Sechster Auftritt

[21] Die Vorigen. van Bett. Meisterin Browe.

Nr. 4. Arie


VAN BETT.

O sancta justitia! Ich möchte rasen,

Von früh bis spät lauf ich herum;

Ich bin von Amtspflicht ganz aufgeblasen,

Das Wohl der Stadt bringt mich noch um.

Plerique hominum auf dieser Erde,

Sie ruhn doch mal von Qual und Beschwerde;[21]

Doch kaum schaut der Morgen in meine Kammer,

So rufen die Akten mein Genie,

Und bis zur Nacht bin ich, o Jammer,

Re vera übler noch dran als ein Vieh!

Kein Zugpferd in der Tat hat's so schlimm,

Als ein Vorstand und Rat.

Ein Glück, daß ich mein Amt verstehe,

Und sapientissime alles wend und drehe,

Daß mein Ingenium Akten weiß zu schmieren

Und das Consilium am Gängelband zu führen.

Denn ich weiß zu bombardieren,

Zu rationieren und zu expektorieren,

Zu inspizieren, zu räsonieren,

Zu echauffieren und zu malträtieren.

Rem publicam hab ich stets im Sinn.

Man weiß es ja, daß ich ein Codex bin.

Alt und jung ruft mir zum Preise,

Ich bin Saardams größtes Licht.

O ich bin klug und weise,

Und mich betrügt man nicht.

Diese ausdrucksvollen Züge,

Dieses Aug', wie ein Flambeau,

Künden meines Geistes Siege,

Ich bin ein zweiter Salomo.

Dazu der Corpus noch in petto,

Mit einem Wort, ich bin ganz netto.


Er sperrt den Mund auf, als sänge er das im Orchester erklingende tiefe F.


Man glaub' mir's, daß ich nie mich trüge

Et eo ipso momento

Gleich über jedes Crimen siege.

Ich wühl mich in Prozesse ein

Und schlichte sie sehr schlau und fein.

O ich bin klug und weise,

Und mich betrügt man nicht.

Diese ausdrucksvollen Züge,

Dieses Aug', wie ein Flambeau,

Verkünden meines Geistes Siege,

Ich bin ein zweiter Salomo.

Denn ich weiß zu bombardieren,[22]

Zu rationieren, zu expektorieren,

Zu blamieren, inspizieren,

Echauffieren, räsonieren, malträtieren,

Und zu ieren, zieren, rühren,

Führen, schmieren, ratifizieren.

Mit einem Wort, man sieht mir's an,

Ich bin ad speciem ein ganzer Mann!


Spricht zu Witwe Browe.


Ihr könnt es nicht glauben, was mir alles auf dem Halse liegt und noch vielleicht darauf liegen wird. Da lest einmal. Er zeigt ihr einen Brief. Ihr werdet Euer blaues Wunder hören.

MEISTERIN BROWE. Das Lesen ist von jeher meine schwache Seite gewesen, das tat mein seliger Alter für mich. Wenden Sie sich hier an meinen Gesellen, den Peter Michaelow, der ist der Gelehrteste auf der Werft.

VAN BETT. Da, mein Freund! Zur Meisterin Browe. Nun paßt einmal auf. Zum Zaren. Lies laut, mein Sohn!

ZAR liest. »Mein Herr« –

VAN BETT. Schön, ich sehe, du kannst lesen, lies laut. Ich verlange ja nicht, daß du so schön lesen sollst wie ich; bewahre, das würde sich auch für dich gar nicht schicken.

ZAR liest. »Herr Bürgermeister! Es liegt den Generalstaaten sehr viel daran, von dem Tun und Lassen eines Fremden, namens Peter, der gegenwärtig auf den Werften zu Saardam arbeitet, unterrichtet zu sein.«

IWANOW für sich. Ich bin entdeckt.

ZAR für sich. Das bin ich.

VAN BETT. Schön, mir liegt auch viel daran. – Sequens, mein Sohn, das heißt, lies weiter!

ZAR liest. »Nehmen Sie die allernötigsten Maßregeln, damit dieser Fremde sich nicht von Saardam entfernt, und berichten Sie mir ungesäumt alles, was Sie in Erfahrung bringen können. Ich habe die Ehre zu sein –«

VAN BETT. Gehorsamer Diener. Ist das alles?

ZAR. Ja, Herr Bürgermeister.

VAN BETT nimmt den Brief. Das ist eine äußerst verwickelte Sache, wie man sagt, ein casus confusus.[23]

ZAR. Haben denn der Herr Bürgermeister keine Vermutungen, wer es ungefähr –

VAN BETT. Schöne Frage! Ich vermute immer, eine gute Obrigkeit vermutet immer, und ich wette, in diese Sache ist eine wichtige Person verwickelt, die man festsetzen soll, id est ad carcerem. Ein Ausreißer vielleicht.

IWANOW bestürzt für sich. Da haben wir's.

VAN BETT. Frau Meisterin, laßt sämtliche Arbeiter sich hier versammeln.

MEISTERIN BROWE. Ei, du Gerechter, Ihr werdet doch unter meinen Leuten keine Verbrecher suchen! Ich bin eine rechtschaffene Niederländerin, und mein Mann ist tot.

VAN BETT. Ebendeshalb schafft mir die Leute her! Tutti.

MEISTERIN BROWE gibt Iwanow ein Zeichen, dieser zieht eine Glocke. Bloß um Euch den Willen zu tun.


Quelle:
Albert Lortzing: Zar und Zimmermann. Stuttgart [o. J.], S. 21-24.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Zar und Zimmermann
Holzschuhtanz: Ballettmusik aus der Oper
Holzschuhtanz: Ballettmusik aus der Oper
Holzschuhtanz: Ballettmusik aus der Oper
Holzschuhtanz: Ballettmusik aus der Oper
Zar und Zimmermann - Komische Oper in 3 Akten - Klavierauszug (EB 316)

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon