23.

[145] Hier widerspricht der Liebste bald,

Da ihm Vernunft die Minne schalt.


Als diesen Tadel ich gehört,

Versetzte ich, in Zorn verkehrt:


Frau, bitten wollt' ich Euch doch fast,

Den Tadel unterweges lasst.

Ihr rathet mir, daß ich bezwinge

Mein Herz, daß nicht die Lieb' eindringe:

Meint Ihr, daß Amor wohl zuläßt,

Daß ich mein Herz so halte fest

Im Zaum', da ihm es ganz gehört?

Es kann nicht sein, was Ihr da lehrt.

Denn Lieb' hält so mein Herz in Huth,

Daß meinen Willen nicht es thut.

Er hält es so in seinem Bann',

Daß er gemacht ein Schloß daran.[146]

Drum lasset mich nur gänzlich sein,

Denn Eure Sprache braucht ihr fein

In Muße besser anderswo.

Denn wahrlich sterben will ich so,

Wenn Amor Falschheit und Verrath

An mir alljetzt verübet hat.

Ich lass' bei Tadel oder Lob'

Doch walten stets die Liebe ob.

So sind mir Tadler sehr gehaß.


So schritt Vernunft alsbald fürbaß,

Einsehend, daß mit frommem Wort'

Sie nimmer doch mich brächte fort.


Ich blieb von Zorn und Unmuth voll,

Bald weint', bald klagte ich im Groll',

Daß ich mir keinen Ausweg sah.

Nun kam mir's ins Gedächtniß da,

Daß Amor mir gesagt, ich solle

Mir Einen suchen, dem ich wolle

Vertrauen an mein ganzes Herz,

Ob er mir helfe von dem Schmerz';

Da kam mir's in den Sinn – mir war

Da ein Gesell, den kannt' ich gar

Als rechtlich – besseren Gesellen,

Freund oder nicht – giebt's nicht zu stellen.


Quelle:
Guillaume de Lorris: Das Gedicht von der Rose. Berlin 1839, S. 145-147.
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