Der Bauer und die Schlange

[116] Ein Bauersmann, von dem Äsop erzählt,

War zwar nicht sonderlich gescheit,

Doch, sah er irgendwen in Not und Leid,

War er von tiefstem Mitgefühl beseelt.

Ein böser Winter war im Land,

Als dieser Mann einst durch die Äcker schritt

Und auf dem Schneefeld eine Schlange fand.

Er nahm die Halberstarrte mit,

Erwärmte sie in seiner Hand

Und trug die Arme dann voll Güte

Im Mantel heim an seinen warmen Herd,

Wo er sich lange um sie mühte,

Doch wenig fragte, ob das Tier der Mühe wert.

Und endlich ist die Schlange neubelebt!

Kaum aber fühlt sie Wärme durch den Körper rinnen,

Als sie voll Bosheit ihren Kopf erhebt

Und ohne viel Besinnen

Mit bösem Zischen ihre Wut bekundet.

Nun biegt sie sich zurück und schnellt sich dann empor,

Um ihren Retter zu verderben;

Doch dieser ruft, im Herzen tief verwundet:

»Du Undankbare, du mußt sterben!«

Und in gerechtem Zorn holt er sein Beil hervor,

Zerhackt das Vieh und macht aus einer Schlange drei:

Den Kopf, den Rumpf, den Schwanz.

Die Schlange wäre gerne wieder ganz;

Jedoch, sie war und blieb entzwei,

Und mit dem Leben war's vorbei.[117]

Wohl ist Barmherzigkeit ein schöner Zug,

Doch übe sie bedacht und klug.

Den Undankbaren aber wird es schlecht ergehen,

So wie es hier dem Schlangenvieh geschehen.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 116-118.
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