Zweiter Brief

Vom 3. April

[530] Ich soll Ihnen, mein Herr, einige Nachricht von den Schriften des Hrn. Mylius, welche Sie noch nicht kennen, und unter diesen besonders von denen erteilen, in welchen er sich als einen schönen Geist hat zeigen wollen? Mit Vergnügen. Aber erlauben Sie mir, daß ich Sie vorher an eine kleine Anmerkung erinnern darf. Ein gutes Genie ist nicht allezeit ein guter Schriftsteller, und es ist oft eben so unbillig einen Gelehrten nach seinen Schriften zu beurteilen, als einen Vater nach seinen Kindern. Der rechtschaffenste Mann hat oft die nichtswürdigsten,[530] und der klügste die dümmsten; ohne Zweifel, weil dieser nicht die gelegensten Stunden zu ihrer Bildung, und jener nicht den nötigen Fleiß zu ihrer Erziehung angewendet hat. Der geistliche Vater kann oft in eben diesem Falle sein, besonders wenn ihn äußerliche Umstände nötigen, den Gewinnst seine Minerva, und die Notwendigkeit seine Begeisterung sein zu lassen. Ein solcher ist alsdann meistenteils gelehrter als seine Bücher, anstatt daß die Bücher derjenigen, welche sie mit aller Muße und mit Anwendung aller Hülfsmittel ausarbeiten können, nicht selten gelehrter als ihre Verfasser zu sein pflegen – – Nun lassen Sie mich anfangen. Aber wo wollen Sie, daß ich anfangen soll? – – Das erste, was unter seinem Namen gedruckt ward, war eine Ode auf die Schauspielkunst, oder vielmehr eine Ode auf die Verdienste des Hrn. Prof. Gottscheds um die Schauspielkunst. Ihr Inhalt gab ihr ein Recht auf eine Stelle in den »Belustigungen«, die sie in dem sechsten Bande derselben fand. Ich nenne sie eine Ode, weil sie Herr Mylius selbst so nennt, und ein Verfasser ohne Zweifel seine Geburten nennen kann, wie er will. Was halte ich mich dabei auf? Er hat sie nach der Zeit selbst verachtet, und die letzte Strophe ziemlich boshaft parodieren helfen, wie Sie es in dem ersten Teile des »Liebhabers der schönen Wissenschaften« finden können. So geht es fast immer, wenn man Leute von zweideutigen Verdiensten allzusehr erhebt, ehe man sie näher untersucht hat. Man schämt sich endlich, daß man sich bloß gegeben hat, und will allzuspät durch eben so übertriebene Beschimpfungen die Lobsprüche vertilgen, die uns bereits lächerlich gemacht haben. Auf diese Ode folgten seine »Betrachtungen über die Majestät Gottes«, welche aus einer oratorischen Übung entstanden waren, mit der er sich in der vertrauten Rednergesellschaft gezeigt hatte. Er fügte in der Umschmelzung, die natürliche Erklärung des Wunders mit dem Sonnenzeiger Ahas hinzu, welche mehr Aufsehen machte, als sie verdiente. Sie wissen, daß der Herr Inspektor Burg sich alle Mühe gegeben hat, sie zu widerlegen. Ich, meines Teils, habe sie allezeit bloß wegen der Dreistigkeit des Herrn Mylius bewundert. Der Einfall war nicht seine, sondern der Rezensent der »Parentschen Untersuchungen«[531] in den Actis Eruditorum hatte ihn bereits gehabt. Allein was dieser als einen flüchtigen Gedanken, der keine Billigung verdiene, vorgetragen hatte, das trug unser Schriftsteller, grade weg, als eine Wahrheit vor. Und so ist es auch schon recht! Ernsthafte gesetzte Männer müssen zweifeln; und wir, wir jungen Gelehrten, müssen entscheiden. Wer würde es auch sonst wagen, gebilligten Meinungen die Stirne zu bieten, wenn wir es nicht wären, die wir noch alle unser Feuer beisammen haben? – – Sie finden diese Betrachtungen, mein Herr, in eben dem angeführten Bande der Belustigungen; sie enthalten überhaupt viel gemeine Gedanken, und die Schreibart ist die Schreibart eines Deklamators, welcher die Beobachtung der Schulregeln für Ordnung und das O und das Ach für das schönste Rezept zum Feurigen und Pathetischen hält. Fast von eben diesem Schlage sind seine Abhandlungen »Von der Dauer des menschlichen Lebens«; seine Untersuchung, ob die Tiere um der Menschen willen geschaffen worden; und sein Beweis, daß man die Tiere physiologischer Versuche wegen gar wohl lebendig eröffnen dürfe – – Aus diesen letzterm Aufsatze kann man unter andern sehen, daß Herr Mylius die Buchstabenrechnung damals müsse gelernt haben. Er wirft mit a und x um sich, wie einer, der noch nicht lange damit bekannt ist. Das aber hat er mit sehr großen Analysten daselbst gemein, daß es ihm vollkommen gelungen ist, eine Wahrheit, die, in schlechten Worten ausgedrückt, sehr faßlich wäre, durch die allgemeinen Zeichen für die Hälfte seiner Leser zum Rätsel zu machen. Zwar – – als wenn man nur die Leser klug zu machen schriebe! Gnug, wenn man zeigt, daß man selbst klug ist. – – Außer diesen prosaischen Stücken werden Sie auch verschiedene Gedichte in den Belustigungen von ihm finden; besonders einige sapphische Oden, die dieses zärtliche Sylbenmaß sehr wohl beobachten, und viel artige Stellen haben. Das vornehmste aber ist wohl das »Gedicht auf die Bewohner der Kometen«. Ich muß Ihnen sagen, bei was für Gelegenheit es gemacht worden. Der Hr. Prof. Kästner hatte kurz vorher sein philosophisches Gedicht über die Kometen in den Belustigungen drucken lassen. Sie haben es doch gelesen? Es ist[532] in der Tat ein Gedicht; und in der Tat philosophisch. Sein Verfasser hat sich längst den nächsten Platz nach Hallern erworben, und Reimen und Denken nie getrennt. Ich führe folgende Stelle aus dem Gedächtnisse an:


Was aber würde wohl dort im Komet geboren?

Ein widriges Gemisch von Lappen und von Mohren,

Ein Volk, das unverletzt vom Äußersten der Welt,

Wo Nacht und Kälte wohnt, in lichte Flammen fällt.

Wer ist der dieses glaubt?


Ohne Zweifel brachte diese Frage den Hrn. Mylius auf. Er wollte es sein, der es glaubte. Noch mehr, er wollte es sein, der auch andre, es zu glauben, nötigte. Er setzte sich also, und schrieb ein ziemlich lang Gedichte, worinnen er von der Möglichkeit der Bewohner der Kometen, die der Hr. Prof. Kästner nicht geleugnet hatte, und von ihrer Wahrscheinlichkeit, die aber unter seinen Händen noch ziemlich unwahrscheinlich blieb, handelte.

Der Vorsatz an sich selbst war keines Tadels wert; wie ein Dichter, den Herr Mylius nicht wohl leiden konnte, bei einer ähnlichen Gelegenheit spricht. Nur Schade, daß er seine Einbildungskraft nicht besser dabei anstrengte; nur Schade, daß er den kurzen und nervenreichen Ausdruck nicht in seiner Gewalt hatte; nur Schade, daß er sich von dem Reime fortreißen ließ, und in sein ganz Gedicht noch lange nicht so viel gute Gedanken brachte, als wir gute Beobachtungen von Kometen haben. Ein Freund hat so gar nicht mehr, als eine einzige schöne Zeile darinne gefunden; diese nämlich:


Was nützt der größte Stern, der ewig müßig geht?


Er glaubte eine feine Anspielung auf die großen einflußlosen Sterne unter den Menschen darinne zu sehen, von der sich noch zweifeln läßt, ob sie unser Poet dabei gedacht hat. Was für einen artigen physikalischen Roman hätte er uns machen können, wenn er den innern Reichtum seiner Materie recht gekannt und ihn gehörig zu brauchen gewußt hätte! Aber war es von ihm damals zu verlangen? War es von dem geschwornen[533] Schüler eines Meisters zu verlangen, der Reimer die Menge, aber auch nichts als Reimer gezogen hat? Genug, daß Hr. Mylius in den Aufsätzen, die von seiner Feder in den Belustigungen stehen, alles geleistet hat, was ein Gottschedianer leisten kann. Die poetischen sind fließend, und ohne Mittelwörter; und die prosaischen sind gedehnt und rein – – Sie sehen wohl, mein Herr, daß ich mir heute kein Blatt vors Maul nehme. Ich wäre auf guten Wegen; wenn ich nur nicht abbrechen müßte. Leben Sie wohl!

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 530-534.
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