Vor dem Absturz

[160] Nur handbreit ist der Felsenpfad

Und senkrecht fällt der scharfe Grat

In sturzverheißende Felsenkluft,

Zu Füßen schlüpfrigloser Schnee,

Eiskalter Triebschnee in der Höh'

Und sturmdurchdonnerte Winterluft.


Verbunden sind mit zähem Strick

Die Klettrer zu gemeinem Glück,

Da, horch, ein schriller Rettungsschrei!

Der Nachbar, der ihm helfen soll,

Der reißt die Axt heraus wie toll

Und schlägt den Freundschaftsstrang entzwei.


Achtung! ein zweiter stürzte ab.

Der Freund, der ihm die Hilfhand gab,

Tat selber einen falschen Tritt;

Die andern zerren, stemmen, ziehn,

Vergeblich alles Angstbemühn –

Sein Absturz reißt sie alle mit.


Nur ich verschmähte stolz das Seil,

In eigner Hand das eigne Heil

Auf glattem, feuchtem Schieferstein;

Mich stürzt kein falscher Freundestritt –

Ich reiße keinen andern mit –

Ich stürz' und rette mich allein.


Münster, Juli 1890


Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 160.
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