[92] Wie, gleich nachdem er dies gesagt,
Der Liebende zum Dienst sich wagt
Und wie die Jugend hin ihn lenkt
Zu Amor, der ihn wohl empfängt.
Da waren länger wir allein,
Und wißt, ich mocht' ergetzet sein,
Da sein Mund lag auf meinem Mund';
Da ward mir große Freude kund.
Deß fordert' er nachher ein Pfand.
Spricht Amor:
Freund, sagt' er, ich viel Ehr' empfand
Von Dem und Jenem, gut genug,
Der nachher doch mir bot Betrug,
Von Schurken mit Betrügersinn'
Gar oft ich schon getäuschet bin.
Davon ich manches Leid erfahren,
Doch soll'n sie meinen Groll gewahren,[93]
Betreff' ich sie in meinem Bann'
So kommen sie wohl übel an.
Auf Dir jedoch, ich bin Dir gut,
Ganz sicher mein Vertrauen ruht,
Ich will Dich binden so an mich,
Daß Du nicht weigerst sicherlich,
Mir zu versprechen, was sich ziemt
Und nie zu handeln ungerühmt.
Wenn Du mich täuschtest, wär's 'ne Sünde,
Weil ich Dich jetzt so rechtlich finde.
Versetzt der Liebende:
Herr, sagt' ich – daß ihr's wissen sollt:
Ich weiß es gar nicht, was Ihr wollt
Von mir für Sicherheit und Pfand.
Die Wahrheit ist Euch wohlbekannt,
Daß Ihr mir so in's Herze drangt
Und so mich traft – daß, wenn's auch wankt,
Beim besten Willen es Nichts mehr
Thut als blos Eueren Begehr.
Das Herz ist Eu'r und nicht mehr mein –
Es muß – mag's gut, mag's übel sein,
Doch thun nur Euren Willen itzt
Nichts nimmt Euch mehr, was Ihr besitzt,
Ihr habt Besatzung drein gelegt,
Die gänzlich es beherrscht und trägt,
Doch könnt Ihr wo noch Zweifel sehn[94]
Macht einen Schlüssel, traget den.
Der Schlüssel gelt' Euch für ein Pfand.
Amor.
Bei meinem Haupt'! ganz ohne Schand' –
Versetzt Amor – ich geh' es ein;
Der wird des Herzens Herr wohl sein,
Wer solche Macht darin erlangt –
Beleid'gend wird, wer mehr verlangt.
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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