Gotthold Ephraim Lessing

Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott

Ich mag mir die Wirklichkeit der Dinge außer Gott erklären, wie ich will, so muß ich bekennen, daß ich mir keinen Begriff davon machen kann.

Man nenne sie das Komplement der Möglichkeit; so frage ich: ist von diesem Komplemente der Möglichkeit in Gott ein Begriff, oder keiner? Wer wird das Letztere behaupten wollen? Ist aber ein Begriff davon in ihm; so ist die Sache selbst in ihm; so sind alle Dinge in ihm selbst wirklich.

Aber, wird man sagen, der Begriff, welchen Gott von der Wirklichkeit eines Dinges hat, hebt die Wirklichkeit dieses Dinges außer ihm nicht auf. Nicht? So muß die Wirklichkeit außer ihm etwas haben, was sie von der Wirklichkeit in seinem Begriffe unterscheidet. Das ist: in der Wirklichkeit außer ihm muß etwas sein, wovon Gott keinen Begriff hat. Eine Ungereimtheit! Ist aber nichts dergleichen, ist in dem Begriffe, den Gott von der Wirklichkeit eines Dinges hat, alles zu finden, was in dessen Wirklichkeit außer ihm anzutreffen: so sind beide Wirklichkeiten Eins, und alles, was außer Gott existieren soll, existiert in Gott.[515]

Oder man sage: die Wirklichkeit eines Dinges sei der Inbegriff aller möglichen Bestimmungen, die ihm zukommen können. Muß nicht dieser Inbegriff auch in der Idee Gottes sein? Welche Bestimmung hat das Wirkliche außer ihm, wenn nicht auch das Urbild in Gott zu finden wäre? Folglich ist dieses Urbild das Ding selbst, und sagen, daß das Ding auch außer diesem Urbild existiere, heißt, dessen Urbild auf eine eben so unnötige als ungereimte Weise verdoppeln.

Ich glaube zwar, die Philosophen sagen, von einem Dinge die Wirklichkeit außer Gott bejahen, heiße weiter nichts, als dieses Ding bloß von Gott unterscheiden, und dessen Wirklichkeit von einer andern Art zu sein erklären, als die notwendige Wirklichkeit Gottes ist.

Wenn sie aber bloß dieses wollen, warum sollen nicht die Begriffe, die Gott von den wirklichen Dingen hat, diese wirklichen Dinge selbst sein? Sie sind von Gott noch immer genugsam unterschieden, und ihre Wirklichkeit wird darum noch nichts weniger als notwendig, weil sie in ihm wirklich sind. Denn müßte nicht der Zufälligkeit, die sie außer ihm haben sollte, auch in seiner Idee ein Bild entsprechen? Und dieses Bild ist nur ihre Zufälligkeit selbst. Was außer Gott zufällig ist, wird auch in Gott zufällig sein, oder Gott müßte von dem Zufälligen außer ihm keinen Begriff haben. – Ich brauche dieses außer ihm, so wie man es gemeiniglich zu brauchen pflegt, um aus der Anwendung zu zeigen, daß man es nicht brauchen sollte.

Aber, wird man schreien: Zufälligkeiten in dem unveränderlichen Wesen Gottes annehmen! – Nun? Bin ich es allein, der dieses tut? Ihr selbst, die ihr Gott Begriffe von zufälligen Dingen beilegen müßt, ist euch nie beigefallen, daß Begriffe von zufälligen Dingen zufällige Begriffe sind?[516]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 8, München 1970 ff., S. 515-517.
Entstanden 1763, Erstdruck in: Karl Lessing: G. E. Lessings Leben, Berlin (Voss) 1795.
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