Zweites Kapitel

[265] Was nach seinem Abzug aus dem Schloß von Leyva aus Gil Blas wurde, und von den glücklichen Folgen des schlimmen Ergebnisses seiner Liebe


Ich ritt ein gutes Pferd, das mir gehörte, und ich nahm in meinem Felleisen zweihundert Pistolen mit, deren größerer Teil von den getöteten Banditen und den Samuel Simon gestohlenen Dukaten stammte; denn Don Alphonso hatte mir meinen Anteil nicht abverlangt und die ganze Summe von seinem Gelde wiedererstattet. So sah ich also meinen Besitz als rechtmäßig an und benutzte ihn ohne Bedenken. Abgesehn von dem Zutrauen, das man in jenem Alter stets in sich setzt, verfügte ich über eine Summe, die keine Sorge um die Zukunft aufkommen ließ. Übrigens bot mir Toledo eine angenehme Zuflucht. Ich zweifelte nicht, daß der Graf von Polan sich ein Vergnügen daraus machen würde, einen seiner Befreier aufzunehmen und ihm in seinem Hause Unterkunft zu bieten. Aber ich sah diesen Edelmann nur als einen Notbehelf an, und ich beschloß, ehe ich mich an ihn wendete, einen Teil meines Geldes auf Reisen in den Königreichen Murcia und Granada auszugeben. Ich schlug also die Straße nach Almansa ein, von wo aus ich von Stadt zu Stadt weiterreiste, bis ich schließlich nach Granada kam. Kein schlimmes Abenteuer stieß mir zu. Es war, als wollte das Schicksal mir nach so viel argen Streichen Ruhe gönnen. Aber es ist verräterisch, und wie man in der Folge sehen wird, hielt es noch manche andre für mich bereit.

Einer der ersten Menschen, denen ich in Granadas Straßen begegnete, war der Herr Don Fernando de Leyva, wie Don Alphonso des Grafen von Polan Schwiegersohn. Wir waren[265] beide gleich erstaunt über diese Begegnung. Wie! Gil Blas, rief er aus, Ihr in dieser Stadt? Was führt Euch her? Gnädiger Herr, sagte ich, wenn Ihr erstaunt seid, mich hier zu sehn, so werdet Ihr es noch mehr sein, wenn Ihr erfahrt, weshalb ich den Dienst Don Cesars und seines Sohnes verlassen habe. Und ich erzählte ihm alles, was zwischen Sephora und mir vorgefallen war. Er lachte aus vollem Halse darüber; dann wurde er wieder ernst und sagte: Mein Freund, ich biete Euch meine Vermittlung in dieser Sache an. Ich werde an meine Schwägerin schreiben ... Nein, nein, gnädiger Herr, unterbrach ich, schreibt ihr nicht, ich bitte Euch. Ich habe das Schloß von Leyva nicht verlassen, um dorthin zurückzukehren. Macht, wenn Ihr wollt, einen andern Gebrauch von Eurer Güte. Wenn einer Eurer Freunde einen Sekretär oder einen Verwalter braucht, so beschwöre ich Euch, sprecht zu meinen Gunsten mit ihm. Ich wage Euch zu versichern, daß er Euch nicht vorwerfen soll, Ihr hättet ihm ein schlechtes Subjekt empfohlen. Gern, sagte er; ich werde tun, was Ihr wünscht. Ich bin nach Granada gekommen, um eine alte kranke Tante zu besuchen; ich bleibe noch drei Wochen hier, um dann nach Lorqui, auf mein Schloß, zu gehn, wo ich Julia gelassen habe. Ich wohne in diesem Hause, fuhr er fort, indem er mir ein Gebäude hundert Meter vor uns zeigte. Sucht mich in einigen Tagen auf; vielleicht habe ich dann eine passende Stelle für Euch ausfindig gemacht.

Wirklich sagte er mir, als wir uns das erste Mal wiedersahen: Der Herr Erzbischof von Granada, ein Verwandter und Freund von mir, möchte einen Mann von Kenntnissen und mit einer guten Handschrift um sich haben, der seine Schriften ins reine schreiben soll; denn er ist ein großer Schriftsteller. Er hat ich weiß nicht wieviel Predigten verfaßt, und er schreibt täglich noch neue, die er unter großem Beifall vorträgt. Da ich Euch für geeignet halte, so habe ich Euch vorgeschlagen, und er hat mir versprochen, Euch zu nehmen.[266] Stellt Euch ihm vor und beruft Euch auf mich; Ihr werdet nach seinem Empfang beurteilen, ob ich ihm vorteilhaft von Euch gesprochen habe.

Die Stellung schien mir so, wie ich sie mir nur wünschen konnte. Nachdem ich mich also nach Kräften geputzt hatte, um vor dem Prälaten zu erscheinen, begab ich mich eines Morgens in den erzbischöflichen Palast. Wenn ich den Romandichtern nacheiferte, so würde ich von dem Palast eine pomphafte Schilderung entwerfen; ich würde mich über den Bau verbreiten, würde den Reichtum der Möbel rühmen, würde von den Statuen und Bildern reden, würde dem Leser nicht die geringste der dargestellten Historien ersparen; aber ich will nur so viel sagen, daß er an Pracht dem Schloß unsrer Könige gleichkam.

Ich fand in den Räumen ein Volk von Geistlichen und Weltleuten vor, deren größerer Teil im Dienst Seiner Hochwürden stand: es waren seine Almosenpfleger, Kämmerer, Knappen und Kammerdiener. Die Lakeien trugen alle prunkvolle Kleider; man hätte sie eher für Herren halten können als für Diener. Sie waren hochmütig und spielten die bedeutenden Leute. Ich konnte mich nicht enthalten zu lachen, als ich sie ansah, und ich machte mich im stillen über sie lustig. Bei Gott! sagte ich, diese Leute sind glücklich, sie tragen das Joch der Knechtschaft, ohne es zu fühlen; denn wenn sie es fühlten, scheint mir, würden sie weniger hoffärtig sein. Ich wandte mich an eine würdevolle Persönlichkeit, die an der Tür zum Arbeitszimmer des Erzbischofs stand, um sie zu öffnen und zu schließen, wenn es not tat. Ich fragte ihn höflich, ob es möglich sei, Seine Hochwürden zu sprechen. Wartet nur, sagte er trocken, Seine Gnaden werden gleich in die Messe gehn und Euch im Vorbeigehn einen Augenblick Audienz gewähren. Ich erwiderte kein Wort; ich wappnete mich mit Geduld und ließ mir einfallen, mit einigen der Bediensteten eine Unterhaltung anknüpfen zu wollen; aber sie[267] maßen mich von Kopf bis zu Fuß mit einem Blick, ohne mir auch nur eine Silbe zu antworten; dann sahen sie einander an und lächelten über die Freiheit, die ich mir genommen hatte.

Ich gestehe, ich war betroffen, mich von Dienern so behandelt zu sehn. Ich hatte mich kaum von meiner Verwirrung erholt, als die Tür des Salons sich auftat. Der Erzbischof erschien. Sofort entstand unter seinen Bediensteten, die ihre unverschämte Haltung aufgaben und vor ihrem Herrn eine ehrerbietige annahmen, tiefste Stille. Der Prälat stand in seinem neunundsechzigsten Jahr, und er war etwa wie mein Onkel, der Domherr Gil Perez, gebaut, das heißt kurz und dick. Obendrein hatte er stark einwärts gebogene Beine, und er war so kahl, daß er nur noch hinten einen Schopf Haar besaß. Deshalb trug er den Kopf in einer Mütze aus feiner Wolle mit langen Ohren. Trotz alledem fand ich, daß er den Eindruck eines Mannes von Stande machte, wahrscheinlich weil ich wußte, daß er einer war. Wir gewöhnlichen Leute sehen die großen Herren oft mit einem Vorurteil an, das ihnen eine Hoheit leiht, welche die Natur ihnen versagte.

Der Erzbischof trat auf mich zu und fragte mich mit sanfter Stimme, was ich wünschte. Ich sagte ihm, ich sei der junge Mann, über den der Herr Don Fernando de Leyva mit ihm gesprochen habe. Er ließ mir keine Zeit, noch mehr zu sagen. Ah! Ihr seid es, rief er aus; Ihr seid der, den er mir so sehr gelobt hat? Ich nehme Euch in Dienst; Ihr seid eine gute Erwerbung für mich. Ihr braucht nur hier zu bleiben. Mit diesen Worten stützte er sich auf zwei Pagen und ging hinaus, nachdem er noch die Geistlichen angehört hatte, die ihm etwas mitzuteilen hatten. Kaum war er fort, so suchten alle die Bediensteten meine Unterhaltung, die sie noch eben verschmäht hatten. Jetzt umringten sie mich, schmeichelten mir und bezeigten Ihre Freude, mich als ihren Hausgenossen zu begrüßen. Sie hatten ihres Herrn Worte gehört und hätten um ihr Leben gern gewußt, in welcher Eigenschaft ich[268] zu ihm berufen war; aber ich war boshaft genug, ihre Neugier nicht zu befriedigen und mich so für ihre Geringschätzung zu rächen.

Seine Gnaden kehrten bald zurück. Ich mußte ihn in sein Arbeitszimmer begleiten, da er unter vier Augen mit mir zu sprechen wünschte. Ich dachte mir gleich, daß er mich prüfen wollte. Ich war auf der Hut und hielt mich bereit, meine Worte abzuwägen. Er fragte mich zunächst nach dem altklassischen Schrifttum. Ich beantwortete seine Fragen nicht übel; er sah, daß ich die griechischen und lateinischen Autoren recht gut kannte. Dann brachte er mich auf die Dialektik; da hatte ich ihn erwartet; er fand mich wohl beschlagen. Eure Bildung, sagte er nicht ohne Überraschung, ist nicht vernachlässigt worden. Laßt jetzt Eure Handschrift sehn. Ich zog ein Blatt aus der Tasche, das ich eigens mitgenommen hatte. Mein Prälat war nicht wenig damit zufrieden. Eure Schrift gefällt mir, rief er aus; und mehr noch Euer Geist. Ich werde meinem Neffen Don Fernando danken, daß er mir einen so hübschen Burschen besorgt hat; er hat mir ein wahres Geschenk gemacht.

Wir wurden durch den Eintritt mehrerer granadischer Edelleute unterbrochen, die bei dem Erzbischof speisen wollten. Ich ließ sie allein und zog mich unter die Dienerschaft zurück, die mich jetzt mit Liebenswürdigkeiten überschüttete. Ich speiste mit ihr, als die Zeit kam, und wenn sie mich während der Mahlzeit beobachtete, so sah ich sie mir gleichfalls an. Wie züchtig das Äußere der Geistlichen war! Sie erschienen mir als Heilige, so hielt das Haus, in dem ich mich befand, meinen Geist in Ehrfurcht. Mir kam nicht einmal der Gedanke, daß es falsche Münze sein könnte, gerade als fände man sie bei den Kirchenfürsten nie.

Ich saß bei einem alten Kammerdiener namens Melchior de la Ronda. Er sorgte dafür, daß ich gute Bissen erhielt. Seine Aufmerksamkeit für mich lenkte die meine auf ihn, und meine[269] Höflichkeit entzückte ihn. Herr Kavalier, sagte er nach dem Essen ganz leise zu mir, ich hätte gern eine private Unterredung mit Euch. Zugleich führte er mich an einen Ort, wo uns niemand hören konnte, und dort hielt er mir folgende Rede: Mein Sohn, vom ersten Augenblick an habe ich eine Neigung zu Euch gefaßt. Ich will Euch einen sichern Beweis dafür geben, indem ich Euch etwas anvertraue, was Euch von großem Nutzen sein wird. Ihr seid hier in einem Hause, in dem Frömmler und Fromme durcheinander leben. Es bedürfte einer unendlichen Zeit, um das Terrain zu rekognoszieren. Ich will Euch ein so langes und unangenehmes Studium ersparen, indem ich Euch die verschiedenen Charaktere enthülle. Danach werdet Ihr Euch leicht richten können.

Ich will, fuhr er fort, mit Seiner Hochwürden beginnen. Der Erzbischof ist ein sehr frommer Prälat, der sich unaufhörlich mit der Erbauung des Volkes beschäftigt, um es durch Predigten, die voll von einer ausgezeichneten Moral sind und die er selber verfaßt, zur Tugend zu führen. Er hat vor zwanzig Jahren den Hof verlassen, um sich ganz dem Eifer für seine Herde zu widmen. Er ist ein Gelehrter, ein großer Redner; sein einziges Vergnügen ist die Predigt, und seine Hörer sind entzückt, ihm zu lauschen. Vielleicht ist er ein wenig eitel; aber abgesehn davon, daß wir Menschen nicht ins Herz sehen, würde es mir schlecht anstehn, die Fehler eines Mannes hervorzusuchen, dessen Brot ich esse. Wenn es mir erlaubt wäre, an meinem Herrn etwas zu tadeln, so würde ich ihm seine Strenge zum Vorwurf machen. Statt mit den schwachen Geistlichen Nachsicht zu haben, bestraft er sie mit allzu großer Härte. Vor allem verfolgt er erbarmungslos jeden, der, auf seine Unschuld bauend, es unternimmt, sich unter Verachtung der Autorität des Erzbischofs juristisch zu rechtfertigen. Noch etwas habe ich an ihm auszusetzen, und das hat er mit vielen Leuten von Stande gemein: obgleich er seine Diener liebt, achtet er ihre Dienste nicht, und er läßt sie[270] in seinem Hause altern, ohne daß ihm der Gedanke kommt, ihnen eine Versorgung zu verschaffen. Wenn er ihnen bisweilen Geschenke macht, so verdanken sie sie nur der Freundlichkeit irgend jemandes, der für sie gesprochen hat: ihm würde es nie von selbst einfallen, ihnen irgendeine Wohltat zu erweisen.

Das etwa sagte mir der alte Kammerdiener über meinen Herrn. Dann enthüllte er mir, was er von den Geistlichen hielt, mit denen wir gespeist hatten. Er entwarf mir Bilder von ihnen, die keineswegs zu ihrer Haltung stimmten. Freilich stellte er sie mir nicht als unredliche Leute dar, sondern nur als ziemlich schlechte Priester. Einige jedoch nahm er aus, und deren Tugend rühmte er mir. Mein Verhalten den Herren gegenüber machte mir keine Sorge mehr. Gleich am Abend, beim Nachtmahl, legte ich wie sie die züchtige Maske vor: das kostet nichts. Man darf sich nicht wundern, wenn es so viel Heuchler gibt.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 265-271.
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