Meine Legitimation

Grüß Gott, du liebes Tröpflein Thau!

So einen Schmuck giebt es wohl nimmer:

Von jedem Hälmchen auf der Au

Spitzt es wie Diamantenschimmer.

Entstammt der Erde, harrst du froh

Dem holden Morgenlicht entgegen,

Tränkst deinen Halm und wirst ihm so

Nicht nur zur Zierde, auch zum Segen.


Kommt dann aus gold-brokatnem Thor

Die Königin des Tags gestiegen,

So strebst du sehnsuchtsvoll empor,

Dich ihrem Strahle anzuschmiegen.

Du fühlst, du bist ihr unterthan,

Du kannst nicht ohne sie bestehen

Und wirst gezogen himmelan,

In ihrem Kusse aufzugehen.


Ein solches Tröpflein bin auch ich

Am Lebensmorgen einst gewesen,

Ein Tröpflein, das den andern glich,

Nicht auserwählt, nicht auserlesen.

Ich hing nicht hoch, ich wurde nicht

Von einer Rose stolz getragen;

Tief unten sah ich auf zum Licht

Und durfte kaum zu hoffen wagen.


Da stieg sie auf, so himmlisch klar,

So gnadenreich, voll Welterbarmen,

Und mich trieb es so wunderbar,

Mit ihr die Menschheit zu umarmen.

Es war, als ob ich beten müßt:

»O komm, und stille mein Verlangen!«

Da hat die Liebe mich geküßt,

Und ich bin in ihr aufgegangen.


Quelle:
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May. Freiburg i.Br. (1900), S. 3.
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