Vier und zwanzigster Brief

[330] An den Herrn F.


Sie müssen sich notwendig noch erinnern, wie viel ich jeder Zeit aus den Horazischen Oden und aus ihrem Verfasser, dem Herrn Pastor Lange, gemacht. Ich habe ihn allezeit als einen unserer wichtigsten Dichter betrachtet und seiner versprochnen Übersetzung des Horaz mit dem unbeschreiblichsten Verlangen entgegen gesehen. Endlich ist sie diese Messe erschienen und meine Begierde hat sie mehr verschlungen als gelesen. Noch habe ich mich von dem Erstaunen, in welches sie mich gesetzt, nicht ganz erholt. Aber, guter Gott, wie unterschieden ist dies Erstaunen von dem, welches ich mir versprach! Ein gehofftes Erstaunen über unüberschwängliche Schönheiten, hat sich in ein Erstaunen über unüberschwängliche Fehler verwandelt. Gleich der erste Blick, den ich hinein tat, war entsetzlich, und beinahe hätt' ich meinen eignen Augen nicht getrauet! Ich fiel auf die 14. Ode des fünften Buchs und las:


Als hätte ich mit dürren Schlund zweihundertmal

Des ewgen Schlafes Becher durstig gedrunken.


Eine gewisse Ahndung ließ mich schnell in den Text sehen, und was glauben Sie was ich entdeckte?


Pocula Lethaeos ut si ducentia somnos

Arente fauce traxerim:[330]


so sagt Horaz; Herr Lange aber macht aus pocula ducentia somnos, aus schlaferweckenden Bechern, ducenta pocula zweihundert Becher. O wahrhaftig er muß ihrer mehr als zwei hundert ausgeleeret haben, die ihm das innerste der Brust so stark mit Vergeßlichkeit der ersten Anfangsgründe erfüllt haben! Ich zeigte diese Stelle so gleich einem Freunde, welcher wie ich und Sie nie aufhören wird, den Horaz zu lesen. Wir wurden einig, vorher das ganze Buch durch zu laufen, ehe wir den Übersetzer aus einem einzigen Fehler verdammten, welcher allenfalls, wenn er der einzige bliebe, auf die Rechnung der Menschlichkeit zu schreiben sei. Wir taten es, und siehe, ich bekam dadurch ein Exemplar, welches auf allen Seiten Striche und Kreuze die Menge hatte. Das Resultat dieser Zeichen war dieses, daß Herr Lange, welcher neun Jahre mit dieser Arbeit zugebracht haben will, neun Jahre verloren habe, und daß es etwas unbegreifliches sei, den Horaz glücklich nachzuahmen, ohne ihn zu verstehen. Es liegt mir und meinem Freunde daran, daß Sie unser Urteil nicht für übereilt halten. Sie wer den uns also schon den Gefallen tun müssen, ein klein Register von Schulschnitzern zu durchlaufen, um sich Ihrer Kindheit zu erinnern. Ich nenne es ein klein Register, das Sie allenfalls von Ihrem jüngern Bruder, wenn Sie selbst nicht Zeit haben, bis in das unendliche können vermehren lassen.


1. B. Ode 1.

Sublimi feriam sidera vertice.


Dieses übersetzt Herr Lange


So rühre ich mit erhabnem Nacken die Sterne.


In meinem Cellario heißt vertex der Scheitel. Ein Wort das auch zwei Sylben hat.


1. B. Ode 2.

Galeae leves heißen dem Herrn Langen leichte Helme; hier müssen es blanke Helme heißen, wie es aus der Quantität der ersten Sylbe in leves zu sehen ist. Der Gradus ad Parnassum ist nicht zu verachten![331]


1. B. Ode 8.

– – – cur olivum.

Sanguine viperino

Cautius vitat?

Warum flieht er den Ölzweig doch

Vorsichtiger als Gift der Ottern.


Wenn Horaz gesagt hätte: Olivam, so möchte Herr Lange Recht haben. Olivum aber heißt das Öl, womit sich die Fechter beschmierten, damit sie desto schwerer zu fassen wären. Daß aber Horaz dieses Öl und nicht den Ölzweig meint, kann man aus dem was er ihm entgegen setzt, dem Gifte der Ottern, sehen.


1. B. Ode 11.

Horaz sagt vina liques. Herr Lange übersetzt: zerlaß den Wein. Was heißt das, den Wein zerlassen? War der Wein gefroren? Vielleicht lernt er es aus einer Stelle des Martials verstehen, was vina liquare heißt: 9. B. Sinnschr. 3.


Incensura nives Dominae Setina liquantur.


2. B. Ode 1.

Graves Principum amicitiae,


heißen unserm Übersetzer, der wichtige Bund der Großen. Er hätte wenigstens sollen sagen, der schädliche Bund.


2. B. Ode 4.

Cujus octavum trepidavit aetas

Claudere lustrum.


heißt in der Übersetzung: mein Alter ist schon mit Zittern zu vierzig gestiegen. Trepidare kann hier nicht Zittern bedeuten, weil man im 40sten Jahre schwerlich schon zittert. Es heißt nichts als, eilen, so wie es Herr Lange selbst an einem andern Orte, (3. B. Ode 27. Z. 17.) übersetzt hat.5[332]


2. B. Ode 5.

– – nondum munia comparis

Aequare. (valet)


Sie ist noch der Huld des Gatten nicht gewachsen; sagt Herr Lange. Aber wer wird mit ihm von Tieren die edlen Worte, Huld und Gatte zu brauchen wagen? Doch wenn auch; Horaz will das gar nicht sagen, was ihn sein Übersetzer sagen läßt; er bleibt bloß in der Metapher vom Joche und spricht: sie kann noch nicht mit der Stärke des Ochsen, welcher neben ihr gespannt ist, ziehen.


2. B. Ode 12.

Dum flagrantia detorquet ad oscula

Cervicem – –


Herr Lange sagt, indem sie den Hals den heißen Küssen entziehet. Allein das ist gleich das Gegenteil von dem, was Horaz sagen will.


3. B. Ode 6.

Horaz sagt von einem verbuhlten Mägdchen in dieser Ode:


– – – neque eligit

Cui donet impermissa raptim

Gaudia, luminibus remotis.


Was ist deutlicher, als daß er durch luminibus remotis sagen will, wenn man die Lichter bei Seite geschafft hat. Der bessere Herr Lange aber gibt es: mit abgewandten Blicke.[333]


3. B. Ode 21.

Sollte man es sich wohl einbilden können, daß Herr Lange prisci Catonis durch Priscus Cato übersetzt? Welcher von den Catonen hat denn Priscus geheißen?


3. B. Ode 27.

Noch ein größerer Fehler!

Uxor invicti Jovis esse nescis –


übersetzt Herr Lange, oder Gott weiß welcher Schulknabe, dem er diese Arbeit aufgetragen: Du weißts nicht, und bist des großen Jupiters Gattin!


4. B. Ode 4.

Die vortrefflichste Strophe in dieser Ode hat Herr Lange ganz erbärmlich mißgehandelt. So sieht, sagt der Dichter, das auf fette Weiden erpichte Reh, den von der säugenden Brust seiner gelben Mutter verstoßnen Löwen, dessen junger Zahn es zerfleischen soll – –


Qualemve laetis caprea pascuis

Intenta, fulvae matris ab ubere

Jam lacte depulsum leonem

Dente novo peritura vidit.


Man sehe nun, was der Übersetzer für ein elendes Gewäsche daraus gemacht hat.

– – – – Und wie Ziegen


Mit froher Weid allein beschäftigt, den Löwen,

Von Milch und Brust der gelben Mutter vertrieben,

Sehn, und den Tod von jungen Ziegen wahrnehmen.


Und also heißt Dente novo von jungen Ziegen?


5. B. Ode 11.

Desinet imparibus

Certare summotus pudor.


Hier übersetzt Herr Lange imparibus durch nichtswürdige, da es doch offenbar ist, daß der Dichter solche versteht, welchen er nicht gewachsen ist; der 16. und 17. Vers dieser Ode zeigt es deutlich. Bedanken Sie sich ja, daß ich nicht freigebiger gegen Sie mit solchen Sächelchen bin. Ich glaube aber,[334] dieses wenige ist schon hinlänglich, über einen Mann den Kopf zu schütteln, welcher in der Vorrede recht darauf trotzet, daß er nichts als eine wörtliche und treue Übersetzung habe liefern wollen. Ob sie stark, ob sie poetisch, ob sie rein sei, ob sie sonst eine andere Vollkommenheit besitze, das mögen andre entscheiden. Ich wenigstens wüßte nicht, wo ich sie finden sollte. Ich bin etc. W** 1752.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 330-335.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefe,die neueste Literatur betreffend.Mit einer Dokumentationzur Entstehungs-und Wirkunsgeschichte
Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden: Band 4: Werke 1758-1759
Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden: Band 6: Werke 1767-1769
Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden: Band 11/1: Briefe von und an Lessing 1743-1770
Briefe. 2 in 3 Bänden

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon