Sechstes Kapitel

[95] Es hatte in meines Vaters Absicht gelegen, daß ich in diesem Herbste noch irgend eine Reise unternehmen sollte. Er hatte an Dresden, an Wien gedacht, ich hatte aber in Berlin unter meinen Bekannten Niemand gefunden, dem ich mich hätte anschließen können; an die Möglichkeit, allein zu reisen, dachte ich damals noch nicht, und ich hatte auch, nachdem ich einige Tage in Berlin gewesen war, die Erfahrung gemacht, daß ich es nicht wagen dürfe, mir selbst nur mäßige Anstrengungen zuzumuthen.

Die Ruhe und Zurückgezogenheit im Hause meiner Tante waren also eben das, was ich bedurfte, man hatte mich dort eben so gern, als ich gern dort verweilte, und wünschte mich bis zum Spätherbste in Breslau zu behalten. Indeß ich traute mir und meinen Empfindungen nicht, und beharrte bei meinem Vorsatz, für jetzt meinem Vetter noch auszuweichen, und ihn nicht eher wieder zu sehen, bis ich ihm innerlich völlig gesund und frei entgegentreten könne. Am Tage nach dem Geburtstage seiner Mutter, den ich noch mit ihr zu verleben gewünscht, sagte ich den Freunden Lebewohl, und als Heinrich zu den Seinigen zurückkam, war ich bereits wieder in Berlin, und fing[95] an, mich dort bei einer meiner Verwandten, bei welcher ich wohnen sollte, für einen längern Aufenthalt einzurichten.

Mit dem festen Willen, ein neues Leben anzufangen, sah ich meine alten Berliner Freunde wieder. Ich kannte mich und das Menschenherz bereits genugsam, um zu wissen, wie sehr man es in seiner Macht hat, Herr über sich und seine Verhältnisse zu werden, wenn man sich über sie stellt; wie anders man ein Schicksal auffassen kann, je nach dem Standpunkt, von welchem man es betrachtet. Jahre lang hatte ich mich in die Vorstellung eingelebt, daß ich ein altes Mädchen, und als ein solches ohne Hoffnung auf Freude und auf Glück sei. Jetzt fing ich an mir zu sagen, daß ich eine junge Schriftstellerin sei, daß ich einen Vater in leidlich sorgenfreien Verhältnissen und gute Geschwister habe, daß ich treue Freunde besitze und ein Talent, welches zu üben mir Freude bereite, während es mir eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern versprach, und ich hatte ein Ziel vor Augen, das ich mit Begeisterung und mit Ehrgeiz verfolgte. Je öfter ich mir dies wiederholte, um so fester ward mein Glauben an diese vorzüglichen Güter; und der Glaube macht nicht nur selig, er macht auch stark.

Ich bekam Lust das Gute zu nutzen und zu genießen, das mir zu Gebote stand, Lust zu leben, wie ich sie lange nicht gehabt hatte, und die Lebenslust ist der Ballon, der uns in die Höhe trägt und uns dasjenige als Maulwurfshügel betrachten läßt, was uns kurz vorher noch als unübersteigliche Hindernisse bedenken wollte.

Bei meiner Wiederkunft nach Berlin gefiel mir die[96] Stadt noch besser als zuvor. Die wiederkehrenden Kräfte, der befreite Sinn, die Unabhängigkeit, deren ich mir mehr und mehr bewußt zu werden begann, ließen mich Alles in einem freundlichen Lichte erblicken. Jedes Paar Handschuhe, das ich mir kaufte, jedes Glas Limonade, das ich bezahlte, gefielen und schmeckten mir, wie nie zuvor, denn ich kaufte und bezahlte es mit meinem eigenen, selbstverdienten Gelde. Ausgeben, sparen, schenken, Alles machte mir Vergnügen, und ich glaubte, nun könne ich Alles haben, oder eigentlich, nun gehöre mir schon die ganze Welt, weil ich ungefähr fünfhundert Thaler mein eigen nannte. Es war das thöricht, aber es war ein Stück Jugend darin. Zu Hause, wo wir, wie ich wußte, jährlich so und so viel tausend Thaler gebraucht hatten, waren mir fünfhundert Thaler nicht eben als eine große Summe vorgekommen, denn ich rechnete sehr gut, und wußte, wie weit wir damit reichen konnten. Hier in Berlin aber, wo ich für mich allein stand, wo ich gewahrte, wie gering im Grunde meine persönlichen Bedürfnisse seien, und wie sehr leicht ich eine Menge von Bequemlichkeiten missen konnte, deren ich zu Hause theilhaftig geworden und auf die ich sogar Werth gelegt hatte, hier fühlte ich auch in dieser Leichtigkeit mich zu beschränken, daß ich nicht alt war; und das Stückchen Jugend, das wie eine Hand breit von blauem Sonnenhimmel aus dem grauen Gewölk hervorsah, in das sich mein Leben bis dahin gehüllt hatte, fing an, sich breiter und breiter auszudehnen, und das mir fremd gewordene helle Licht belebte und erquickte mich, als ob es nicht aus meinem eigenen Innern emporgestiegen wäre. Täglich entdeckte[97] ich in mir neue Möglichkeiten mich zu freuen, und wenn ich mich manchmal mitten im vollen Strome heiterer Empfänglichkeit und lebhafter Genußfähigkeit daran erinnerte, wie krank ich gewesen, wie muthlos, wie alt, wie hoffnungslos ich mich noch vor wenig Monaten gefühlt hatte, so kannte ich mich kaum wieder, und begriff selbst nicht, wie diese Wandlung sich vollzogen hatte. Ist aber das biblische Wort: »Wer hat dem wird gegeben«, irgend wo völlig eine Wahrheit, so ist es für den Wohlgemutheten, denn diesem wird Alles ein neuer Anlaß, sich in seiner Stimmung zu befestigen und zu steigern, und das Gefühl doppelter Genesung ließ mich an allen Ecken und Enden Vergnügungen finden, daß ich mir selbst bisweilen so komisch vorkam, wie der Berliner Posamentier in der alten Posse: »Er amüsirt sich doch!«

Abends unter den Linden, unter lauter Fremden spazieren zu gehen, blieb mir lange Zeit ein Hauptgenuß. So wanderten wir denn auch einmal, mein Bruder und ich, als es schon ziemlich spät war, die Charlottenstraße hinab, und sahen vor Meinhard's Hotel viel Leute und eine Ehrenschildwache; eine Strecke weiter, bei Kranzler großen Auflauf, Jungen, die sich balgten, Gensd'armen, welche Frieden stiften wollten, Menschenmassen, die immer auf's Neue hinzudrängten. »Was giebt's?« fragte mein Bruder. – »Es sind Russen angekommen, und die amüsiren sich damit, durch die Fenster Händevoll Geld auf die Straße zu werfen.« – »Aber warum verbietet man das nicht?« – »Es sind Herren aus dem Gefolge des Kaisers!« antwortete man achselzuckend. »Der Kaiser ist mit dem Thronfolger und dem Herzog von Leuchtenberg[98] Nachmittag unerwartet hier eingetroffen und von dem Stettiner Bahnhof mit zwanzig Droschken Gefolge in das Gesandtschafts-Hotel gefahren.« – Das Hotel war denn auch durch alle Etagen glänzend beleuchtet, galonirte Hofdiener liefen in den Straßen umher, die Hofequipagen rollten über das Pflaster, Generale in Galauniformen kamen von allen Ecken herbei, es war Alles in Bewegung und dazu der schönste Mondschein einer Septembernacht.

Am andern Morgen früh sieben Uhr weckte mich die Unruhe auf der Straße. Es war schon Alles heraus, die Menschen wieder in fröhlicher Bewegung, Wagen und Reiter strömten dem Halle'schen Thore zu, die Damen in bestem Putze, ein Wagen hielt auch vor unserer Thüre. Bekannte kamen mich zu holen, es gab eine große Parade, ich sollte sie mit ansehen kommen. Es waren, wie man sagte, zwölftausend Mann beisammen, und mich dünkt, es war die erste Parade, welche man die neu uniformirten Truppen machen ließ. Der Herzog von Braunschweig, ein baierischer Prinz waren anwesend, und nun war der Kaiser, den man nicht mehr erwartet hatte, noch dazu gekommen. Friedrich Wilhelm der Vierte führte ihm selbst die Truppen vor. Ein Zug kolossaler Armeegensd'armen ritt vorauf. Etwa hundert Schritte hinter ihnen, und eben so weit von den nachfolgenden Truppen entfernt ritt der König einen weißgezäunten Rappen mit feuerfarbener goldgestickter Chabracke. Er und alle seine Brüder, die Frauen des königlichen Hauses, waren immer noch jung und schön, und unter der Reihe der Equipagen, in welchen die Damen des Hofes und die Frauen der[99] Gesandten fuhren, war es eine, welche die Aufmerksamkeit vor allen andern fesselte, der Wagen der Henriette Sontag, der schönen Gräfin Rossi, welche ich sieben Jahre später in der Londoner Gesellschaft und auf der Londoner Bühne wiedersah, ehe sie in Brasilien ihr zu frühes Ende fand.

Was mich an jenem Morgen am meisten beschäftigte, war aber die wahrhaft antike Schönheit des Kaiser Nikolaus. Seine Gestalt und sein Kopf hatten etwas, das unserer Zeit nicht anzugehören schien. Man dachte an die trojanischen Helden, an die Nordlandsrecken, an irgend ein mythisches Urbild männlicher Körperkraft, und ich habe weder vorher, noch nachher einen Mann gesehen, der, wenn ein Zauberspruch ihn plötzlich in Stein verwandelt hätte, so vollkommen den Ansprüchen genügt haben würde, welche man an die klassische Schönheit und Ruhe einer Statue macht. Aber das Gesicht war auch wie Marmor kalt und hart, und außer dem Ausdruck des Stolzes und des starken Willens, wenig oder Nichts darin zu lesen. Der Herzog von Leuchtenberg, der Sohn Eugen's von Beauharnais, war ebenfalls groß und stark, und mit seinem schwarzen Haar und schwarzem starken Barte, bei entschieden französischer Physiognomie, auch eine bedeutende Erscheinung. Aber neben dem Kaiser Nikolaus schrumpfte Alles zusammen, und mitten aus dem Gewühle der Generale und Prinzen, mitten aus den Menschenmassen hervor und Alles überragend, sah man immer den Kaiser in der weißen Uniform, das orange Band des schwarzen Adlerordens über der breiten Brust, und den goldenen Helm auf dem mächtigen Haupte.[100]

Für mich lag der Reiz solcher Schauspiele allerdings weniger in ihnen selbst und in dem Glanze, der dabei entfaltet wurde, als in dem Gedanken, an einem Orte zu leben, an dem sich immer Neues und Bedeutendes ereignete, und in welchem man im Vergleich zu meiner Vaterstadt also beständig die Empfindung hatte, sich mitten im Leben und mitten im Weltgetreibe zu befinden.

Weit mehr noch als die einzelnen Gala- und Staatsaktionen interessirte mich das Leben des Volkes; denn die uns durch unsere ganze Erziehung eingeflößte Theilnahme für Alles, was die Thätigkeit des Gewerbes und die Verhältnisse der Gewerbtreibenden und der sogenannten arbeitenden Klassen anging, war durch die Richtung der damaligen Literatur noch erhöht worden. Wir befanden uns nämlich gerade in den Tagen der »Mysterien«. Sue hatte die Mysterien von Paris geschrieben, Bettina in ihrem Königsbuche die Zustände in dem Berliner Voigtlande aufgedeckt, und man war solchergestalt eigens darauf hingewiesen, hinter den Figuren, welche uns täglich begegneten, irgend welche Besonderheiten und Geheimnisse zu vermuthen, und sie sich darauf anzusehen. Der Schulmeister, die Chouette, die Rigolette spukten in allen Köpfen, und ich finde denn auch in den Briefen, welche ich in jener Zeit an meinen Vater schrieb, vielfache Notizen und Erzählungen über Personen und Begegnungen, welche mir innerhalb der gedachten Gebiete vorgekommen waren. Eine kleine Unterredung mit einer Bettlerin scheint mir so charakteristisch für die Bettler-Industrie der großen Städte, daß ich mich nicht enthalten kann, sie hierher zu setzen.[101]

Schon bei meinem frühern Verweilen in Berlin hatten mich die blinden Musikmacher in den Straßen interessirt, einmal weil bei uns in Königsberg diese Art des Bettelns noch gar nicht vorkam, und zweitens weil ich, an Berechnen solcher Dinge gewöhnt, mir nicht recht vorzustellen vermochte, wie der blinde Musikant und sein Führer zusammen von den Almosen leben konnten, die nicht eben oft und reichlich gegeben zu werden schienen.

Nun befand ich mich eines Mittags bei einer Freundin, als es plötzlich an ihrer Thüre klingelte. Man öffnete, und eine starke Stimme rief die Worte: die blinde Harfenfrau! in das Entrée hinein. Meine Freundin erhob sich und ging hinaus, es stand eine noch ganz kräftige Frau im Corridor, die Hausherrin reichte derselben das Almosen, welches sie ihr allmonatlich zu geben pflegte, und fragte dabei, ob sie nun schon Etwas spielen könne?

Ich sah mir die Bettlerin an, ihre Augenlider waren krank, aber sie sah offenbar vollkommen gut, und war überhaupt in einem Zustande, der sie anscheinend zu jeder Arbeit befähigte, so daß ich ganz verwundert fragte, ob sie denn die blinde Frau sei, und weshalb sie die Harfe spielen lerne?

Mein Erstaunen brachte sie aber keineswegs aus ihrer Fassung. Sie zuckte mit den Schultern, und antwortete mit einer völligen Unbefangenheit: »Sehen Sie, Fräuleinchen! das ist, wie es so kommt! Ich habe an die zehn Jahre eine blinde Frau geführt, die die Harfe spielte, und die ist mir voriges Frühjahr gestorben. Nun bin ich auch schon zweiundfünfzig Jahre und schlimme Augen habe ich auch. Ich bin einmal nach der Charité gegangen[102] und wollte mich kuriren lassen, da haben sie aber gesagt, für meine Augen wäre Nichts. Da dachte ich, was sollst du machen? Aus der Arbeit war ich 'raus; meine Tochter dient bei einem Federviehhändler, die kann mir auch noch nichts abgeben, denn sie hat selber noch nicht viel; ich entschloß mich also kurzum und lernte die Harfe.« – »Aber wo bekamen sie die Harfe her?« fragte ich. – »Die hab' ich mir gekauft.« – »Was kostet die Harfe?« – »Zehn Thaler! ich zahle monatlich einen Thaler ab.« – »Können Sie Noten lesen?« – »Nein! ich lerne bei Rikkerten spielen, der lehrt es mich so in die Finger, der lehrt's Allen so in die Finger!« – »Was müssen Sie dafür bezahlen?« – »Fünf Silbergroschen für die Stunde.« – »Wie viel Stücke können Sie?« – »Viere, aber erst Eins ganz fertig. Wenn nun aber die langen Abende kommen, und man nicht mehr Lust hat, so lange auf der Straße zu bleiben, weil's Geschäft auch Abends nicht so geht, dann will ich's bis auf zehne bringen.« – »Macht's Ihnen denn Vergnügen zu spielen, daß Sie soviel Stücke lernen wollen?« – »Das Eine, was ich kann, recht sehr! aber die Andern die müßten Sie Rikkerten spielen hören, das ist wie in's Opernhaus!« – Sie hatte wirklich eine Art von Enthusiasmus für die Kunstleistungen ihres Lehrers, und als ich, darüber lachend, wissen wollte, ob er viel Schüler habe, antwortete sie, als ob die bloße Frage sie beleidige: »Schüler? Der? Das reißt gar nicht ab, von früh bis spät.« – »Warum lassen Sie sich denn aber führen? Sie können ja ganz gut sehen, und sind[103] ja stark genug, die Harfe zu tragen?« forschte ich weiter. – »Gott ja! tragen könnte ich sie schon, aber es sieht beweglicher aus, wenn mich Einer führt«, bedeutete sie mich, »und es bringt sich denn auch ein.« – »Was geben Sie der Frau, die Sie führt?« – »Fünf Groschen den Tag, denn das bekam ich auch!« – »Und wie viel nehmen Sie ein?« – »Wenn's Wetter schlecht ist, und sie gehen mit Regenschirmen, daß Keiner was aus der Tasche nehmen will, wird's manchmal nicht mehr als zehn Silbergroschen, ist's aber schön, und ich spiele im Thiergarten, dann sind's auch fünfzehn, auch zwanzig Groschen, und stoße ich just auf viele Fremde, dann auch fünfundzwanzig und darüber!«

Mich unterhielt der Hinblick auf diese Industrie, und auf den Ueberschlag ihrer Kosten und ihres Ertrags, welcher uns mit voller Freiheit und mit dem Gefühl ehrlicher Berechtigung, in allen ihren Einzelnheiten ohne alle Verlegenheit mitgetheilt wurde, denn die Frau hatte ein Gefühl von Anständigkeit, wie Jemand, der das Gewerbe fortsetzt, welches er bei seinem Vorgänger erlernt hat. Ich habe bei ähnlichen Fragen und ähnlichen Mittheilungen in jenen Tagen müßigen Abwartens und Zusehens gar viele ähnliche Details aus dem Leben der uns umgebenden Menschen, theils durch absichtliche Fragen, theils ganz zufällig erfahren, die mir später gut zu Statten gekommen sind, und mich bei meinen Arbeiten vor manchen Mißgriffen bewahrt haben, weil sie mich die Erfahrung machen ließen, wie verschieden die Begriffe von Recht und Unrecht, von Ehre und Schande, je nach dem verschiedenen Bildungsgrade der Menschen sind, und wie falsch[104] man zeichnet, wenn man die Empfindungen des einen Standes ohne Modifikationen auf einen andern überträgt.

Ich schlenderte damals im Leben, wie ein spazierengehender Botaniker umher, der sich ohne bestimmte Absicht auf seinen Weg gemacht hat, und es dann doch nicht lassen kann, beobachtend umher zu blicken, und aufzusammeln, was sich ihm auf seiner Wanderung Anziehendes für seine Herbarien darbietet. In diesem geistigen Herumschlendern gingen der Spätsommer und der Anfang des Herbstes mir vorüber. Im October konnte ich meinen zweiten Roman, die »Jenny« meinem Vater in die Heimath senden. Ich hatte viel Durchlebtes in denselben hineingelegt, so weit es das Verhältniß Jenny's zum Christenthum betraf, ich hatte nach meinem besten Vermögen in dem Roman die Sache des Volksstammes vertreten, dem ich angehörte, und einzelne Züge aus dem Charakter meines theuren Vaters in die Figur des alten Meier übertragen. Nun stand noch Heinrich Simon's schönes Motto auf dem Titelblatte, und ich hatte die feste Zuversicht, daß mein Vater Freude an der Dichtung haben würde, auf deren Erfolg in der Oeffentlichkeit ich aus vielen Gründen höchlich gespannt war.

Gleich nach Empfang des Romanes schrieb mein Vater mir: »Meine liebe Fanny! den herzlichsten, innigsten Dank meine liebe Tochter, für das mir gesendete Exemplar der Jenny. Ich werde solche jetzt gedruckt mit Bedacht und Freude lesen. Möge Deine Jenny Dir so viel Freude bringen, als Du gute Tochter! von jeher bemüht warst mir Freude zu machen, seitdem Du im Stande warst Recht von Unrecht zu unterscheiden. Der[105] liebe Gott erhalte Dich und lasse es Dir immer wohlgehen; vor Allem aber sieh Du selbst auf Deine Gesundheit. – Wie aber steht es mit der Anonymität? Ich bin sehr dafür, daß sie wo möglich erhalten werde. Schreibe mir aber, was Du darüber denkst und was Du thust, damit wir gleichmäßig verfahren. Uebrigens hast Du den Brief ja frankirt geschickt. Bist Du schon so reich mein Kind? – In Liebe Dein Vater.«

Es war das der Ton voll weicher Zärtlichkeit, mit der er regelmäßig zu mir sprach, wenn er meiner neuen Laufbahn und meines Strebens mich vorwärts zu bringen gedachte, und ich hatte meinen schönsten Lohn dahin, wenn mein Vater Freude an mir und meinen Arbeiten bezeigte. Denn wie sehr mein Sinn auch auf Unabhängigkeit und auf das Leben in der Welt gestellt war, so hing ich doch noch so fest mit dem Vater und dem Vaterhause zusammen, daß Alles, was ich erreichte, mir seinen wahren Werth erst durch den Gedanken an die Wirkung empfing, welche es auf meinen Vater machen würde: alles Gute, das wir genießen, wird uns ja auch erst zum Glück, durch seine Resonnanz in einem von uns geliebten Herzen.

Der Hausordnung nach, hatten sämmtliche außerhalb des Hauses lebende Kinder, und im Jahre dreiundvierzig waren von uns acht Geschwistern nur noch vier Töchter bei meinem Vater, die Pflicht, spätestens alle vierzehn Tage ausführliche Nachricht von sich zu geben, so daß der Vater eine förmliche Chronik über unsere Tage besaß, die sehr unumwunden und ehrlich ausfiel, da wir ihm von ganzem Herzen vertrauen und seiner Nachsicht[106] sicher sein durften, selbst wo wir nach seiner Meinung nicht das Rechte thaten. Er war weise genug, uns Raum für unsere Irrthümer zu gönnen, und es ruhig mit anzuhören, wenn unser Urtheil über Dinge und Menschen lange Zeit hindurch ein schwankendes blieb, wenn wir heute in den Himmel erhoben, was wir morgen als etwas Gewöhnliches und nach einiger Zeit vielleicht kaum noch als ein Gutes gelten ließen. Alles, was er diesen wechselnden Ansichten gegenüber zu thun pflegte, war, uns gelegentlich mit unseren eigenen Worten daran zu erinnern, um uns auf die Unzulänglichkeit unserer ersten Eindrücke aufmerksam zu machen, und uns Vorsicht und Maß gegenüber den neuen Bekanntschaften und Geduld und Rücksicht für ererbte Verbindungen anzuempfehlen.

Mein Umgangskreis hatte sich nun schon seit dem Jahre neununddreißig weiter ausgebreitet. Ich hatte namentlich im Bloch'schen Hause eine Reihe anziehender Bekanntschaften gemacht, war durch Frau Bloch in verschiedene Beamtenfamilien eingeführt worden, indeß es war in denselben wie in allen andern Gesellschaften, und eigentlich noch schlimmer. Man kam zusammen, um einen Toiletten- oder Tafelluxus aufzuweisen, den man bei den meist sehr beschränkten Vermögensverhältnissen der preußischen Büreaukratie weit vernünftiger vermieden hätte, und von jener Berliner Gesellschaft, welche ähnlich der französischen des vorigen Jahrhunderts, die Menschen zu erfreulicher und fördernder Unterhaltung zwanglos zusammen führen sollte, fand sich im Leben kaum noch eine Spur, ja eigentlich nur noch die Tradition.

Man nannte die Namen der Personen, um welche[107] sich jene aus den verschiedensten Ständen zusammengesetzte Gesellschaft versammelt hatte, Namen von hochgebornen Frauen, von Schauspielerinnen, von Jüdinnen, aber sie waren dahin, und nur aus der Zahl der Letztern lebten noch zwei hervorragende Persönlichkeiten, die Hofräthin Henriette Herz und Frau Sara Levy.

Ich trug ein Verlangen, diese Damen kennen zu lernen, aber mir fehlte der Muth, die theilnehmende und verehrende Empfindung, welche ich für sie hegte, als ein Anrecht an sie zu betrachten, und so war ich schon lange in Berlin gewesen, ehe ich einer jungen Frau, welche von der Hofräthin Herz sehr hoch gehalten wurde, einmal den Wunsch aussprach, der Letztern zugeführt zu werden.

Die Hofräthin Herz war die Tochter eines jüdischen Arztes, eines Doktor Lemos, und siebenzehnhundert vierundsechzig in Berlin geboren. Fast noch ein Kind, kaum fünfzehnjährig, hatte man sie einem bedeutend ältern Manne, dem Doctor Markus Herz, verheirathet, der ein berühmter Arzt, und als solcher eben so, als um seines Geistes und seiner hervorragenden Bildung willen, weitgeachtet und gesucht war. Als Gattin dieses Mannes, von dessen Originalität und von dessen oft sehr drastischen Kuren ich in meiner väterlichen Familie noch manche auf eigenes Erinnern gegründete Erzählungen vernommen, hatte sie in Berlin ein großes Haus gemacht, bis ihr Gemahl zu Anfang des Jahrhunderts gestorben war. Ihre Vermögenslage war bei seinem Tode keine glänzende, indeß war dieselbe damals doch noch ausreichend, ihr eine heißersehnte mehrjährige Reise nach Italien zu gestatten, und als sich nach ihrer Heimkehr aus dem[108] Süden ihre Glücksumstände noch ungünstiger gestalteten, hatte die edle Frau es trefflich verstanden, sich mit würdiger Entsagung in die ihr auferlegten Beschränkungen zu finden, und nach wie vor voll Theilnahme an dem Allgemeinen wie an dem Persönlichen, voll Hülfsbereitschaft für Jeden, dem sie Etwas leisten konnte, der geistige Mittelpunkt eines großen und bedeutenden Menschenkreises zu bleiben.

Es war schon ziemlich spät am Tage und dämmrig, als ich zum ersten Male bei ihr eintrat. Die Hofräthin, welche ich immer als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit bezeichnen hören, war damals schon in der Mitte der Siebenziger, und saß, eben von einem Krankheitsanfalle genesen, mit einem weißen Oberrock und einer weißen, etwas großen Haube angethan, in einem alten, niedrigen Lehnstuhl, nahe an dem Fenster.

Sie empfing mich sehr verbindlich, obschon ich damals keinen äußern Anspruch irgend einer Art vor ihr geltend zu machen hatte, wiederholte mir das Freundliche, was die Dame, welche mich ihr vorstellte, ihr über mich gesagt, und that eine Reihe jener Fragen an mich, welche wohlwollende, lebenssichre Menschen dem Neuling in der Gesellschaft als die Brücke unterbreiten, auf welcher er über die ersten Minuten hinwegkommen kann.

Ich hatte dabei Gelegenheit, sie zu betrachten, und so alt und verfallen ihre Züge waren, die vollendete Regelmäßigkeit ihres Kopfes zu bemerken. Die große freie Stirne, die vorspringende Braue und der edle Schnitt der Nase waren noch unverkennbar, obschon der Mund tief eingesunken war und das Kinn dadurch hervortrat,[109] auch die Augen sahen noch klug und freundlich in die Welt, und vor Allem war die Stimme noch sehr angenehm, die ganze Art und Weise ihres Behabens wohlthuend.

Da man ihr gesagt hatte, daß ich eine Königsbergerin sei, sprach sie davon, daß sie früher viel liebe Freunde in Ostpreußen gehabt, und in Tagen, welche vor meiner Geburt gelegen, dort mit vielen Personen in nahen Beziehungen gestanden habe. Sie fragte mich nach Einem und dem Andern unter den noch Lebenden, erhob sich dann plötzlich mit der Langsamkeit, welche ihr körperlicher Zustand ihr auferlegte, aus ihrem Lehnstuhl, und ich wurde dabei von ihrer Größe überrascht, die trotz ihrer Gebeugtheit durch die Jahre, mir, nachdem ich sie zuerst sitzend erblickt hatte, fast unnatürlich erschien. Schon ihre Erzählungen von Zeiten, die für mich einer sehr fernen Vergangenheit angehörten, und von denen sie mit einem Ausdruck naher Gegenwärtigkeit sprach, hatten für mich etwas Mythisches gehabt; nun aber die große, magere Gestalt, in dem weißen Gewande im Dämmerlichte vor meinen Augen langsam hoch und immer höher emporstieg, hatte die Erscheinung gradezu etwas Gespenstisches, und ich hätte mich kaum gewundert, wenn sie sich allmählig in Nebel gehüllt und aufgelöst, und sich so meinen Blicken entzogen hätte. Es war ein Eindruck, der mir für immer unvergeßlich geblieben ist.

Später, als ich ihr näher bekannt wurde und sie öfter besuchen durfte, bemerkte ich, daß ihr Oberkörper im Verhältniß zu ihrer Gestalt eigentlich zu klein war, so daß sie sitzend nur die gewöhnliche Frauengröße zu haben schien, während sie in der Zeit ihrer vollen Kraft[110] über die Höhe unseres Geschlechtes hervorgeragt haben und eine wahrhaft majestätische Frau gewesen sein soll.

Sie wohnte, als ich sie kennen lernte, in der Markgrafenstraße in dem ersten Stockwerk eines alten und ziemlich verfallenen Hauses. Ueber eine finstre Treppe und einen eben so finstern Flur trat man durch eine kleine kaum meublirt zu nennende einfenstrige Stube in das zweifenstrige Wohnzimmer ein, das mit der höchsten Einfachheit eingerichtet war. Keines von den modernen Menbeln, die wir jetzt beinahe zu den Unentbehrlichkeiten rechnen, keine Fauteuils, keine Causeusen, keine großen Spiegel, keine Nippessachen, waren darin zu sehen. Ein mattfarbiges Papier bedeckte die Wände, ein dunkler, grober Teppich den Fußboden. Es waren ein Sopha und Stühle da, auf denen man sitzen konnte, ein runder Tisch, um den man saß, es hing auch ein alter Spiegel über der Kommode, es fehlte eben kein Meubel von denen, welche dem nothwendigen Bedürfniß entsprachen, aber über dieses hinaus war Nichts vorhanden, und doch vermißte man Nichts, sondern man fühlte sich behaglich, sobald man eintrat, ja man kam sich altgewohnt in diesem Raume vor, weil man in demselben Nichts zu besehen und zu betrachten, sich über gar Nichts zu verwundern hatte. Selbst die Büste ihres Freundes Schleiermacher, welche auf dem Sekretair stand, und die Portraits, welche hie und da an den Wänden hingen, fielen nicht als etwas Fremdes auf. Man hatte sie so oft gesehen, diese Bilder der beiden Humboldt's und ihrer großen Zeitgenossen; aber man blickte sie in den Zimmern dieser Frau doch noch mit anderen Augen an als sonst, denn diese[111] Frau hatte jene Männer in den Tagen ihrer Jugend gekannt, und ihr waren die Menschen Lebensgenossen und nahe Freunde gewesen, in welchen wir aus der Ferne die großen Männer unseres Volks verehrten.

Ich habe in spätern Zeiten, als die fortschreitende Kunstentwickelung und der noch schneller fortschreitende Luxus, die reiche Ausschmückung der Wohnungen zur allgemeinen Sitte werden ließen, oftmals daran gedacht, wie wenig die meisten Frauen ihren Vortheil verstehen, wie wenig Selbstkenntniß sie haben, und wie wenig sie darauf denken, sich und ihre Wohnung harmonisch gegen einander abzustimmen. Unbedeutende Menschen, unbedeutende Gespräche, oder Unterhaltungen um Elendigkeiten, nehmen sich in prächtig aufgeputzten Räumen erst recht jämmerlich aus; und wie keine Frau eine auffallend prächtige Kleidung anlegen sollte, welche sie nicht zu tragen und sich dieselbe nicht so anzueignen weiß, daß ihre Kleider an ihr als ein Untergeordnetes, als ein Beiwerk erscheinen, so sollte man es noch weniger wagen, sich durch seine Umgebung in Schatten oder vielmehr in das rechte Licht setzen zu lassen; denn um sich unter bedeutender Pracht oder gar unter bedeutenden Kunstwerken schicklich zu behaupten, muß man nothwendig Etwas sein.

In dem Zimmer der Hofräthin Herz befand sich, so viel ich mich erinnere, nur ein einziges Bild, das den Anspruch machen konnte, ein Kunstwerk zu heißen. Es war das ein Portrait der Hofräthin selbst, welches sie als dreizehnjähriges Mädchen darstellte, und zwar wie die Sitte des achtzehnten Jahrhunderts es mit sich brachte, in einem antiken, irgend einer Göttin oder Muse entlehnten[112] Kostüm. Das Portrait war von der Malerin Therbusch, der Freundin Lessing's, gemalt, und so außerordentlich schön, daß man es nicht für wahr gehalten haben würde, wäre das Bild, welches der bekannte vortreffliche Portraitmaler Graff zu Anfang dieses Jahrhunderts von ihr gemacht, nicht noch viel vollendeter in seiner regelmäßigen Schönheit und strahlender in dem Ausdruck von Hoheit und Güte gewesen.

Obschon nun Niemand besser als die Hofräthin Herz in edle, kunstgeschmückte Räume hineingepaßt haben würde, so hob doch in ihrem Falle grade die schmucklose Einfachheit ihres Zimmers ihr eigenes Bild und die vornehme Würde ihrer Person, wie ein bescheidener Hintergrund, nur mächtiger hervor. Wenn man sie in der einfachsten Kleidung, von schlichtestem Hausrath umgeben, in ihrem engen Zimmer sah, und sich erinnerte, daß die Schönheit dieser Frau einen europäischen Ruf gehabt, daß seit sechszig Jahren kaum ein bedeutender Mann gelebt, den sie nicht gekannt, und der sie nicht verehrt, daß Mendelssohn und Mirabeau, daß Schiller und Goethe, Jean Paul, die Schlegel, Fichte, die Humboldt's, Schleiermacher und Börne, daß die ersten Künstler und Künstlerinnen aller Länder, daß die Gebildeten unter den Fürsten und Herrschern unserer Zeit, der Schönheit und dem Geiste dieser Frau gehuldigt hatten, so gewann die eingehende Freundlichkeit, welche sie dem Geringsten angedeihen ließ, etwas Bezauberndes und Rührendes zugleich.

Selbst als ich sie schon länger kannte und die Gewohnheit das Ueberraschende des ersten Eindrucks ausgeglichen hatte, überkam mich in ihrer Nähe stets jene[113] Empfindung nachdenkender Feier, von welcher man sich in den Ruinen großer Bauten aus vergangenen Zeiten ergriffen fühlt. Unwillkürlich sah man den Zug der Geister an sich vorüberziehen, welche sich dieser Frau einst mit Neigung und Antheil zugewendet, unwillkürlich meinte man auf dem Antlitz der Greisin den Wiederschein vergangener Tage erblicken zu können. »Ich habe alle Menschen gekannt!« sagte sie einmal scherzend, als ich mich wunderte, wie genau sie sich einer nicht eben bedeutenden Person aus meiner Vaterstadt erinnerte, und ich möchte ihrem Worte hinzu setzen: alle Welt hatte sie gekannt! Denn wie sie die Freundin unserer geistigen Heroen gewesen, so war sie für die nachfolgenden Geschlechter zu einem geistigen Wahrzeichen von Berlin geworden, und wer sie gesehen und gekannt hat, bewahrt noch heute ihr Andenken sicherlich mit Liebe.

Es war ein Vergnügen, sie sprechen, und ein Genuß, sie erzählen zu hören. Alle ihre anmuthigen und würdigen Eigenschaften kamen dabei gleichmäßig zur Geltung. Sie suchte niemals die Aufmerksamkeit auf sich, oder die Unterhaltung an sich zu ziehen; aber sie war mittheilsam und das Sprechen machte ihr Freude, wie die Uebung einer Kunst, in welcher sie Meister war. Alles was sie sagte, zeugte von einem wohlgeordneten Verstande, Nichts kam zur Unzeit, Nichts ungeregelt und wüst hingeworfen zum Vorschein, und doch machte nie Etwas den Eindruck der Berechnung oder der Absichtlichkeit; denn sie war so vollkommen harmonisch ausgebildet, daß sie sich nur natürlich gehen zu lassen brauchte, um eine edle und wohlthuende[114] Wirkung auf jeden Menschen hervorzubringen, der Sinn für das Edle und Schöne hatte.

Wenn ich ihrer und des Menschenkreises denke, dessen Bilder sie gelegentlich vor unseren Augen aufrollte, so frage ich mich bisweilen, was jene Art der Geselligkeit, von welcher sie zu erzählen pflegte, und nach welcher wir uns sehnen, von unserer Gesellschaft unterscheidet, über die wir mehr oder weniger uns Alle beklagen, und die wir auf den veränderten Geist des Jahrhunderts zu schieben pflegen. Ich finde dann aber, daß dieser sogenannte veränderte Geist des Jahrhunderts ein eben so bequem erfundenes Abstraktum ist, als der Geist der Weltgeschichte, der überall da in Scene gesetzt wird, wo die Menschen ihre Schuldigkeit nicht thun. Jeder Einzelne von uns hilft die Gesellschaft machen, jeder Einzelne von uns trägt also seinen Theil von Schuld an ihren Uebelständen, und wir gleichen in unsern Anforderungen an die Gesellschaft einem alten etwas einfältigen Urgroßenkel von mir, welcher mit Geringschätzung auf seine junge Nachkommenschaft zu sehen, und ihnen zuzurufen pflegte: »Zeigt mir unter den jetzigen jungen Leuten Einen, der so alt geworden ist als ich!«

Man stellt sich die Gesellschaft, welche zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts von so wesentlichem Einfluß auf die Kulturgeschichte unseres Vaterlandes geworden ist, immer nur als einen Kreis von Heroen vor, und vergißt darüber, daß diese Heroen nicht wie die Minerva fix und fertig auf die Welt gekommen, sondern lange Zeit junge, werdende, irrende, strebende und sich entfaltende Menschen gewesen sind. Man hört die[115] Namen Humboldt, Rahel Levin, Schleiermacher, Varnhagen und Schlegel, und denkt an das, was sie geworden, und vergißt, daß die Humboldt's ihrer Zeit nur zwei junge Edelleute, daß Rahel Levin ein lebhaftes Judenmädchen, Schleiermacher ein unbekannter Geistlicher, Varnhagen ein junger Praktikant der Medizin, die Schlegel ein paar ziemlich leichtsinnige junge Journalisten gewesen sind, und daß ähnliche Elemente sich noch unter uns finden, daß, wenn auch nicht immer Geister ersten Ranges, so doch mitunter manche große Bildung, manch große Begabung, manch lebhaftes Vorwärtsstreben unter der Jugend vorhanden sind, die uns umgiebt. Aber die Meisten unter uns wollen nicht säen, nicht pflegen, sondern nur erndten, und zwar in einer Weise erndten, welche oft weniger darauf berechnet ist, uns satt, als Dritten einen Eindruck zu machen.

Nicht der Geist ist es, der unsern Gesellschaften fehlt, sondern die Liebe und die wahre Theilnahme. Unsere Gesellschaft ist mehr oder weniger egoistisch geworden. Die Menschen wollen empfangen und nicht leisten, wollen sich unterhalten lassen und nicht unterhalten, wollen für den Aufwand an Geld und Zeit, den die Gesellschaft sie kostet, Etwas haben, was Parade macht. Sie wollen Plüschmeubel und Bronzerahmen, die in Erstaunen setzen; Speisen und Getränke, die auf ihren hohen Preis schließen lassen, berühmte Namen, die den Gästen imponiren, und wenn sie das einmal oder ein paar Mal im Jahre zusammen gebracht haben, so fragen sie weiter nicht danach, ob ihre Gäste auf den Plüschsopha's Langeweile oder Vergnügen gehabt, ob jene Celebritäten noch Lust und Neigung für die Geselligkeiten[116] fühlen, ob sie irgend Jemandem eine wohlwollende Unterhaltung vergönnt, ob die Gäste mehr davon gehabt haben, als die Ehre, sie von ferne zu betrachten, und ob die Wirthe selbst mehr davon tragen, als die Befriedigung einer leeren Eitelkeit und das Bewußtsein, die Sache nun glücklich überstanden zu haben. Die Menschen sind Sklaven der Autorität geworden, und haben es darüber verlernt, selbst zu denken, selbst zu suchen und das Geistige zu entdecken, wo es sich zu regen beginnt, ja es auch nur da zu erkennen, wo es sich bereits entfaltet hat. – »Gott!« sagte mir einmal eine Dame, »daß der N. jetzt ein so berühmter Mann geworden ist! wie manchesmal hat der bei uns früher als Student in den Ecken des Salons herumgestanden, ohne daß man an ihn dachte, und jetzt kennt er uns nicht mehr!« – »Ja!« entgegnete ich, »er war zu achtzehn Jahren noch nicht sechsunddreißig, und hat es vielleicht zu sechsunddreißig Jahren noch lebhaft im Gedächtniß behalten, wie wenig man vor achtzehn Jahren an ihn dachte, als die Beachtung ihm noch eine Erquickung gewesen wäre.«

Jenen liebevollen Sinn aber, welcher jedes Streben ehrt, jeder Begabung entgegenkommt, hatte die Hofräthin Herz sich noch in ihrem späten Alter erhalten, und er kam auch mir zu Gute. Formensicher, wie sie war, wußte sie mich den verschiedenen Personen, die ich bei ihr traf, in einer Weise vorzustellen, welche diese zu ähnlicher Rücksicht für mich aufforderte; und diese gleiche, fördernde Güte hatte ich auch in Frau Sara Levy angetroffen, welcher ich noch früher als der Hofräthin Herz vorgestellt worden war, und welche die Eigenschaft, eines der Wahrzeichen[117] von Berlin zu sein, in gewissem Sinne eben so wie die Hofräthin Herz für sich in Anspruch nehmen konnte. Sie war noch um ein Jahr älter als diese Letztere, und von Geburt Jüdin wie sie; aber während die Hofräthin in der Mitte ihres Lebens zum Christenthum übergetreten, war Frau Levy dem mosaischen Glauben treu geblieben, und hatte sich eine Mission daraus gemacht, die Vertreterin desselben zu sein, wo man sich gegen ihn erhob, und dabei jeden Fortschritt zur geistigen Bildung bei seinen Bekennern in der liberalsten Weise zu unterstützen. Eben so reich, als die Hofräthin unbemittelt, eben so unschön, als diese schön gewesen, waren die Frauen von früher Jugend auf Freundinnen gewesen, und einander an Güte des Herzens und an Wohlthätigkeit völlig gleich; nur daß bei der Hofräthin Herz Alles was sie that ein Gepräge hoher weiblicher Anmuth an sich trug, während in Frau Levy überall ein gewisses männliches Wesen unschön hervortrat. Sie war eine Tochter des zu Friedrich's des Großen Zeiten viel genannten und sehr reichen Kaufmanns Itzig, der seinen Kindern eine vortreffliche Erziehung geben lassen, und dessen schöne Töchter, die Baroninnen von Arnstein und von Eskeles zur Zeit des Kongresses in Wien eine hervorragende Rolle in der Gesellschaft gespielt hatten. Von den äußern Vorzügen dieser beiden Schwestern hatte aber, wie gesagt, Frau Levy gar Nichts an sich. Sie war nur mittler Größe und mager, trug sich aber trotz ihrer sechsundsiebzig Jahre straff und aufrecht, und ging, obschon sie auffallend schielte und ihr Auge kurzsichtig war, mit einer für ihre Jahre doppelt ungewöhnlichen Energie und Kraft umher. Ihre Stimme war[118] sehr tief, ihre Redeweise kurz und gebieterisch, wenn sie sich nicht eben in eine längere Unterhaltung einließ, und es klang daher oft komisch, wenn sie freundliche und zuvorkommende Dinge im Tone des Befehlens aussprach. Als ich sie einmal gegen meinen Bruder mit warmer Verehrung rühmte, meinte er: »Ich weiß das Alles und verehre die Frau so sehr als Du, mir ist sie aber zu kriegerisch!«

Der Ausdruck brachte uns damals Alle zum Lachen, und doch lag etwas Richtiges darin, nur nicht das völlig Richtige. Nicht kriegerisch war sie, aber eine tapfere Frau, und diese Tapferkeit hatte sich grade damals – wenn auch nach meinem Sinne nicht an der rechten Stelle, wieder einmal bewährt. Frau Levy besaß und bewohnte das große Gebäude, welches sich hinter dem Packhof, fast von der Spree bis zu dem jetzigen neuen Museum hinzieht, und das in diesem Augenblicke noch erhalten ist. Sie hatte das Haus seit ein paar Menschenaltern inne, hatte es, wie sie mir einmal sagte, bezogen, als es noch ringsum im Felde gelegen, und es war mit dem großen, wohlgehaltenen und liebevoll gepflegten, von den prächtigsten Bäumen beschatteten Garten ein doppelt schöner Besitz, da solche weite Räumlichkeiten und so große Gärten in der volkreichen Residenz allmählig zu den Seltenheiten zu gehören begannen. Als nun Friedrich Wilhelm der Vierte den Bau des neuen Museums unternahm, hatte man, um dasselbe in der beabsichtigten Weise auszuführen, nicht nur ein Stück des Levy'schen Gartens nöthig, sondern auch ein Flügel des Hauses, und zwar eben der, welchen die Eigenthümerin selbst bewohnte, hätte[119] niedergerissen werden müssen. Man hatte ihr deßhalb die darauf hinzielenden Kaufanträge unter den günstigsten Bedingungen zugehen lassen. Indeß Frau Levy besaß nicht jenen Gemeinsinn, welcher auf sein eigenes Behagen um des allgemeinen Besten willen ohne Weiteres verzichtet; und während sie sich, wenn schon mit Ueberwindung, dazu entschloß, ein Stück ihres Gartens abzutreten, so verweigerte sie es fest, ihre Wohnung aufzugeben. »Nach meinem Tode,« sagte sie, »können sie das ganze Grundstück haben, und ich will Sorge dafür tragen, daß sie es billig bekommen; so lange ich aber lebe, bleibt mein Eigenthum mein. Und da der König gern seinem Ahnen Friedrich dem Großen nachlebt, so will ich der Müller von Sanssouci sein, der ihm Gelegenheit giebt, auf's Neue ein Eigenthum zu respektiren.« – Die Baumeister reklamirten nach rechts und nach links, auch der König wollte den Bau in seinem Sinne gefördert wissen, achtete jedoch, selber originell und willkürlich, die fremde Willkür und Originalität, wenn es sich eben so fügte. Er fand sich also von dem starren Festhalten der Greisin belustigt, und endlich erhielt, wie man mir erzählte, Alexander von Humboldt das Amt, hier vermittelnd einzuschreiten. Aber er war selbst ein Greis, er wußte was die gewohnten Räume dem Alter sind, und es kam also jenes Uebereinkommen zu Stande, in Folge dessen Frau Levy ihr Haus unangetastet bewahrte, und nur jenen kleinen Theil ihres Gartens für den Bau abtrat, wodurch man sich denn genöthigt sah, den einen Flügel des Museums schief zu legen.

Wenn man nun auch dies Festhalten an dem Eignen, wo es ein für Jahrhunderte zu dauern bestimmtes Allgemeines[120] galt, nicht billigte, so war es doch ein Vergnügen zu sehen, mit welcher Zufriedenheit die Greisin sich auf dem von ihr behaupteten Grund und Boden bewegte, wie es denn überhaupt sehr anziehend war, das große alte Haus mit seiner ganzen Altherkömmlichkeit zu betrachten. Es war in jenem, sich breit ausstreckenden Style gebaut, der mehr und mehr zu verschwinden droht, je höher jetzt der Werth des Grundes und Bodens steigt. Zweistöckig, mit breiten, flachgelegten Treppen, mit räumigen Fluren, mit großen hohen Zimmern, machte es einen sehr ansehnlichen Eindruck in dem weiten, gepflasterten und mit einer Mauer eingeschlossenen Hofe, welcher die vordere Seite des Hauses umgab, und dessen alte Bäume demselben aus mäßiger Ferne Schatten verliehen, während sich hinter dem Hause der große Garten ausdehnte. Alles in dem Hause war alt, Alles zeugte von langhergebrachtem und gediegenem Reichthum. Der Kutscher und der Diener und die Kammerjungfer waren alt, und gehörten mit ihrer Herrin und mit dem Hause durch Verjährung zusammen, die Livree war altmodig, die Pferde auch nicht jung, aber wohlgenährt. In den Gala-Sälen, die nur ein oder ein paar Mal im Jahre geöffnet wurden, glaubte man sich um ein halbes Jahrhundert zurückversetzt, in dem großen Gartensaal schien die Einrichtung aus noch früherer Zeit zu stammen, aber überall sah man, daß dieselbe einst den Anforderungen der Eleganz entsprochen hatte, und wohl erhalten wie sie war, machte sie noch eine angemessene Wirkung.

Frau Levy bewohnte nicht das ganze Haus, indeß selbst die Personen, welchen sie die ihr überflüssigen Theile[121] desselben vermiethet hatte, waren alt und gehörten in den Bereich der Vergangenheit. Die Staatsräthin Uhden mit ihrem feinen geistvollen Gesicht und den schönen langen, grauen Locken, das Fräulein Itzig und Madame Ephraim, beide Schwestern von Frau Levy, das Fräulein Voitus, waren Alles alte Damen, und man ging in ihrer Gesellschaft wie in den Alleen eines alten französischen Parks umher; man erfreute sich ihrer und wußte doch, daß ihre Zeit vorüber war.

Ungemein unterrichtet und voll von großen, ernsten Interessen, hatte Frau Levy, eben so wie die Hofräthin Herz, fast alle bedeutenden Menschen ihrer Zeit gekannt, aber sie war über die Vergangenheit weniger mittheilsam als Jene, und überhaupt, wie es mir scheinen wollte, mehr auf das Abstrakte als auf das Persönliche gestellt. Es geschah wohl einmal, daß sie erzählte, Achim von Arnim und Bettina Brentano hätten sich bei ihr im Garten verlobt, während der Friseur sie selbst frisirt habe; und Bettina sei dann zu ihr in das Zimmer hinaufgekommen und habe sich mit den Worten auf den Fenstertritt gelegt: »Hör' Er, Friseur! bau Er der Madame Levy nur heute 'was Ordentliches auf, denn ich hab' unten eben mit dem Arnim Verspruch gehalten!« Indeß dergleichen Mittheilungen kamen verhältnißmäßig doch nur selten vor. Dafür aber stand sie weit lebhafter als die Hofräthin in den Interessen der Gegenwart, und während die Erstere, theils aus christlich-religiösen Empfindungen, die bei ihr entschieden vorherrschend geworden waren, theils aus Liebe für das Königshaus von Preußen, der beginnenden revolutionären Bewegung der Geister nur mit einer Art[122] von Scheu zu folgen vermochte, war der frische kräftige Geist von Madame Levy immer muthig angeregt, und völlig bei der Sache. Als ich ihr einmal von den Königsberger Zuständen erzählte, und dabei scherzend die Worte aus Scribe's »Caméraderie« brauchte: »Wir Jungen sind alle à la tête de la jeune phalange!« erwiderte sie lächelnd und den Kopf schüttelnd, mit ihrer tiefen Stimme: »Erlauben Sie! wir Alten sind das auch!« In solchen Augenblicken war sie prächtig!

Ihre Zeit war sehr fest eingetheilt. Sie hatte außer einer Dame, welche die Gesellschafterin ihrer blinden Schwester gewesen war, und welche sie bei sich behalten hatte, einen Vorleser in ihrem Hause, weil sie gern ernste Sachen las, und es nicht liebte, den Erklärer bei denen zu machen, von welchen sie sich vorlesen ließ. Dafür waren einige Stunden täglich festgesetzt. Ein paar andere Stunden gehörten der Armenpflege, die sie im großartigsten und tüchtigsten Sinne betrieb. So erinnere ich mich, daß ich sie einmal in einem ganz entlegenen Stadttheil, in welchem ich für meinen Vater eine Commission auszurichten hatte, aus ihrem Wagen steigen und in ein neu gebautes Haus eintreten sah. Als ich sie später fragte, wie sie dahin gekommen sei, sagte sie einfach: »Ich habe dort einen armen Mann mit einem kleinen Geschäfte etablirt, und ihm von meinen Leuten die alten Regale, die ich ihm gekauft, neu anstreichen lassen. Da wollte ich sehen, ob das ordentlich gemacht sei.«

Um Mittag fuhr sie mehrere Stunden umher, machte Besuch bei ihren alten Freundinnen, sprach bei ihren Großnichten und Großneffen vor, denn sie hatte keine[123] eigenen Kinder, und ging festen Schrittes und immer allein eine Stunde im Thiergarten spazieren, den alten Ludwig, ihren Diener, hinter sich. Zwei Mal in der Woche hatte sie regelmäßig Besuch: am Donnerstag ein Diner, zu welchem zehn bis vierzehn Personen geladen waren, am Sonnabend Thee, zu dem sich die Bekannten ihres Hauses nach Belieben einstellten, und den sie bis auf ihre letzten Lebenstage selbst, und stehend und dabei »conversirend«, für ihre Gäste zu bereiten pflegte.

Das Originellste aber waren jene Mittagbrode, bei denen man sich, wenn man wie ich und andre von ihr eingeladene Personen, nur dreißig Jahre zählte, immer wie ein Kind erschien, denn die Mehrheit der Gäste waren Greise. Ich vergesse den ersten Eindruck dieser Tischgesellschaft nicht. Frau Levy zählte damals siebenundsiebzig, die Hofräthin Herz, ihr zur Seite, sechsundsiebzig Jahre. Ein kleines Fräulein Chodoviecki, das immer einen uraltmodischen weißen Atlashut auf hatte und auf einem Stuhlkissen saß, mochte noch weit älter sein; der bekannte Criminaldirektor Hitzig, ein Neffe von Frau Levy; die einst so schöne und jetzt noch als Greisin unter uns lebende Marianne Saaling, und eine alte Sängerin, die ihr fünfzigjähriges Jubiläum als Mitglied der Singakademie gefeiert hatte, bildeten den Stamm des Zirkels. Es war mir mitunter, als fände ich mich an König Artus' Tafelrunde versetzt, wenn ich diese alten, verwitterten Gesichter ansah, die alle in ihrem Verfalle, schweigend von der Vergänglichkeit des Menschen predigten. Sie hatten einst Alle »à la tête de la jeune phalange«, an der Spitze der Bewegung gestanden. Diese hinfälligen Frauen waren[124] es gewesen, deren Geist und Bildung die Schranken des Kastengeistes durchbrochen, die aus eigner Machtvollkommenheit in Berlin die Gewalt der Vorurtheile besiegt; diese Greisinnen und ihre Gesinnungsgenossen, diese Jüdinnen waren es gewesen, welche, sich aus dem Pariathume ihres Volkes erhebend, die Bildung als den höchsten gültigen Adel zu vertreten, und so eine Befreiung und eine Cultur der Geister in ihrer Vaterstadt herbeizuführen gewußt hatten, welche der geringere Sinn ihrer Nachkommen nicht zu behaupten verstanden hat. Das war es, was mich zu diesen Frauen hinzog, was mich ihnen in liebender Verehrung nahen machte; das ist es, was die Nachwelt in ihnen zu verehren hat – und vielleicht war es die Einsicht, daß ich Verständniß für ihre Bedeutung hatte, daß ein Zug ihres selbständigen und das wahrhaft Menschliche wollenden Geistes auch in mir lebendig war, was mir ihre Theilnahme und ihre Beachtung gewann.

Wie die Lebensläufe und Glücksgüter der Einzelnen auch verschieden gewesen waren, Eins besaßen sie Alle in gleichem Grade, so Männer als Frauen, jenes Wohlwollen und jene Duldsamkeit, welche das Kennzeichen vollendeter Bildung sind, jene höhere Menschenliebe, welche es erfahren hat, was man einander durch behutsame Rücksicht und eingehenden Antheil da zu leisten fähig ist, wo sonst keine Hülfe nöthig oder möglich ist. Sie waren menschliche Menschen, treue Freunde, freundliche Lebensgenossen, und bewegliche Geister und Gemüther. Darum fühlten selbst die Jüngsten sich wohl in ihrer Nähe, und es leben noch Viele neben mir, die sich erinnern werden, wie vor zwanzig Jahren die übermüthige Lust der Lebensfülle uns[125] oftmals bei diesen Mittagbroden überkam, daß wir im Hinblick auf alle die Greise und Matronen unseres eigenen Lebens gar kein Ende absehen zu können meinten, und uns in Witzen und Scherzen ergingen über die vorsündfluthlichen Speisen und Gerichte, wie über die läßliche Art und Weise, in welcher die Dienerschaft ihr Amt versah.

Wir waren wie Knaben, welche die Pflaumen von den Bäumen eines Kirchhofs pflücken, und lachten, wie Pensionäre am Anfang ihrer Ferien lachen, so lange sie glauben, daß diese niemals zu Ende gehen. Wir hatten es noch nicht erfahren, wie schnell die Tage enteilen, wenn man den Höhepunkt des Lebens überschritten hat; wir dachten nicht, daß zwanzig Jahre so rasch vorübergehen, und wie die Zeit bald kommt, in welcher wir selber zu den Repräsentanten der Vergangenheit gehören werden![126]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 95-127.
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