Dortmund

[162] Schwarzgrün war der dürren Gebüsche Laub

Und schwarz war der Himmel bezogen,

Ein schwarzer, wildwirbelnder Kohlenstaub

Kam über die Felder geflogen.


Die Sonne ging aus und es nahte die Nacht,

Es glühten mit flackerndem Brande

Die Hochöfenfeuer in magischer Pracht

Irrlichternd am Himmelsrande.


Ich ging an den schwarzen Fabriken einher,

Dampfschnauben erklang durch die Fenster,

Aus den Schornsteinen wälzten sich wuchtig und schwer

Des Rauches verworr'ne Gespenster.
[162]

Es flog auf das Herz mir der häßliche Staub,

Und es schrumpften die Hoffnungsgrünblätter,

Die Ideale – der Altklugheit Raub,

Zertrümmerte Griechenlandsgötter.


Ich genoß den berauschenden, brennenden Trank,

Den fressenden Weltschmerzfusel,

Ich trank mich elend und schwelgte mich krank

Im lebenvergiftenden Dusel.


Am Bahnhof, im kribbelnden Menschengewühl,

Im Donnern und Schnauben und Pfeifen,

Da fühlt' ich ein schluchzendes Stöhnen mir kühl

An die trauernde Seele greifen.


An die Mauer gelehnt ein Mädchen dort stand

Im schwarzen, schlechtsitzenden Kleide,

Das blasse Gesicht in der kräftigen Hand:

»Was tat man dir, Mädchen, zuleide?«


Und schüchtern, wie Ostwind das Röhricht durchzieht,

So erzählte sie schluchzend und leise

Ein uraltschön Proletarierlied

In modern komponierter Weise:


»Unsern Vater, den brachten sie neulich nach Haus,

Vom Rade in Stücke gerissen,

Da ging unsrer Mutter die Lebenskraft aus,

Es hat sie aufs Bett hingeschmissen.


Und der Fritz, mein Bruder, wie'n wildes Tier« –

Ihre Lippen zuckend sich schlossen,

»Den haben die Hunde vorgestern hier

Beim Streikkrawalle erschossen.


Sechs kleine Geschwister, die hungern zu Haus,

Und ich hab' kein Geld für die Reise«

Ihr Kopf sank herab – das Epos war aus –

Sie weinte bitter und leise.


Ich gab ihr das Geld in die schwielige Hand,

Nie werd' ich ihr Lächeln vergessen,

Sie hielt meine Finger festklammernd umspannt

Mit ungläubigdankbarem Pressen.
[163]

Fort dampfte der keuchende, jappende Zug

Mit Donnern und Blitzen und Rasen,

Der Weltschmerzgedanken verschrobener Flug

Zerstob wie vom Sturme zerblasen.


Ich sah den verglimmenden Glutaugen nach,

Belächelnd mein trauriges Herzlein –

Was war gegen Jammer von diesem Schlag

Mein rührend Poeten-Schmerzlein?


Münster, September 1890


Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 162-164.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon