.

710


WER sich nicht, mit dem erhabnen Kant zu reden, den Weg zur Vergötterung durch die Höllenfahrt der Selbstkenntnis gebahnt hat, für den habe auch ich die meinige umsonst gemacht – und so umsonst, daß ihm die Beschreibung derselben kaum noch zum Zeitvertreib dienen kann.

711
[383]

IM Reiche der Geister soll und sollte weder Stillstand, Untätigkeit noch Einförmigkeit herrschen. Unter Armut, Mangel, Beschränktheit, Finsternis springt hier Licht und Überfluß bis zur Verblendung, bis zum grenzenlosen Luxus durch die Kultur und des Menschen Kraft und deren Mißbrauch hervor. Über beide vermögen Gesetze, Mode, Glaube, Meinung, Zeit und Herrschergewalt nichts. Hier ist die überverfeinerte Vernunft, welche gehaltlose, hohle Spekulationen zu Systemen ausspinnt – der hohe Schwung, der den Menschen zu seinem eignen, innern Gesetzgeber[400] konstituiert – die niedrige tierische Sinnlichkeit, welche die irdischen Genüsse, den Magen, den Zeugungstrieb allein zu Hebeln der moralischen Welt macht – Magie, Mystik, Astrologie, Alchimie, Geisterseherei, alle Schwärmereien und Verzerrungen, die man jetzt unter dem Vorwand ersinnt, es sei ein Band nötig, die durch die Vernunft verstiegenen und verflogenen Geister der Menschen wieder zu fesseln, insgesamt ganz in der Natur des sonderbaren Geschlechts, so, wie die Männer es sind, die in diesen Überspannungen, Verzerrungen nichts anders sehen als Kraftäußerungen der sich der Freiheit bewußten oder sie träumenden Geister, die, ob sie gleich an das Endliche geknüpft zu sein scheinen, doch das Vermögen zu gewaltig und zu bestimmt in sich empfinden, das Unendliche durch die Vernunft zu denken oder durch die Phantasie zu erschwärmen und sich zu versinnlichen. Licht und Finsternis, Helldunkel und Schattenspiel halten sich hier das Gleichgewicht, bekämpfen sich einander und vermischen sich, damit der Weg nicht zu hell und nicht zu finster werde, auf dem wir zur Übung unsrer Kräfte, zur Auflösung des verworrenen Rätsels durch uns selbst geleitet werden. Das Mannigfaltige, Widersprechende, Dunkle und Helle, Quälende und Antreibende dieses Spiels deutet auf die Dauer desselben, auf das Vergnügen, die Bewunderung, die es den Spielenden und den beobachtenden Zuschauern gewähren sollte. Nur vor des Geistes Despotie – dem Schrecklichsten, was ein Geist denken kann –, vor dem Einstimmen in ein System, vor einem blinden Glauben bewahre uns der Oberherr der Geister! Doch hat er nicht darüber entschieden? Entließ er uns nicht frei, damit wir etwas aus uns machen können? Und der so Freigelaßne wollte Geister zu seinen Sklaven, zu Nachbetern machen, über die Torheiten anderer murren, weil sie nicht den seinigen gleichen? Rügen mag der Weise die Torheiten, die zu Verirrungen leiten oder zum Despotismus führen sollen, auch davor warnen; das Urteil selbst aber überläßt er dem Oberherrn des unendlichen Reichs allein, wenn er den schönen Namen des Weisen erwerben will.

712
[401]

DIE Formen, Zeremonien, festlichen Zusammenkünfte, Regeln des Betragens, kurz das Äußere sind wichtige Rettungs- und Erhaltungsmittel der bürgerlichen Gesellschaft. Sie legen das innere Gewaltige, Verwegne, Energische der Menge an verborgene Ketten, bewahren sie vor Verwilderung und verhüten durch die Vorurteile, die sie erzeugen, daß die aus zu hoher Kultur entsprungenen Grundsätze nicht auch für die Menge Maximen des Handelns werden. Was würde sonst aus denen werden, die das üppige Spiel der Vernunft und der Sinnlichkeit – theoretisch und praktisch – auf Kosten andrer mit Vorteil treiben? Und engen auch diese Formen oft die Entwicklung der wahren, innerlichen Tugenden ein, so wird doch alles wieder dadurch ausgeglichen, daß sie noch öfter den Ausbruch kühner Laster hindern. Mußte nicht selbst das, was der Mensch für das Heiligste hält, zur bloßen Form herabsinken, um seine alleswagende Vernunft durch grobe Versinnlichung zu bezwingen? Entspringt nicht aus der[187] Beobachtung dieser Formen das, was die Menschen als durch sittliches Betragen erworben, Reputation nennen? Freilich sind dies nur Krücken der Moral, auf denen sich das schwächliche, hinkende, seelenleere Geschöpf stützt, um wenigstens schleichend fortzuschreiten. So geht nun die Menge auf gar vielen Krücken zum Vorteil des Ganzen und zu größerm Vorteil derer umher, die immer noch menschlich handeln, wenn sie der Lahmen nur spotten. Der wahre Menschenkenner, der Mann von echtem Geist, geht nur in seinem Innern vor der Menge ganz aufrecht einher; das Genie, der große Geist aber, der alle Formen überspringt und die Menschen insgesamt davon zu entfesseln strebt, setzt sich der Gefahr aus, in seinem freien, verwegnen Laufe endlich unter die Füße der Hinkenden zu stürzen und von den ihm verhaßten Krücken mit Schimpf und Spott zerschlagen zu werden.

713
[188]

SEITDEM nun das Wort »Kunstwerk« so bestimmt auf die Darstellungen der Poesie angewandt wird, kann diese natürlich bei ausgebrannten Genies, die dieses Wort vorzüglich in Kredit zu bringen suchen, bloßes Kopfwerk oder Talent werden. Die Lähmung des moralischen Charakters, auf welche Verkältung und Erstarrung des Herzens durch Egoismus folgen, vertragen sich damit und befinden sich vortrefflich dabei. Wer wird sich aber dann noch wundern, wenn es bei dem poetischen Plebs gar Finger- oder Händewerk wird!

So kann ein von großen ästhetischen Kritikern gestempeltes Wort oft vielen Nachteil bringen und am meisten dann, wenn sie selbst Dichter und Genies sind.[502]

Ich trete in deine herrliche Galerie, funfzigjähriger Thümmel3, und dein Herz des fünfundzwanzigjährigen Jünglings, dein Geist und Verstand des vollendeten Mannes, dein zarter, kräftiger, glühender Pinsel, dein hoher, moralischer Sinn, dein Gefühl für Wahrheit, Freiheit, Rechtschaffenheit, deine Biederkeit machen mich meine Glosse über alle Werke des Kopfs und des Talents vergessen, und seien sie auch von den ersten Genies geschrieben!

714
[503]

DER Gesetzgeber, Priester, politische Kopf, Despot oder was er war, der die armen, eingeschreckten Menschen glauben machte, eine allgemeine Wasserflut habe einst, um der Sünde willen, unser ganzes Geschlecht vertilgt, wußte wohl, daß er zu Leuten sprach, die so etwas zu verdienen glauben konnten.

715
[392]

DER Mensch hat sich so vieles zur Sünde gemacht, oder vielmehr: gewisse herrschsüchtige Priester und Politiker haben ihm so vieles dazu gemacht, daß die wahrhaften Sünden und Vergehungen gegen Gott und die Welt beinahe zu Kleinigkeiten geworden sind, deren man kaum erwähnt, die man hie und da fast ganz vergessen hat. Und da solche Priester nun für das, was sie zu Sünden gestempelt haben, Absolution erteilen, und von den Vergehungen, auf die ich deute, nicht sehr die Rede ist, so weiß ich nicht, wie der Oberrichter nach diesem Leben das Urteil fällen wird, da nicht mehr sein Geschöpf, sondern das Machwerk solcher Priester und solcher Politiker vor seinen Richterstuhl tritt. Das Billigste wäre wohl, daß solche Priester und solche Politiker die Schuld für alle bezahlten und daß sie sich durch die Entschuldigung, von der sie dann allein noch Rettung hoffen könnten: auch sie seien seine Geschöpfe! das fürchterlichste Urteil selbst sprächen.

716
[393]

AUCH ich würde schon weise geworden sein und ganz als ein weiser Mann geschrieben haben, wenn ich nur nicht zur jetzigen Zeit von so schrecklichen Ungerechtigkeiten, Gewalttätigkeiten, Gewaltsstreichen und Grausamkeiten hörte oder sie mit der Gleichgültigkeit vernehmen könnte, mit welcher man sie begeht. Wahrscheinlich aber macht der Egoismus solche Weisen zum Gott für andre, zum Menschen nur für sich selbst.

717
[9]

ES freut mich doch, daß auch wir Deutsche einmal recht in den Geist der Zeit eintreten. Da man in dem Frieden der Reichsritterschaft ihre hergebrachte Souveränität, in den Souveränitäten andrer gelegen, zusicherte (es mochte mit dem Geiste der Zeit harmonieren oder nicht), so wär' ich beinahe versucht zu glauben, man wolle dieses Ehrendenkmal des alten Feudalwesens zur Erinnerung, wie unser hoher und kleiner Adel als Fürsten und Ritter zur Souveränität gekommen sei, stehen lassen. Nun sehen wir aber, daß es bloß darum geschah, um das im Geist der Zeit mit Gewalt zu bewirken, was man durch gesetzliche Übereinkunft ruhig hätte ausführen können. Vielleicht wäre aber von gesetzlicher Entschädigung die Rede gewesen, und so ist und bleibt es eine konsequente Handlung im Geiste der Zeit, die dieser Geist gewiß so wenig wie gewisse andre vergessen wird.

718
[273]

ZEIT und Raum sind nun freilich nichts, aber dieses metaphysische Nichts ist mit so schweren und gewaltigen Dingen angefüllt, daß sie das Herz und den Geist des fühlenden und denkenden Menschen gänzlich zerschmettern und erdrücken würden, wenn er jene Worte bloß metaphysisch dächte. Die Versinnlichung beider legte ihm einen Punkt zum Stehen unter und verlieh ihm das nötige Gegengewicht. So hält er nun diese Schatten fest, treibt sich mit ihnen vorwärts, zieht sie aus der Vergangenheit in sich zurück, aus der fernen Zukunft näher, schafft sich aus ihnen das Gegenwärtige, macht Nichts zu Etwas oder ringt diesen Schatten und Formen des Denkens seinem und andrer Wesen Wirklichkeit ab und lernt sie festhalten.

719


SIND nicht Gott, Tugend, Seele, Staat lauter abstrakte, metaphysische Begriffe, wodurch sich das sinnliche Tier zum Menschen, zum geistigen, bis zum selbständigen Wesen ausbildete, es bleibt, geblieben ist und bleiben wird, obgleich Zweifel, Sinnlichkeit diese metaphysischen Begriffe immer zu verdicken und das sich zum Geist ausgebildete Wesen wieder zum Tier zu machen streben?

720
[106]

DIE feigen, blödsinnigen, knechtischen und herrschsüchtigen Verfinsterer des Tages glauben, den regen Geist der Zeit gebannt zu haben oder bannen zu können. Die Blinden vergessen in ihrem Eifer nur, daß man diesen Geist allein gewinnt und sich ihn dienstbar macht, wenn man sich an ihn schmiegt; daß man ihn dagegen durch Widersetzlichkeit an ebenden Dingen zum bösen, hämischen, im Finstern lauernden, rachsüchtigen Dämon macht, die man gegen ihn so sehr zu schützen sucht. Nur die ihm schmeicheln, sich in ihn fügen, die Dinge in seinem Sinn umstalten, erhalten sich und die Dinge, die ihnen so naheliegen; und nur so machen sie den Gefährlichen zum freundlichen, helfenden, mit ihnen einverstandenen Retter.

721
[273]

WENN aufgeklärte Männer glauben, das, was ich hin und wieder über Vorurteile, Pfafferei und Intoleranz sage, sei außer der Zeit und folglich überflüssig, so denken sie hierbei nur an sich und vergessen, wonach gewisse Leute, auch selbst in den protestantischen Ländern, streben. Gelänge es nur diesen gewissen Leuten, wir würden bald alles Genannte aus den finstern Höhlen hervorbrechen sehen, in welche sie der Geist der Zeit nur verbannt zu haben scheint. Der Kampf für Licht und Recht fordert von ihren Verteidigern beständige Wachsamkeit, und das eben darum, weil der Feind im Finstern schleicht. Stehen nicht mitten unter uns, in unsern sogenannten Philosophen und poetischen Poeten, die Jakob Böhme, Lavater, Gaßner, Swedenborg usw., noch toller auf, als sie in der Wirklichkeit gelebt haben? Der Menschenbeobachter läßt sich nicht von dem Schein des Augenblicks blenden.

722


DIE Schweizer hielten sich so lange für freie, biedre, kräftige, einverstandne, aufgeklärte, weise, durch sich selbst bestehende Männer, für Lykurge, Solone, Catone, bis es zur Probe kam, während welcher sie dieses alles hätten erweisen können und sollen. Wären sie wirklich gewesen, was sie auf das gesagte und gedruckte Wort der in ihrem Lande reisenden Bewunderer zu sein glaubten, sie hätten es uns, trotz der gegen sie ausgeübten Gewalt, bewiesen; ja, die Gewalt selbst hätte wahrscheinlich den hohen, vereinten Sinn in Anschlag gebracht, von dem wir in Reisebeschreibungen so vieles lasen und in der Gefahr so wenig sahen. Ihre schmeichelnden Bewunderer bedauren sie nun, und wer wird sie nicht bedauren? Aber die Wahrheit, zur rechten Zeit gesagt, wäre ihnen nützlicher gewesen.

723
[274]

THEOLOGEN, Philosophen, moralisierende Staatsleute beweisen wohl noch den Menschen, daß Gott sie nicht alle nach ihrem Wunsche glücklich machen konnte, rechtfertigen ihn sogar darüber mit haltbaren und mit Scheingründen. Nur mit den Regenten der Erde machen sie es anders; und aus ihrem Schweigen wie aus ihrem Reden sollte man schließen, sie hielten dafür, diesen nur sei möglich, was nach ihren Beweisen Gott unmöglich ist: so von ihm gebildete und ausgestattete Geschöpfe nach ihrem Wunsche glücklich zu machen.

724
[168]

MAN fühlt auch auf dem großen Welttheater, rechtschaffene Leute seien nützliche Männer, und man bedürfe ihrer. Das Haupthindernis ihres Gebrauchs ist nur, daß man entweder nicht weiß oder es doch zur rechten Zeit vergißt: man könne nur ein rechtschaffener Mann aus Grundsätzen sein und bleiben. Sobald man nun von solchen Männern etwas fordert, das ihren Grundsätzen zuwider ist und sie dann mit denselben laut werden, so begreift man kaum mehr, woher ihnen der gute Ruf gekommen ist.

725
[430]

DER Gott des Reichtums ist nicht allein blind, er teilt seine Blindheit auch seinen Günstlingen mit. Könnte sonst ihr eingebildetes Glück dauern, wenn sie die Genüsse und das Glück des edlen Denkers, des wahren Dichters, des von ihrem Götzen überhaupt vernachlässigten G[e]nügsamen sehen und fühlen könnten?

726
[72]

ZU keinem Vater ist man berechtigt zu sagen: »Aus deinen Kindern seh' ich, was du im Innern selbst wert bist!« Aber zu dem Moralisten, dem Dichter kann man es auf ein Haar sagen, wenn man so rein empfindet, daß man Wahrheit und Aufrichtigkeit beim ersten Blick von Affektation und Heuchelei, das heißt den Schriftsteller von dem Menschen unterscheiden kann.

727
[467]

ES gibt so unglückliche Menschen, daß ihnen das Böse und Gute, das Ungerechte und Gerechte, welches sie tun oder nur tun lassen, zu gleichem Nachteil gereichen. Dieses ist das gewöhnliche Los schwacher Großen. Doch sie scheinen nur uns so unglücklich; die, von denen sie geleitet und beherrscht werden, sorgen so wachsam für ihr Glück, daß sie, die Unglücklichsten auf Erden, ganz vergnügt und zufrieden mit sich und ihrem Schicksale leben.

728
[199]

DER Mann, der in Gesellschaft als liebenswürdig auftreten und dafür gehalten sein will, kommt nicht mit der eignen Eitelkeit allein aus; er muß auch noch die Kunst verstehen, die Eitelkeit der Anwesenden so zu schonen, zu reizen und ins Spiel zu bringen, daß sie den Grund seiner Liebenswürdigkeit ganz vergessen und nur sich selbst genießen.

729
[68]

KANT ist tot! Ist die Seele unsterblich, so trat doch einmal wieder ein Geist in jenem Reiche auf, der der Enthüllung der dort vorbehaltenen Geheimnisse ganz wert ist. Dem Zweifler antworte ich: So hätte Kants Seele eine Ausnahme verdient!

730
[434]

WER sich in dem Sonderbaren, Originellen gefällt und sich nach dem Ruf eines solchen Charakters sehnt, der strebe nur, ein von Grund aus rechtschaffener und auch für die Rechtschaffenheit mutig und kühn streitender Mann zu werden. So wird er von der Welt gewiß alles das erhalten, womit sie das Sonderbare und Originelle zu beehren und zu belohnen pflegt.

731
[431]

WENN ich einen Mann von Geist und Gefühl, der sonst in einer leidlichen Lage ist, über die Wirklichkeit murren und düster aufwärtsblicken sehe, möcht' ich ihm immer zurufen: »Hat er nicht für dich gesorgt, da er Geister wie Plato, Epikur, Bacon, Hobbes, Voltaire, Rousseau, Buffon, Bailly, Kant, Homer, Shakespeare, Milton und Klopstock erschuf, die deinem Geist und Herzen ein Gastmahl auf immer aufgetischt hinterlassen haben, an dem sich Götter selbst ergötzen können?«

732
[434]

DER Regent, welcher vorzüglich nach der Liebe seines Volks strebt – der Beweggrund sei nun, welcher er wolle (erwecken seine Hofleute und Staatsdiener dieses Verlangen in ihm und unterhalten es ausschließend, so weiß man ohnedem, was sie damit wollen) –, erwirbt selten, was er sucht. Der Zweck, den er sich als Regent fest aufstellen soll, schwebt dann ohnedem, von trügerischem Schein umleuchtet, vor seinen Augen. Darum muß er vorzüglich nach Achtung streben; und da sich diese nur durch strenge Erfüllung der Pflicht erwirbt, deren Wirkung jeder sieht, fühlt und faßt, so bleibt auch die Liebe gewiß nicht aus. Bei den Hofleuten und Staatsbeamten muß sich noch Furcht in die Achtung mischen; denn ihrer Liebe und Zuneigung muß der Fürst ganz entbehren können, wenn es ihm so ernsthaft, wie ich meine, um die Liebe seines Volks zu tun ist. Vielleicht ist diese Maxime für alle Befehlende[n] von Nutzen.

733
[121]

WENN ein energischer, gefühlvoller und geistreicher Mann, der den sogenannten Glauben nicht hat und das Leere des Wissens kennt, durch Begebenheiten gereizt und empört, düster und finster aufwärtsblickt, als wollte er da anfragen, wo keine Antwort zu erwarten ist, so scheint er nur den Unerfahrnen aufwärtszublicken. Sein Blick senkt sich wirklich nur in sein tiefes Inneres oder in den Abgrund des Denkens und Fühlens, den der Geist in dem Herzen aufgewühlt hat. Könnte ein minder starker Nebenstehender den Blick eines solchen Mannes in diese Tiefe begleiten, er würde in dem schaudernden Abgrunde versinken, und doch findet der kühne Waghals selbst auch da festen Boden, schwingt sich sogar, von seinem eignen Geiste verklärt, aus der Tiefe empor und geht noch mutiger unter dem Volke einher.

734
[417]

MÄNNER, die mit der Menschenkenntnis Handel und Wucher treiben, also ihre Lehrmeister zu Werkzeugen zu machen streben, alle, die auf diesem Wege zu dieser nötigen und auch wichtigen Kenntnis gelangt sind: Jesuiten, Hofleute, Diplomatiker, Intriganten, die Allesvereinigenden und -versöhnenden (insgesamt sehr kluge Menschenkenner und ebenso stolz auf ihre Kunst als ihrer gewiß), denken und sagen gewöhnlich von dem Menschenkenner in einem edlern Sinn, fällt er auch das richtigste Urteil, und am ersten, wenn er sie selbst damit trifft: »Er kennt doch die Menschen nicht.« Aber er kennt sie, auch euch; und jeder von euch weiß, warum ihr seine Menschenkenntnis verdächtig zu machen sucht. Ihr wollt ja doch nur, daß man die Menschen in dem Sinne beurteile, in dem ihr sie behandelt –[309] das heißt: Der redliche Handelsmann soll die Apologie der Wipper, Kipper und Agioteurs auf der öffentlichen Börse machen und auch ihr niedriges Geschäft, ihren Schleichhandel zum aufrichtigen Gewerbe zählen.

735
[310]

WENN die Menschen den Mann, der sie in dem Weinbau unterrichtete, erst dann zum Gott machten, als sie die Wirkung des gegornen Rebensafts durch die Trunkenheit kennenlernten, so beweist auch diese späte Vergötterung, wie lästig ihnen die Vernunft ist, auf die sie sonst so stolz sind. Hielten sie dieselbe für das Nötigste, Köstlichste, wie sie wohl zuzeiten sagen, hätten sie den Erfinder dieser Kunst nicht steinigen müssen? Nein, er ist ein Gott und wird noch heute unter Christen so besungen.

736
[431]

SEHR viele tiefdenkende und auch edle Männer haben den Grund alles Intellektuellen und Moralischen in dem Menschen bloß in der Erziehung desselben gefunden und daraus geschlossen: daß nur sie die Sittlichkeit selbst, ihren Wert und den Gesichtspunkt derselben bestimme, aus welchem die moralische Welt, ihre Verhältnisse, unser Verhältnis zu ihr zu betrachten seien. Mancher superfizielle Kopf (vielleicht mit schlechtem Herzen), aber auch mancher geistvolle Skeptiker haben sich dieses Satzes bedient, um die Moralität im Menschen selbst verdächtig oder ganz zweifelhaft zu machen, da nach ihm unsre Laster und Tugenden oder das, was wir dafür halten, bloß von dem Zufalle abhingen, der unsre Begriffe bestimmt und unser Bewußtsein oder die Anerkennung dessen, was Pflicht sei, für immer nach ebendiesen mitgeteilten Begriffen belebt, ausgebildet oder verbildet hätte. Aber könnte man nicht ebensowohl sagen:[349] Beweist dieses nicht, der Mensch sei so sonderbar und ausgezeichnet ausgestattet worden, daß er alles aus sich selbst machen sollte und konnte, was er ist? Wäre dieses nicht, so würde ja die Erziehung aus jedem Individuum auf dem gesamten Erdrund immer nur dasselbe gemacht haben noch machen und er so allen andern Tieren der Erde gleichen, welche die Natur nur einer Notwendigkeit unterworfen hat? Nur allein daraus, daß dieser reiche, unermeßliche Stoff nach Abstufungen, von der rohsten bis zur geistigsten, zur Verarbeitung unter das Menschengeschlecht geworfen ward, konnte ein Schauspiel hervorspringen, das nur den Überkultivierten zu ängstigen und zu verwirren imstande ist, der sich auch durch eine moralisch erwiesene Notwendigkeit gern die Unverantwortlichkeit der Tiere erschleichen, ihr Schicksal auf Erden aber übrigens nicht gern teilen möchte. Des Spotts aber wär' ich selbst wert, wenn ich glaubte, einen Lichtstrahl in dieses undurchdringliche Dunkel werfen zu können; nur seinen Platz kann jeder darin finden, findet ihn sogar, sobald er sich durch das allein Mögliche aus dem Widersprechenden gerettet hat.

737
[350]

EBENDARUM, weil ein großer Name eine so schwere Last ist, die in dem Maße an Gewicht zunimmt, als sich der Ruf des Trägers derselben verbreitet, wendet noch mancher seine ganze Kraft an, die drückende Bürde zu tragen und die gefahrvolle Benennung recht zu verdienen. Hat er dieses nun eine Zeitlang im wahren Geiste getan, so fühlt nur er die Last nicht und schreitet zum Erstaunen des Neides selbst ganz leicht einher.

738
[315]

DIE deutschen Staatsbürger (ein großes Wort, und ich rede von den Reichslanden) sollten doch endlich dem Beispiel der frühern Christen folgen. Als diese nach dem vollen Siege über ihre[274] Unterdrücker selbst Staatsbürger werden, das heißt: einen Staat, ein Vaterland gründen, dessen Mitglieder, Regierer, Verteidiger und Erhalter heißen und sein wollten, so stieß sie wohl die politische Not darauf, ihre Mönchsmoral ein wenig mit heidnischen Tugenden zu rekruderen. Wir Deutschen haben nun wirklich der Mönchstugenden genug gezeigt, und es ist hohe Zeit, daß wir uns ein wenig nach jenen heidnischen umsehen, wenn wir ein Volk bleiben wollen. Vielleicht ist uns aber dieses gleichgültig, und wir sind zufrieden, daß wir davon schön geschriebene Bücher lesen können, während wir als politische Mönche so ruhig hinträumen, daß unsre Nachbarn noch immer auf die strenge Observanz der Hauptregeln rechnen können.

739
[275]

IN dem Sinne, wie der Grieche von den Göttern sagte: »Sie verkaufen uns jedes Glück und Vergnügen«, kann ein Mann echter Art zu den Mächtigen, Großen und Reichen sagen, die ihn sich durch Gefälligkeiten und Wohlwollen erkaufen wollen: »Ich kaufe da nicht ein, wo ich mit meinem Hauptstock bezahlen soll.«

740
[229]

DAS Gewaltigste, Stärkste, Unbezwinglichste ist der Schlag der Schuld an das Herz. Die Kraft des Kühnsten, Stärksten, Gesundesten erstarrt in diesem Augenblick, und der von ihm Getroffene sinkt vor dem unbestechlichen Richter nieder, weil er es[43] selbst ist. Dieses sind Blitze aus einer dunkeln, unsichtbaren Welt, gegen die allein keine Ableiter schützen, selbst die nicht, welche Philosophen erfinden, die den Menschen nur tierisch nehmen. Noch unerwarteter, plötzlicher überraschen sie den so Getäuschten und fahren noch glühender aus jener Finsternis, die der Wahn verdickt zu haben glaubt. Und wenn nun der Donner, den wir hören, die Blitze, die wir sehen, die physische Welt reinigen, würde die moralische ohne diese innern Gewitter, die wir nicht sehen, die der nur fühlt, der sie selbst in sich zusammengezogen hat, nicht schon längst ganz verpestet und ausgestorben sein?

741
[44]

WENN es wahr ist, daß die Weiber während der blutigen Auftritte der Französischen Revolution grausamer gewesen sind als die Männer, so könnte auch wohl der Grund dazu in dem Durst nach Herrschaft, dessen man dieses Geschlecht beschuldigt, liegen. Die von den Stärkern Unterjochten eilten, das zu mißbrauchen, was ihnen so plötzlich, unvermutet dargeboten ward, wovon ihnen der innere Instinkt oder das Bewußtsein sagte, daß[319] es doch nicht dauern könnte. Und nun noch gegen Männer! gegen die Gewaltigen! Was für dunkle, scheußliche, schreckliche Gefühle mögen in den Herzen dieser Furien gewütet haben! Und da sich wahrscheinlich der Geschlechtstrieb hineinmischte, wie beinah' in alles, was gewöhnliche Weiber Gutes und Böses tun, so ward ihnen hier die Grausamkeit Gefühl der Wollust. Ist es nun an dem, so wußte auch der, welcher die Mythe der Furien ersann und sie weiblich dichtete, was er tat.

742
[320]

DER Mensch kann alles aus sich machen, und man kann alles aus ihm machen – dieses scheint mir der Haupttext für den zu sein, der das kühne Werk unternimmt, eine Geschichte der Menschheit zu schreiben. Sein Zweck ist, zu zeigen, was, auf welchem Wege, durch welche Mittel der Mensch durch alle Stufen gewirkt und was er hervorgebracht hat. So schreibt er im Geiste des Universalgeschichtschreibers und reicht dem Leser nur Stoff zum Nachdenken und zu Betrachtungen über das Geschlecht dar, zu dem er gehört. Der Moralist mag zeigen, was der Mensch aus sich machen soll, er will dem wunderbaren Schauspiele eine feste Bestimmung geben, darf und muß es auch. Da nun bisher die sogenannten Geschichtschreiber der Menschheit in diesem Sinne die allerwidersprechendsten Fakta immer zu einem zweckmäßigen Ganzen verbunden und nur schöne, tröstende und schmeichelnde Ideale aufgestellt haben, so muß der ernste Denker noch immer diese Geschichte denen ablauern, die auf dem Erdenrund den unendlichen Stoff dazu hergegeben haben und noch hergeben. Je mehr er da Züge sammelt, desto mehr wird er sich von dem Satze überzeugen, von dem ich ausgegangen bin. Vielleicht auch, daß er einen Faden der Verknüpfung entdeckt; nur das Ende dieses Fadens wird sich immer mehr für ihn im fernen Dunkel verlieren, je eifriger und aufrichtiger er es zu fassen strebt. Aber man kann ihn rückwärts suchen und so den Ausgang durch dieses Labyrinth finden! Und wirklich: Für wen es hier einen Anfang gibt, der findet auch ein Ende, und für den sind eben die Geschichten der Menschheit geschrieben, womit man uns bisher beehrt hat. Der mag auch zu sich sagen: »Es gehörten natürlich Tausende von Jahren dazu, um ein so vortreffliches, hocherleuchtetes Geschöpf hervorzubringen, wie ich nun auf dem Grabe der Myriaden zu Staub gewordner roher Söhne der Erde stehe, die alle unter der Bemühung für mich hineingesunken sind, ohne zu wissen, was sie taten, für wen sie es taten. Aber ich fühle das hohe Bewußtsein und weiß, für wen sie gewirkt haben und warum sie geschaffen worden sind. Hab' ich mir all' das Denken, Erfinden, Wirken[254] der Geister derer, die den Staub unter meinen Füßen belebten, zum Eigentum gemacht, so dachten, erfanden und wirkten sie auch für mich! Bin ich nicht der, welcher ihre Bruchstücke vereinigt und ein schönes, edles, zweckmäßiges Ganzes daraus gebildet hat?« – Ich habe gegen diese Standrede, welche sich die Lebenden auf dem Grabe der vergangnen Geschlechter so gerne halten, nichts einzuwenden. Nur dem, welchen Stolz, Dünkel und eitles Hochgefühl so begeistern, möchte man zurufen: »Eitler Träumer! Auch wir sinken in dieses Grab und arbeiten nur an der Vermehrung des Stoffs zur ähnlichen Prahlerei für die, die auf uns folgen! Auch sie werden auf unsern Staub treten und sich und uns eine Standrede halten, in welcher nicht mehr Sinn liegt als in den Geschichten der Menschheit, mit denen man uns bisher in Schlaf gewiegt hat.«

743
[255]

DER Staatsdiener, von welchem Range er sei, auf welchem Posten er stehe, welcher ernsthaft und besorgt anfängt, sich seine Feinde und die Gründe ihrer Feindschaft vorzuzählen, ist auf dem Wege, mit seinen Pflichten abzurechnen und sich klüger einzurichten.

744


EIN Staatsdiener, der auf einem bedeutenden Posten steht und überall und durchaus seine Pflicht streng erfüllt, übt mehr Mut aus als die größten Helden der alten und neuen Zeiten. Diese[229] standen und stehen an der Spitze eines Heers gegen sichtbare Feinde, er kämpft allein gegen eine Armee, die ihn aus der Finsternis durch List und Ränke befehdet. Jeder Sieg, den ein solcher Mann erkämpft, vermehrt die Zahl seiner Feinde, da die Siege jener Helden die ihrigen vermindern. Könnte man nur die Feinde eines solchen Mannes, besonders in großen Reichen, auf einer Ebene beisammen sehen, so weiß ich nicht, ob die Scham, auch zu einem solchen Geschlecht zu gehören, die Bewunderung des Mannes, der allein und so seinen Feinden entgegen steht, verstattete; der erste bittre Augenblick müßte wenigstens durch die Betrachtung überwunden werden. – Hier stellte sich eine Satire von selbst dar, gegen die Swifts bitterste nur Spiel der Laune wäre.

745
[230]

UNSRE großen aufgeklärten Theologen – Eichhorn, Henke, Planck, Paulus usw. – sind nicht allein die Zierde, sie sind auch[434] die wahren Philosophen unsrer Zeit, und wenn Deutschland sich solcher Männer mit allem Recht gegen die Völker Europas rühmt, so mag es sich auch immer seiner neuen sogenannten Philosophen schämen, die gar zu gern die Zeiten der Crusiusse usw. wieder herbeiführen möchten. Man könnte beinahe sagen, sie strebten aus der von ihnen gemißbrauchten Wissenschaft das zu machen, was die ägyptischen Priester daraus machten: Geheimniskrämerei. Doch wenn wir uns auch wirklich in dieser Gefahr befänden, so rettet uns ihre eigne Eitelkeit, ihre Ruhm- und Zanksucht, ihr dringendes Bedürfnis, die sie gewaltsam antreiben, das kaum trocken gewordene Geschriebene sogleich in dicken Bänden allgemein bekannt zu machen. Viele von ihnen können schon nicht mehr den sechsmonatlichen Termin der Leipziger Messe abwarten und legen uns darum ihre Geheimnisse in monatlichen Journalen offen dar.

746
[435]

MEINEN Landsleuten, die es vergessen haben (Wohltaten muß man den Menschen ins Gedächtnis rufen; unter dem Genuß derselben vergessen sie ihren Urheber, wenn sie sich nicht selbst dazu machen), rufe ich aus weiter Ferne zu: »Was ihr seid, sein dürft oder was man euch zu sein erlauben muß – dankt ihr Luthern!«

747
[374]

VIELE und große deutsche Schriftsteller gräzisieren vielleicht nur darum, weil sie selbst nichts zu sein wissen. Was ist und wird man, wenn man sich zu etwas liest oder gelesen zu haben glaubt? Doch es ist nur eine Karikatur deutscher Art und Kunst; wir stellen sie in unschuldigen Gedichten und philosophischen Systemen auf, weil die politischen Karikaturen nicht wie in England freien Lauf haben und bei uns geahndet würden.

748
[483]

DER MINISTER: »Nun, was sagen Feind' und Freunde von mir in der Residenz?«

DER HAUSFREUND: »Ihre Freunde werden lässig im Lobe, die Zahl Ihrer Feinde scheint täglich abzunehmen, und die es noch zu sein scheinen, reden jetzt so glimpflich von Ihnen, daß man am Ende gar nichts Böses noch Gutes mehr von Ihnen reden wird.«

DER MINISTER: »Schweigen der Neid und der Haß? Nun, so lassen Sie schnell mein Haus auf dem Lande in Ordnung bringen; ich bin reif geworden!«

749
[194]

WENN der Regent Geist und Mut hat, rechtschaffene, biedere, dem Staat und ihm getreue Diener gegen Intrigen und Kabalen zu schützen und auf ihren Posten zu erhalten, so kann es ihm gelingen, nicht allein die Menschen an die Tugenden solcher Männer zu gewöhnen, er kann es am Ende noch gar so weit bringen, daß sie solche Männer und ihre Tugenden ertragen lernen.

750


WARUM mißfallen feste Tugend, strenge Gerechtigkeit und Pflichterfüllung so vielen oder den meisten Menschen an den Staatsbeamten?

Weil es Tugenden für das Allgemeine sind, die keiner fordert, der vor sie mit einer Bitte tritt. Was kümmert den einzelnen das Allgemeine? Das, was ihm nützt, das Besondere, braucht er nur und rechnet es dem zur Tugend an, der es ihm gewährt.

751
[195]

EINEM deutschen Gelehrten, der sich noch in der Wiege der griechischen und römischen Ideale schaukelt und uns aus alten und neuen Büchern die politische und moralische Herrlichkeit dieser Völker schwärmerisch vormalt, möchte man antworten: »Wahr ist es, die Menschen sind im allgemeinen und zu jeder Zeit – politisch und moralisch – ein erbärmliches Geschlecht gewesen, und an Schmeichlern, Lobrednern hat es ihnen darum nicht gefehlt, weil sie es sich einander selbst sind.«

752
[483]

ES ereignet sich wirklich zuweilen, daß der Egoist eine Tat begeht, die uneigennützig, ja wohl gar heroisch zu sein scheint; er rechnet aber dann mit der Zeit ab, in der er noch zu leben und zu genießen hofft.

753
[68]

WIE könnte sich ein Mann rechter Art bei den Mächtigen der Erde in Gunst erhalten, da sie ihn ganz und ohne allen Vorbehalt besitzen wollen! Sein Leib, seine Seele, sein Denken und Tun soll ihr Eigentum werden, er soll durchaus und immer treuer Freund – das heißt: zu allem bereiter, in alles einstimmender, alles vollziehender Diener – sein. Ein Gedanke, ein Grundsatz, rein und laut ausgesprochen – sei er auch noch gestern, vor einer Stunde dem Sinn des Hörers oder den Umständen gemäß gewesen –, macht auf der Stelle, wo nicht seine Treue, doch wenigstens seine warme Anhänglichkeit verdächtig. Man erfährt ja, daß der Mann noch andre Götter ehrt.

754


DER rechtschaffenste Mann, eifrig, stark und, wenn es not tut, auch kühn in Dienst und Pflicht, kann in einem Lande, worin der Regent mit edlem Geist und Mut auf das allgemeine Glück des Volks arbeitet, der also in der Mitwirkung zu diesem schönen Zweck seine höchste Glückseligkeit findet und in seinem[195] Regenten die seltne erhabene Erscheinung eines Genius der Menschheit sieht und verehrt – ein solcher Mann, sage ich, kann in einem solchen Lande von Leuten, die ich nicht zu nennen brauche, da sie sich durch ihr lautes Geschrei selbst ankündigen, als schlechter Bürger – heutzutage gar durch das Parade- und Schreckenswort Jakobiner – verleumdet werden. Wie soll man aber ebendiese Leute nennen, die die edelsten, für ihr und ihrer Kinder Bestes zweckmäßigsten Handlungen eines solchen Regenten hämisch tadeln und seinem Wirken alle möglichen Hindernisse in den Weg legen? Hier ist noch mehr als Hochverrat; doch ein solcher Regent ist gegen Toren und Böse ebendarum nachsichtig, weil er ein solcher Regent ist – und seine Getreuen handeln gegen ebendiese Menschen in dem Sinne des guten Genius, dessen Geist sie durchdrungen hat, durch den sie seiner würdig sind.

755
[196]

DIE Frage, ob der moralische Sinn uns angeboren sei, scheint mir mehr sonderbar als verwickelt. Man könnte ebensowohl fragen, ob uns unsre ersten moralischen Lehrmeister – die Selbstliebe und der Erhaltungstrieb – angeboren seien? Entspringen sie nicht mit dem Gefühl und dem Begriff der Gerechtigkeit aus dem ersten Unrecht, das wir leiden? Entsteht nun dieser Begriff aus Wirkungen auf uns, so entdeckt auch die Vernunft durch ihn alle andre[n] Tugenden. Die sinnlichen Eindrücke schließen also die moralische Welt auf, ihre Beziehungen, Verhältnisse legen sich unserm Geiste dar, das Bewußtsein des Entdeckten wird Gewissen, dessen Spur auch der Rohste nicht mehr austilgen kann. Darum leidet, fühlt und rächt auch das Tier die ihm geschehene Beleidigung nur physisch, und die moralische Rache ist des Menschen Vorrecht.

756
[56]

IM Unglück klammert sich auch wohl der Schlechteste an Religion und Moral an. Er will uns dann glauben machen, er gehöre ihnen an, habe sein Schicksal nicht so verdient, wie es ihn getroffen. Darum zeigen wir auch nur im Glück recht aufrichtig, wie wir es mit beiden meinen.

757
[338]

WENN wir in der alten Geschichte von dem plötzlichen gewaltsamen Falle, der Auflösung ganzer Reiche lesen, so drängt sich uns ebendasjenige düstre Gefühl über Vergangenheit auf, das uns bei schrecklichen, zerstörenden Naturerscheinungen erschüttert. Wenigstens denken wir doch dabei an eine rohe Gewalt, welcher das wohlgeordnete Reich so wenig widerstehen konnte als die bebaute Erde, die blühende Insel dem mächtigen Erdbeben. Auch wir waren Zeugen der Auflösung, des Falls ganzer Reiche, aber unsre heutige Kultur bewahrt uns vor solchen düstern Empfindungen, in denen noch etwas Erhabenes liegt – sie reizen nur zu einem stillen oder bittern Hohnlächeln; wir kennen ja alle die elenden, erbärmlichen Mittel, wodurch das Gewaltsame, das Schreckliche, das Große selbst hervorgebracht und wie ebendas Große durch solche Mittel zerstört worden ist.

758


KEINER empfindet mehr, welchen Einfluß große Staaten auf unsern Geist, unser Herz oder unsre Denkungsart, auf unsern moralischen Charakter haben, als der, welcher in einer wohlgeordneten, weise und verständig regierten kleinen Republik geboren und erzogen worden ist und dann in einem großen Staate lange genug gelebt hat, um das recht zu kennen, was ihm eigen ist, notwendig eigen sein muß. Er bringt eine völlige politische Unschuld dahin, mit der nun alles kontrastiert, was er sieht, hört und erfährt. Aber ist er ein Mann im rechten Sinne, so wird er die Ursachen geschwind entdecken, warum es in einem großen[175] Reiche anders hergeht als in dem beschränkten Kreise, worin er sich bisher bewegt hat, auch wird er sich dann auf dieser größern Weltbühne leicht und geschwind orientieren und in ebendiesem Sinne tätig darauf handeln. Bringt er nicht ein moralisches Maß mit, auf dem weder die Politik noch ihr Gefolge die Grade eingeschnitten haben, so können sich in einem solchen Manne zwei der entgegengesetztesten Dinge vereinigen: ein Kopf voll Welterfahrung, wie er sich in einem großen Staate ausbildet, und ein Herz, das die beschränkten Grenzen, die ihm frühere politische Unschuld durch die Erziehung und erste Erfahrung vorgezeichnet haben, nicht übersprungen hat. Aber gibt es kleine, wohlgeordnete Republiken in unsern aufgeklärten Zeiten, wo noch eine solche politische Unschuld möglich ist? Ich möchte eine nennen, wär' es nicht meine Vaterstadt, wenigstens war bisher der Magistrat derselben immer der Verfassung wert, die ihm die Bürger anvertraut haben. Dieses ist viel gesagt, aber wahr, und das Wunder wird um so begreiflicher, wenn wir jetzt den Regenten eines großen Staats nennen können, der die Geistesgröße, den Mut und die hohen, erhabnen Tugenden besitzt, zum Glück und zur Ehre seines Volks eine Staatsverfassung zu erschaffen, die seiner und dieses Volks würdig sei.

759
[176]

MAN beschuldigt offene, kühne, biedre, energische Männer eines gewissen Zynismus im Ausdruck und Betragen, und viele von ihnen haben diesen Fehler. Bedürften sie aber einer Verteidigung, so könnte man etwa sagen: Es sind Männer, die sich eines gegründeten Werts und innern Eigentums bewußt sind, die die Tugend des Mannes eben dahinein setzen, worin sie besteht, die Kleinigkeiten für Kleinigkeiten, Schein für Schein halten und mit keiner Affektation Wucher treiben wollen, da sie die wahre Sache selbst besitzen. Schwächliche, zarte, ängstliche, eitle, furchtsame, auch sogenannte feine und schöne Seelen, die sich eben wegen dieser Zartheit, Feinheit vorzüglich lieben und bewundern und ebensogern von andern so geliebt und bewundert sehen, haben sich, da sie gar nichts Eignes und Wahres besitzen und erwerben können, zur Schadloshaltung in der Delikatesse des Ausdrucks und Betragens in der verfeinerten gesellschaftlichen Sittlichkeit eine Schein- und Paradetugend geschaffen, die sie in ihrer Selbstgefälligkeit beinahe – wohl auch ganz – für die einzige, wahre höhere Veredlung des Menschen halten und durch[299] die man sich nach ihrer Meinung allein über die rohe Menge erhebt. Diese Tugend soll sehr glücklich machen, da der Wind der Eitelkeit, der Selbstgefälligkeit, der Überschätzung ihre Erzeuger und Erhalter sind; aber da sie etwas durch Übereinkunft Gemachtes ist, von dieser vorzüglich unterstützt wird, so hat sie auch alle die Gebrechen (die Intoleranz an der Spitze), die den Dingen anhängen, welche die Menschen durch Meinungen und Vertrag zum Behuf des Glaubens erschaffen haben und was sie so gern vorzugsweise Tugend nennen. Übrigens ist wahrscheinlich die Einbildungskraft jener Zyniker reiner als dieser so zarten, feinen, schönen Seelen, und wenn die letzten die ersten nicht vertragen können, so hat sich doch das fein gebildete und mit ihrer Farbe geschmückte Laster nicht über sie zu beklagen.

760
[300]

EIN recht bedeutender, glücklicher oder glücklichscheinender Mann braucht nur unglücklich und unbedeutend zu werden, um das Publikum mit sich, seinen Tugenden und Fehlern, sogar mit seinen Lastern auszusöhnen. Ein Beweis, daß Neid und Haß sich mehr mit dem Manne als mit der Sache, welche ihm vertraut war, beschäftigen. Es ereignet sich sogar, daß ebender Mann von denen, die ihn haßten und verabscheuten, verteidigt wird, wenn der Fürst ihn wegen begangener Verbrechen vor Gericht zieht. Man fürchtet ihn nicht mehr, hält ihn nicht mehr für glücklich – er ist unbedeutend.

761
[219]

STEHT ein prächtiges Landschloß in Flammen oder wird der Bewohner desselben nebst seinen Angehörigen von Räubern ermordet, so quaken doch die Frösche im Teiche, die Vögel singen in den Gebüschen, oder die Eulen und Uhus heulen in der Ferne dazu, nachdem es an der Zeit des Tages ist. Dieses ist der griechische Chor in der neuen deutschen Tragödie.

762
[475]

DAS Verdauen verursacht meistens dem Reichen ein peinlicheres Gefühl als dem fleißigen Armen die Arbeit, womit er das zum Verdauen Gehörige für sich und seine Familie erwirbt.

763
[72]

ZUM Heil der Gesellschaft, die wir nun einmal vorstellen sollen und müssen, ist es wenigstens sehr zweckmäßig, daß wir die Menschen- und Weltkenntnis, die helle richtige Ansicht der moralischen und politischen Erscheinungen und Beziehungen, den festen weiten Blick, das Ganze zu umfassen und den rechten Standpunkt auf der Erde zur Erde zu durchschauen, nicht durch Bücher und auf Schulen wie andre Wissenschaften, sondern durch lange Erfahrung, Beobachtung, Aufmerksamkeit, durch Gewinn und Verlust erwerben können. Auf dem langsamen, beschwerlichen Wege zu diesen späten Kenntnissen verliert sich gar vieles in uns, das ihr und uns selbst gefährlich werden könnte. Das Gute, was der einzelne zusetzt, wuchert für das Ganze. Der Edle lernt sich auf diesem traurigen Wege endlich orientieren, und der zu Kühne, der Verwegne, Vermessene, der Böse selbst muß mit uns und seinen Leidenschaften politisch rechnen lernen, wenn er sich nicht früher an den Grenzen, welche die Gesetze aufgestellt haben, das Haupt zerstößt. Wenigstens läßt[288] er auf seinem gefährlichen Wege, auf dem er zu seiner Erfahrung läuft, Zeichen der Warnung für die Zuschauer zurück.

764
[289]

DIE schönste Weisheit selbst wird in dem Munde eines erfahrnen Alten lästig, wenn er bei seinen Sprüchen, Ermahnungen und Urteilen vergißt, wievielen Anteil sein Alter daran hat.

765
[310]

NIE hat man mehr Gelegenheit, das ganze Heer von Vorurteilen, die Verblendung, den Blödsinn, die Torheit, den Wahn, die Dummheit und Bosheit, die Selbstsucht, den Hochmut und Stolz, kurz alles Schlechte und das Allerschlechteste in dem Menschen kennenzulernen, als wenn man in einem Staate lebt, den der Regent, sei es auch durch die weisesten, menschlichsten und schonendsten Mittel, durch Erziehung, Bildung, verbesserte Industrie, weise Gesetze zu verjüngen – das heißt: seine moralische und politische Kraft zum Glück des Ganzen zu entwickeln strebt. Ich rede hier nicht vom Volke, das Wohltaten ebenso gut erkennt, als es selbiger bedarf, und ich würde ein zu schwarzes Gemälde entwerfen, wenn ich die Gründe gewisser Leute dagegen aufstellte. In dieser Lage nun tröstet den denkenden und fühlenden Mann nichts als der Blick auf ebendiesen Regenten, der reines Geistes und Herzens, des schwarzen Undanks nicht achtend und nur der Zukunft eingedenk mutig und weise das Erhabenste leistet, was Menschen an einen Menschen fordern können.

766
[141]

MÄNNER, die gern die dunkle Leitung der Menschen andern erklären möchten, sagen auch wohl, wenn sie von der Vorsehung reden: sie sehe nur auf das Ganze, kümmere sich nicht um das Kleine, es möge auch dem einzelnen ergehen, wie es wolle, wenn nur der Hauptzweck erreicht würde. So ketzerisch nun dieser Satz manchem im moralischen und religiösen Sinne auch scheinen mag, so könnte er doch, von Regenten und Staatsleuten angenommen und ausgeführt, Wunder tun, vorausgesetzt, sie machten sich nicht selbst als das vorzüglich Einzelne zum Hauptzweck dieser Vorsehung.

767
[142]

DAS Widernatürliche und Gewaltsame unsers Zustandes in der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich nirgends stärker als in der Unterjochung des Geschlechtstriebes, die uns religiöse und politische Gesetze auflegen und aus Wahn und noch mehr aus Not zur Tugend machen mußten. Wenn diese Tugend eine besondre, vorzügliche Auszeichnung unsrer Religion ist, so ist sie auch diejenige Gewalt, die wir am stärksten fühlen, der wir uns mit Gefahr der wichtigsten gesellschaftlichen Vorteile entgegensetzen und die so oft schon in den frühsten Jahren in dem Herzen des Kühnen, Kräftigen den Samen zur Feindschaft gegen ebendiese Gesellschaft legt. Ich wage zu sagen, daß aus diesem der Gesellschaft, wie sie ist, so nötigen Zwange der größte Teil der Torheiten, Schwärmereien, Tollheiten, Zerrüttungen in den Familien und selbst der sich besonders auszeichnenden und empörenden Verbrechen entsteht. Und wenn das volle Erwachen dieses Triebes Tugenden, Talente und Genie erzeugt, erhöht und beflügelt, so gibt ihnen auch die gewaltsame Unterdrückung desselben sehr oft eine düstre, falsche, gefährliche Richtung. So rächt sich die Natur an der Gesellschaft durch ihre Opfer, und diese muß hier um ihrer Ruhe und Erhaltung oder des durch Religion und Gesetz einmal angenommenen Geistes willen den Verlust und Schaden tragen oder das abbüßen, was sie an der Natur verschuldet hat oder verschulden mußte. Die Schädlichsten und Gefährlichsten aber für sich selbst und diese Gesellschaft werden meistens diejenigen, die den Mut und die Kraft nicht haben, dieses Joch abzuschütteln, und die Forderung der Natur durch Mittel befriedigen, die das Gehirn vertrocknen, die Nerven schwächen und jene trockne, heiße, krampfhafte Spannung der Schwäche hervorbringen, die man hypochondrischen Zustand nennt. Belege zu diesem kann man in der Liste der fanatischen, schwärmerischen, enthusiastischen Toren und Verbrecher finden, von welcher Art sie auch sein mögen. Hier spielt der unterdrückte oder so befriedigte Geschlechtstrieb immer die Hauptrolle, verschlingt oder umwölkt den Willen.

768
[94]

DIE französischen Denkschriften (mémoires) sind eine so reizende als unterhaltende Lektüre, aber der Deutsche muß sich hüten, sie zu seiner eignen und seines Volks Beurteilung für eine Schule der Menschenkenntnis unbedingt zu nehmen. Was sie auch im einzelnen sein mögen, im ganzen, im allgemeinen dienen sie doch nur zum Maßstabe und zur Kenntnis der Franzosen, und der deutsche Leser, der sie für allgemein geltend annimmt, verpfuscht nicht allein seine eigne Moralität, er tut auch seinen Landsleuten unrecht, wenn er sie darnach beurteilt.

769
[476]

IN der Jugend sind Feenmärchen, Romane, Dichter unsre Lieblingslektüre; im männlichen Alter liest man Geschichte, Moral, Philosophie, in den Jahren der Reife Reisebeschreibungen. So geht es von dem Idealischen bis zur gröbsten Wirklichkeit herunter. Fügen wir nun die Menschenkenntnis aus den Reisebeschreibungen zu unsrer durch das praktische Leben erworbenen, so läßt sich leicht denken, mit welchen Gedanken und Empfindungen mancher Greis in das Grab wandert.

770
[289]

DIE Menschen fürchten sich vor nichts mehr als vor ihresgleichen. So wahr, aufrichtig und naiv nun auch dieses Kompliment ist, das sie hier einander machen, so logisch richtig ist auch der Schluß, den sie zugleich instinktmäßig daraus ziehen. Nach dem Grade dieser Furcht ließe sich wohl auch der moralische Wert gar vieler bestimmen. Wenn ich daher einen wohlgebildeten Knaben sehe, dessen offne Stirne, heller Blick Geist und Mut versprechen, so weiß ich ihm nichts Bessers zu wünschen als: »Gott bewahre dich vor Menschenfurcht!«

771


DER Mensch ist nie natürlich-beredter, als wenn er von sich selbst spricht; nur dann wird seine Beredsamkeit Werk der Kunst, wenn er über sich spricht oder sprechen muß. Nichts ist natürlicher. Im ersten Fall will er nur andre täuschen, im zweiten muß er während des Redens sich selbst oder seinen innern Beobachter täuschen und so bezwingen, daß er ihn durch das Äußere nicht verrate.

772
[35]

KÖNNTE man recht aufrichtige Gespräche zwischen Herz und Verstand des Menschen belauern oder, ebenso aufrichtig niedergeschrieben, lesen, so würde man zwar sehen, daß das erste oft ein Tor und Schwächling, der andere aber noch öfter etwas viel Schlimmeres gewesen sei.

773
[295]

DAS Volk faßt die abstrakte Idee von Staat nur dann auf, interessiert sich für dessen Heil, Ruhm und Ehre und gründet sein eignes Heil, seinen Ruhm und seine Ehre nur dann darauf, wenn der Regent durch seine Regierung den Staat der Teilnahme recht wert und würdig macht. Da dieses das offenbarste aller Geheimnisse ist, so ist es wirklich zu verwundern, daß man nicht überall und immer Gebrauch davon macht; aber noch mehr ist es zu verwundern, wenn man bei dem Nichtgebrauch dieses Geheimnisses über die Kälte, Gleichgültigkeit oder das unpatriotische Benehmen des Volks klagt. Wer an der Wahrheit dieser Äußerung zweifelt, dem wünsche ich, wenn er das Unglück hat, unter einer trägen, schlechten Regierung zu leben, er möge bald das Glück erleben, daß ein weiser, edler Mann diesem nachfolge; die politische und moralische Auferstehung, von der ich rede, sieht er dann gewiß.

774


WENN die Glücksjäger den Großen und Mächtigen niederträchtig schmeicheln und dienen, so sind die Kleinen, Geringen ihr Zweck. Könnte es ihnen gelingen, wenn die Großen und Mächtigen in ihrer Täuschung daran dächten, daß sie nur Mittel zum Zweck dieser Elenden sind?

775
[142]

MAN sieht in reifern Jahren die Romane voll hohen Gefühls, erhabner Gesinnungen, hochedler Charaktere, schwärmerischer Tugend mit Kälte oder gar Verachtung an und findet es[488] unbegreiflich, wie junge Leute solche unwahrscheinliche Träumereien lesen und bewundern können. Noch unbegreiflicher findet es mancher, wie er das selbst einst tun konnte. Aber der reife Mann, der dem Grunde dieser Kälte oder Verachtung ehrlich nachsinnt, wird bei dieser Veranlassung Entdeckungen über sich und die Welt machen, die ihm seine Kälte oder Verachtung bis zu seinem Verdruß erklären werden. Vielleicht entdeckt er gar, daß die Tugend selbst etwas Romantisches ist, und hält er nun dieses für Wahrheit, so untersuche er ernsthaft, wie, auf welchem Wege er um diesen romantischen Sinn gekommen ist; wahrscheinlich wird seine letzte Entdeckung dann mehr zu seinem Nachteil als zum Nachteil des romantischen Sinns ausfallen.

776


AUF dem großen Weltmarkte muß freilich alles Große, Edle, Kühne und Heroische romantisch scheinen; aber man bedenke doch, was für ein scheußliches Schauspiel dieser Markt darstellen würde, wenn es nie aufträte.

777
[489]

DER kultivierte Mensch sieht mit Stolz auf die Kluft, die ihn von den Tieren der Erde trennt. Aber mit welchem Gefühl sollte er auf den geistigen, moralischen und politischen, von den Menschen selbst geschaffenen Unterschied sehen, der den Menschen mehr von dem Menschen als die Menschen von den Tieren trennt; der sie so voneinander scheidet und reißt, daß man kaum einen allgemeinen Schöpfer und Vater des gesamten Geschlechts in der kultivierten Gesellschaft erkennen kann; man müßte sich denn wegen der Verwandtschaft oder des allgemeinen Ursprungs mit Hilfe des Glaubens an das künftige Leben halten, eines Glaubens, den man noch so gefällig ist, aufrechtzuerhalten; aber man sollte sich auch desselben mehr in dem Verkehr des Lebens erinnern. Dann würde auch die Notwendigkeit dieser künstlichen Abstufung dem Letzten begreiflicher und erträglicher werden.

778
[90]

ES gibt außer den vielen großen Qualen, welche doch den Menschenverderber und Geisterunterdrücker martern, eine der peinlichsten, an die man kaum denkt und an die ich darum hier erinnern will: wenn nämlich ein benachbarter Regent aus hohem moralischem Gefühl und aus Achtung für Menschenwert mit aller Kraft seines Geistes und Herzens strebt, sein Volk zu veredeln und der echten, gesetzlichen, bürgerlichen Freiheit durch Aufklärung und Geistesentwicklung würdig zu machen. Und trieben auch erstere die dicke Finsternis des Mittelalters zusammen, so können sie doch nicht hindern, daß die Menschen, mit denen sie dieses versuchen, nicht nach dem Lichte blickten, nach welchem sie seufzen – und leuchtete es auch im fernen Norden.

779
[143]

DER einzelne Mensch kann für seinesgleichen ein erfreulicher, angenehmer, entzückender Gegenstand sein; aber um so etwas Ähnliches beim Überblick des ganzen Geschlechts zu fühlen, müßte man ein Gott sein, es geschaffen haben, den Zweck desselben wissen, die sonderbaren Mittel dazu begreifen und auch ausgleichen können.

780
[90]

DAS Herz des Deutschen hebt sich beim Lesen des Buchs von Villers über unsern großen Luther; und aus dem Einfluß Deutschlands auf einen Mann und Denker wie Villers erkennt man des Vaterlandes wahren Geist, den Geist seiner Literatur. Auch aus der Vorrede zu dem Buche zeigt sich der Deutsche zu seiner Ehre. Wie edel haben sich nicht einige unsrer besten Köpfe gegen ihn benommen! Da nun unser Vaterland einen solchen Einfluß auf einen wackern Mann, einen Franzosen, hat, was für erbärmliche Menschen müssen die sogenannten neuen Philosophen und poetischen Poeten unter uns sein, die auf deutschem Boden, in deutscher Sprache ebendiese Reformation verlästern, und das aus dem elenden, niederträchtigen Bewegungsgrunde, weil die Deutschen durch diese Reformation ihrem tollen Unsinn, ihrem düstern Aberglauben, ihren mystischen Schwärmereien (einer scheußlichen Mischung von Katholizismus und Atheismus oder Aberglauben und Unglauben) entgangen sind.

781
[489]

WIE kühne, starke Geister größer und mächtiger, als sie es im vollsten Rausch der Ehre und Herrschsucht träumen konnten, durch die Schwäche und Erbärmlichkeit anderer werden, wird wohl heute kein Verständiger fragen, da es sich der Pöbel selbst beantworten kann.

782
[220]

ES gibt Leute, welche sich darüber wundern, daß ein so elender Schwärmer wie Doktor Jung in unsern Tagen eine so unsinnige Sekte zusammentollen kann, wie wir sie in der Schweiz und einigen Teilen Deutschlands rasen sehen. Diese Leute bedenken nicht, daß unsere Tage zu solchem Unsinn recht gemacht sind, daß das Volk, gebildet wie es ist durch die Politiker und die Klerisei, eben in unsern Tagen einen Ausweg suchen mußte, um noch an Gott und seine Vorsehung, nach allen Erscheinungen und Erschütterungen, unter denen es gelitten, glauben zu können. Denn entweder mußten sie glauben, der Gott, den sie anbeten, sei nicht, kümmere sich wenigstens nicht um seine Gläubige[n]; oder sie mußten, gedrängt durch die gewaltigen Umwälzungen und Erscheinungen, ihre in den Schulen und Kirchen aufgefaßten Lehren nach diesen Umwälzungen modeln und endlich, um an Gott zu glauben, dafür halten, diejenigen, welchen alles gelang, seien seine Werkzeuge, und ihnen habe seine Vorsehung alles vorbereitet. Welches nun das Bessere für die Welt sei – dieser Unsinn oder völliger Unglaube –, darüber mögen die Menschenführer entscheiden.4 Ehemals rechtfertigten Regenten, Staatsleute und die Klerisei all ihr Tun und Wirken durch diese Lehren[374] und zeigten gern bei Erscheinungen, die sie in der politischen und religiösen Welt bewirkten, auf diesen Gott und seine Vorsehung. Jetzt sind freilich gewaltigere menschliche Arme sicht – und fühlbar; aber dazu sucht eben das erstaunte Volk einen Leiter, Beweger. Es ist demnach ganz natürlich, daß es ihn da sucht, wohin man es immer hinverwiesen hat; und man wundert sich jetzt, daß es dieses nach seiner Art, nach seiner religiösen Bildung tut? Verfolgung allein könnte diesen Unsinn gefährlich machen; aber was wäre auch heute gefährlich? Wir leben ja in so glücklichen Zeiten, daß weder politische noch religiöse Schwärmerei etwas vermögen.

783
[375]

MÄNNER von Geist, Kraft und Herz sterben schon vor ihrem wirklichen Tod der Welt und ihren Bewohnern ab, weil es für sie unmöglich ist, sich über die Welt und ihre Bewohner bis an den wirklichen Tod zu täuschen. Es war wohl immer so; und die Ereignisse, deren Zeugen wir waren und noch sind, scheinen mir nicht geeignet, Leute dieser Art vor einem so frühen Verblühen zu bewahren. Dieses frühere oder spätere Absterben hängt von dem Grade des Enthusiasmus ab, der diese Edlen[9] beseelt; aber endlich verschwindet auch dem Edelsten die Hoffnung und der Glaube; und selbst der, welcher sich selbst am getreusten geblieben, der am längsten ausgehalten und bis ans Ende gekämpft hat, stirbt mit gebrochenem Herzen und verhülltem Geiste. Der Kühne, Starke verläßt gewöhnlich im Gefühl des Unwillens, des Ingrimms eine Welt, die er so lange in seinem Herzen trug. Der, dem es endlich durch seinen Verstand gelungen, das Herz zum Schweigen zu bringen, seinen Kummer durch Witz, Spott und Lachen zu verjagen, lebt und stirbt mit Sarkasmen über sich selbst und über höhere Gegenstände als die Welt und ihre Bewohner. Ist dieses nun wahr, so sterben nur diejenigen ruhig und gleichgültig über das Schicksal ihrer Mitbrüder, die sich selbst gelebt haben.

784


Fußnoten

1 Vgl. Nr. 3


2 Nach Lesung der vortrefflichen Geschichten des Protestantismus und Katholizismus Plancks halt' ich ihn in Deutschland allein für den Mann zu einem solchen Unternehmen. Welches Aufsehen würden seine Geschichten in Europa gemacht haben, wären sie englisch oder französisch geschrieben worden.


3 Als ich die Funfzig niederschrieb, zählte dieser nie alternde, immer blühende Dämon siebenundsechzig, wie ich nachher erfuhr, und da ich also in meinem Irrtum nur nach den gewöhnlichen und schon mehr als gewöhnlichen Zeugungskräften des menschlichen Geistes rechnete, so macht nun mein belehrter Irrtum das Wunder erst recht zum Wunder.


4 Sind die Völker Europas seit sechzehn Jahren durch ihren Glauben an Gott und die Erscheinungen in seiner Welt nicht gewaltig in die Enge getrieben worden? Schien die Vorsehung nicht alle diese Erscheinungen gegen die sich Widersetzenden zu begünstigen? Wenn die Verständigen in den sich Widersetzenden die Ursache finden, konnte das nur in Schulen und Kirchen gebildete Volk mit ihnen das Geheimnis durchblicken? Auch der Rohste wirft eine Frage auf, wenn alles um ihn her zerfällt und erliegt; und da der Verständige sich hütet, ihm zu antworten, so fällt die Antwort nach den Begriffen des Haufens aus. Daß ich mit Obigem dem gefährlichen und törichten Schwärmer Jung nicht das Wort reden will, glaubt man mir wohl.


Quelle:
Friedrich Maximilian Klinger: Betrachtungen und Gedanken, Berlin 1958.
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