Die Gespenster

[75] Der Alte


O Jüngling! sei so ruchlos nicht,

Und leugne die Gespenster.[75]

Ich selbst sah eins beim Mondenlicht

Aus meinem Kammerfenster,

Das saß auf einem Leichenstein:

Drum müssen wohl Gespenster sein.


Der Jüngling


Ich wende nichts dawider ein;

Es müssen wohl Gespenster sein.


Der Alte


Als meiner Schwester Sohn verschied,

(Das sind nunmehr zehn Jahre!)

Sah seine Magd, die trefflich sieht,

Des Abends eine Bahre,

Und oben drauf ein Totenbein:

Drum müssen wohl Gespenster sein.


Der Jüngling


Ich wende nichts dawider ein;

Es müssen wohl Gespenster sein.


Der Alte


Und als mein Freund im Treffen blieb,

Das Frankreich jüngst verloren,

Hört' seine Frau, wie sie mir schrieb,

Mit ihren eignen Ohren

Zu Mitternacht drei Eulen schrein:

Drum müssen wohl Gespenster sein.


Der Jüngling


Ich wende nichts dawider ein;

Es müssen wohl Gespenster sein.


Der Alte


In meinem Keller selbst gehts um.

Ich hör' oft ein Gesause;

Doch werden die Gespenster stumm,

Ist nur mein Sohn zu Hause.[76]

Denk' nur, sie saufen meinen Wein:

Das müssen wohl Gespenster sein.


Der Jüngling


Ich wende nichts dawider ein;

Doch wünscht' ich eins davon zu sein.


Der Alte


Auch weiß ich nicht, was manche Nacht

In meiner Tochter Kammer

Sein Wesen hat, bald seufzt, bald lacht;

Oft bringt mirs Angst und Jammer.

Ich weiß, das Mädchen schläft allein;

Drum müssen es Gespenster sein.


Der Jüngling


Ich wende nichts dawider ein;

Doch wünscht' ich ihr Gespenst zu sein.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 75-77.
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