[141] In Menelaos' goldnem Saale
Saß Nestor's Sohn und Telemach.
Sie freuten sich mit ihm beim Mahle,
Doch als er von Odysseus sprach,
Barg in des Mantels Purpurhülle
Der Jüngling rasch sein Angesicht
Und seiner Tränen dunkle Fülle –
Nur Helenen entging es nicht.
Sie kam gleich Artemis geschritten
Vom duftenden Gemach hervor,
Ihr stellte an der Tafel Mitten
Den Stuhl der Dienerinnen Chor,
Den Teppich brachten sie, den weichen,
Und eilten, ihrer Königin
Den Korb von Silber darzureichen,
Die Spindel und das Garn darin.
Und so zu Menelaos wandte
Die Gattin sich von ihrem Thron:
Wenn ich den Gast dort recht erkannte,
So ist er des Odysseus Sohn.
Er sieht – ich mußt' ihn längst betrachten –
Sprach Menelaos, ganz ihm gleich,[141]
Und als des Helden wir gedachten,
Ward auch sein Herz von Tränen weich.
Es ist so! rief der Nestoride.
Dem bei der Herzenssaite Ton
Die Träne bebt' am Augenlide,
Er ist es, des Odysseus Sohn,
Des vielerfahrnen, reich an Ehren,
Dem ach, noch fern in wilder Flut
Der Heimkehr Tag die Götter wehren,
Der schon vielleicht im Meere ruht!
O welche Stunde, reich gesegnet,
Rief Menelaos, bringst du mit,
Da mir des Mannes Sohn begegnet,
Der viel für mich erlitt und stritt!
Wie wär' er selbst erst mir willkommen!
Ich räumte eine Stadt ihm ein,
So sollt' er bei mir aufgenommen
Bis an sein Lebensende sein.
Er sprach es, und in Aller Herzen
Drang Kümmernis und tiefer Gram,
Daß ein Erinnern aller Schmerzen
Die großen Seelen überkam.
Doch Helena stand auf und mischte
Ein Zaubermittel in den Wein,
Das vom Gedächtnis weg verwischte
Jedweden Kummer, jede Pein.
Und alle Haß- und Zorngedanken,
Des Unglücks Macht, der Feinde Hohn
Vergaßen, die den Zauber tranken,
Nur Helena trank nicht davon.
Ihr Blick sah nach des Tores Schwelle,
Sie starrte traumhaft vor sich aus;[142]
Ihr war, als leuchte Fackelhelle,
Ein schöner Jüngling trat ins Haus.
Er war's, der zärtliche Verbrecher,
Er schwebte lächelnd auf sie zu,
Doch Menelaos hob den Becher:
Trink, Helena, vergiß auch du!
Sieh, schmerzlich winkend schwand der Schatten
Und wies auf ein noch blutig Erz.
Es traf ihr Blick den Blick des Gatten,
Und Todesfrost durchfror ihr Herz.
Buchempfehlung
Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.
196 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro